Hallo Allerseits!
Eigentlich habe ich mich hier angemeldet, um Fragen zu beantworten. Aber jetzt hat mich die Neugierde gepackt und ich habe eine Frage, aber keine Sachliche, sondern eher eine, die eure Meinung betrifft:
Die Dinge, die ich klein ans Ende schreibe sind Zusatzinfos zum entstehen der Beziehung und meiner Position dazu. Mich würde bei euren Antworten sehr interessieren, ob ihr diese Infos dazu gelesen habt oder nicht. Weil ich wissen möchte, inwiefern meine Erklärung einen Einfluss auf die Meinung anderer dazu haben kann.
Seit meinem 19ten Lebensjahr lebe ich in einer Polyamorösen Beziehung. Die Definition von Wikipedia lautet, recht treffend: Polyamorie ist ein Oberbegriff für die Praxis, Liebesbeziehungen zu mehr als einem Menschen zur gleichen Zeit zu haben. Dies geschieht mit vollem Wissen und Einverständnis aller beteiligten Partner.
Da ich zu dieser Zeit gerade Wohnort und Institution (Schule => Universität) gewechselt habe, hatte ich Nichts zu verlieren und habe bei neuen Bekanntschaften und Freunden immer sofort alle Karten auf den Tisch gelegt. Ich hatte kein Interesse an Menschen, vor denen ich einen großteil meines Lebens verheimlichen muss. Die Reaktionen meiner Umgebung waren sehr zwiegespalten. Sie reichten von „Wie jetzt? Also rumgefi****?“ über „Du hast Jemanden verdient, der NUR dich liebt!“ bis hin zu „Finde ich beeindruckend.“.
Die meisten Antworte lagen im Bereich von „Kann ich irgendwo nachvollziehen, aber wäre nichts für mich“ oder im Bereich von „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktioniert. Weder für mich, noch allgemein.“
Nun ist diese Öffnung für mich bei völlig fremden kein Problem. Auch vor der eventuellen Rufschädigung, den seltsamen Blicken und all dem, was damit hätte einhergehen können, hatte ich keine Angst. Dinge, für die ich aufrichtig einstehe, sind mir seit dieser Zeit immer wichtiger, als die Meinung von Außenstehenden, die keinen direkten Einfluss auf mein Leben ausüben.
Anders sieht es da bei nahestehenden Persönlichkeiten aus.
Ein halbes Jahr hat es bei meiner besten Freundin gedauert, die es zwar noch heute befremdlich findet, aber damit ganz gut leben kann - immerhin leben wir inzwischen weit auseinander und sehen uns so selten, dass wir dann andere Themen haben, über die es zu sprechen gilt.
Mehr als ein ganzen Jahr hat es gedauert, bis ich meinem Halbbruder (10 Jahre älter), zu dem ich ein enorm gutes Verhältnis habe, davon erzählen konnte. Er reagierte, wie die meisten, mit Toleranz aber wenig Verständnis und noch weniger glauben daran, dass es funktionieren würde. „Pass bitte auf dich auf, hol dir keine Krankheiten, lass dich nicht verarschen“ - das war so das, was er, ganz Bruder, seiner 20-Jährigen Schwester sagte.
Aber dem Rest meiner Familie habe ich es noch nicht gesagt. Und hier setzt meine Frage an:
Wie würdet ihr / würden Sie reagieren? Ihre Tochter oder ihr Sohn kommt auf sie zu und sagt ihnen, dass er diesen Beziehungsstil pflegt. Mit all den Konsequenzen - für Enkelkinderwunsch, für den Wunsch die Hochzeit des Kindes zu erleben (was so aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr all zu wahrscheinlich wäre). Wie würden sie in dem Sonderfall reagieren, dass der neue Partner überhaupt erst mit dieser „Idee um die Ecke“ gekommen ist? Würden sie zum Beispiel glauben, dass ihre Tochter/ ihr Sohn da auf einen üblen Betrüger hineinfällt?
oder
Wie würdet ihr / würden Sie reagieren, wenn ihre beste Freundin/ bester Freund mit diesem Modell auf sie zukommt? Wie würden sie mit den Partner(n) umgehen, die sie kennenlernen?
oder
Wie würden sie als (suchen sie sich hier die Rolle aus. Großeltern/Arbeitgeber/Kommolitone/Kollege auf der Arbeit/ Bekannter in einem Verein) reagieren, sollten sie so etwas von der Person selbst oder von dritten hören?
Wie Sie sehen geht es mir um Beziehungen, die in meinem Leben eine gewisse Rolle einnehmen oder einnehmen könnte. Es geht mir nicht um eine völlig fremde Person ohne deren Zustimmung ich hervorragend leben kann.
Der konkrete Anlass meiner Neugierde sollte auch noch genannt sein: Ein sehr guter, homosexueller Freund hatte vor kurzem - NACH erreichen seiner finanziellen Unabhängigkeit von seinen Eltern - sein familiäres Coming Out. Ich war der naiven Meinung, Homosexualität sei kein Grund mehr, seinen Sohn des Hauses zu verweisen. Wie er, ich und noch einige andere, die ihn in letzter Zeit unterstützt haben, bemerken mussten, ist dem nicht so.
Deswegen würde mich die Meinung anderer, wie sie wohl reagieren würden, sehr interessieren. Und vielleicht auch, ob die unten Verfasste, persönliche Erklärung der Situation, einen unterschied macht und die Einstellung gegenüber dieser Anfänglich hingeschmissenen Phrase „Ich bin polyamorös“ beeinflussen kann.
Mein Partner und Ich glauben daran, dass es Möglich ist, mehr als einen Menschen zu lieben. Wir glauben daran, dass nicht (sexuelle) Treue ist, die eine Beziehung zusammen hält, sondern Ehrlichkeit, Vertrauen, Kommunikation, Selbstöffnung- und Reflektion.
Nicht der Seitensprung macht eine Beziehung kaputt - sondern die aus ihm resultierende Mixtur aus Verheimlichung, Lügen, schlechtem Gewissen, schließlicher Bekenntnis und der dann entstehenden Atmosphäre von Missvertrauen und Verlustsangst.
Um diese Form der Beziehung von „polygamen“ oder „offenen“ Beziehungen abzugrenzen, noch eine Information: Wir finden es nicht schlimm, wenn mal ein Seitensprung geschieht (was bisher erst einmal vorgekommen ist). Finden aber Affären (im Sinne von: regelmäßiger Sex, keine emotionale Bindung) oder viele Seitensprünge in kurzer Zeit statt nehmen wir das als Zeichen dafür, dass etwas innerhalb der Beziehung oder unseres Sexlebens nicht stimmt und wir daher REDEN müssen. Wir stellen die emotionale Nähe zum Partner über die völlige sexuelle Befriedigung des anderen. Da wir uns aber darüber bewusst sind, dass ein anderer Mensch völlig andere Persönlichkeitseigenschaften haben kann als wir, sehen wir die Liebe zu einer anderen Person NICHT als Bedrohung oder als Indiz für Probleme zwischen uns an. So wie die Liebe zu einem Familienmitglied ja auch nicht bedeutet, dass man den Partner vergisst; so bedeutet Liebe zu einer anderen Person ebenfalls nicht, dass man den Partner vergisst. Die Beziehungen stehen ohne Wertung nebeneinander, so wie es sich halt ergibt. Man nimmt auf die Bedürfnisse des anderen Rücksicht, fordert aber auch seine Freiheiten ein.
Weiterhin heißt diese Beziehungsform auch nicht, dass es keine Eifersucht gibt und dass es einen gar nichts ausmacht zu wissen, dass der Partner eventuell Sex mit Jemand anderen haben wird, Zärtlichkeiten ausgetauscht werden etc. Der große Unterschied ist, dass man davon ausgeht, dass es nicht um die (evolutionär durchaus reale) Angst davor geht, dass Jemand anders beim „Fortpflanzungsakt“ das bessere Los zieht - sondern dass wir in diesem Falle (da Fortpflanzung ja nicht geplant ist, vorerst), diese Eifersucht als etwas sehen, das man durch reden, Verständnis, rationale Sichtweise des Aktes selbst und Geduld positiv beeinflussen kann.
Das Erklärt auch die Tatsache, dass Affären (außer mit seeeehr guten Gründen) nicht okay sind: Das Kosten-/Nutzen Verhältnis von „Belastung für die Beziehung“ KANN nicht ausgewogen sein, wenn auf der Nutzen Seite nur ein Plus für die rein sexuelle Befriedigung EINES Partners steht.
Ich behaupte auch gar nicht, dass das monogame Modell irgendwie veraltet oder schlecht sei. Ich glaube einfach nur, dass es nichts für mich ist.
Mein Liebster und Ich lernten uns zufällig kennen, es sprühten Augenblicklich funken und es war sehr klar, dass wir uns näher kommen würden. Schon an diesem ersten gemeinsamen Abend, quasi beim ersten sehen, sagte er mir, dass er eine Freundin habe - seit 3 Jahren- und dass er sie liebe, sie aber oben genanntes Beziehungsmodell pflegen würde. Diese Ehrlichkeit beeindruckte mich tief. Und dann bemerkte ich noch etwas:
Mir kam das wie eine Art Offenbarung vor. In meinen bisherigen Beziehungen schwang immer eine Art unwohlsein mit. So als würde ich mich verstellen. Mit meinen 19 Jahren hatte ich natürlich nicht die allermeisten Erfahrungen- wenn auch mehr, als vielleicht üblich wäre. 2 echte Beziehungen und ein paar Affären, die ich zu jener Zeit gerne als „Freundschaft mit Extras“ benannt habe.
Ich schob mein Unwohlsein in Beziehungen, meine Probleme mit der Monogamie immer auf mein Alter und meine „mangelnde Lebenserfahrung“, dachte das Monogame käme mit dem Alter. Oder ich hatte einfach noch nicht „den Richtigen“ gefunden. Oder ich hatte mich noch nicht „ausgetobt“ - was auch immer.
In dem Moment jedenfalls, wurde mir klar, dass ich alles zusammen wollte und beides brauchte: Die Möglichkeit, Dinge konkret und klar anzusprechen, wenn sie mich störten (wie es bei den Affären der Fall war)- die Möglichkeit an sich selbst und an dem Partner zu arbeiten und damit sicher zu sein, dass die Beziehung für beide genug wert ist um zu investieren (Das fällt oft bei längeren monogamen Beziehungen weg) - und die intime Bindung, die Nähe zu einer geliebten Person, von der man sehr sicheren, fast garantierten Rückhalt erwarten kann ( wie bei einer Beziehung).
Ich fand sie in diesem Beziehungsmodell und nach einer Eingewöhnungsphase, die zugegebenermaßen relativ hart war, erkannte ich in meiner Beziehung das, was sie bis heute ist: Ein erfülltes Miteinander in Einveständnis, Ehrlichkeit und ohne Ängste vor Verlust, ohne Misstrauen oder Lüge.
Da das Größte Tabu in Beziehungen, der Seitensprung, nicht existent bzw. ein „alltäglicher“ Gegenstand wurde, war es ganz einfach über all die Kleinigkeiten offen zu reden, die einen sonst in Beziehungen so nerven. Alle Probleme - seien es berufliche Probleme, emotionaler Stress durch Schicksalsschläge, Zukunftsangst, Suchtprobleme, ganz egal… sie wirkten klein und lösbar. Wir können bis heute über alles reden. Wir haben Schlüssel, Passwörter und Zugangsdaten zu ALLEM was der andere Besitzt. Aber keiner von uns beiden macht je davon gebraucht. In all der Zeit habe ich nicht einmal in seine Email gespäht. Und ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er nie meine SMS gelesen hat. Weil wir wissen: Was es zu sagen gibt, sagen wir dem anderen.
Die Rückkehr zu einer monogamen Beziehung ist für mich - zu diesem Zeitpunkt - nicht vorstellbar. Diese Offenheit, Intimität, dieses Vertrauen möchte ich nicht eintauschen.