Popper - Kuhn - Lakatos

Hallo!

Am Donnerstag hatte ich an der Uni die Möglichkeit, an einem Diskussionsabend über die „Theorien“ der wissenschaftlichen Entwicklung von Popper, Kuhn und Lakatos teilzunehmen. Während ich der Diskussion so lauschte, kam mir immer wieder die Frage: Was nützen solche „Theorien“? Es sind doch keine direkten Handlungsanweisungen für Wissenschaftler daraus zu entnehmen, wie Wissenschaft betrieben werden sollte, um zu Erkenntnissen zu kommen, oder? Und es ist doch nicht entscheidbar, welche „Theorie“ nun zutreffend ist?

Daher möchte ich die Frage stellen: Wie seht ihr die Meinungen von Popper, Kuhn und Lakatos? Welchen Nutzen haben sie? Ist eine der „Theorien“ sinnvoller als die andere?

Danke und Gruß,

Oliver

Daher möchte ich die Frage stellen: Wie seht ihr die Meinungen
von Popper, Kuhn und Lakatos? Welchen Nutzen haben sie? Ist
eine der „Theorien“ sinnvoller als die andere?

Hi Oliver,

Kuhn und Lakatos kenn ich nicht, das direkt voraus.
Popper hat mir als Naturwissenschaftler einige Denkanregungen gegeben und auch einige Einschränkungen aufgezeigt.
Klar ist eine Theorie, bzw. eine These eines Philosophen keine Vorgabe oder gar Schablone, an der das Denken ausgerichtet werden soll, wäre ja schlimm, aber für mich waren Philosopen (nicht nur Popper, auch die Griechen z.B. oder Kant) stets ein Quell der Inspiration.
Leider sehen das die meisten meiner Herren und Damen Kollegen anders und speziell in der Chemie ist das (philosophische) Hinterfragen eine selten (aus)geübte Disziplin.

Gandalf

Hallo Oliver,

Was nützen solche „Theorien“? Es sind doch keine
direkten Handlungsanweisungen für Wissenschaftler daraus zu
entnehmen, wie Wissenschaft betrieben werden sollte, um zu
Erkenntnissen zu kommen, oder?

in der Tat kann man den Theorien keine DIREKTEN Handlungsanweisungen entnehmen, wohl aber INDIREKTE. Und hierin, denke ich, besteht ihr Nutzen, vor allem im Hinweis darauf, dass der Wissenschaftler kritisch gegenüber seinen eigenen Voraussetzungen sein sollte, die er normalerweise nicht in Frage stellt. So scheren sich einige Empiriker überhaupt nicht darum, dass man aus statistischen Ergebnissen nicht direkt auf den Einzelfall schließen kann (Popper, Induktionsproblem). REINE Empirie ist - das meinen alle drei - abzulehnen. Die von dir eingeforderte dirkete Handlungsanweisung wäre in diesem Fall, statistische Ergebnisse nicht überzubewerten bzw. sie mit Augenmaß und Zurückhaltung zu interpretieren. Die Poppersche Kritik an der den methodischen Grundlagen der Quantentheorie wäre ein anderes Beispiel.

Kuhn Theorie vom Paradigmenwechsel ist ähnlich warnend zu benutzen. Die Grundlagen der verschiedenen Wissenschaften beruhen auf Voraussetzungen, die selbst nicht mehr in Frage gestellt werden. Der Massenerhaltungssatz schützt uns vor dem Irrtum, dass ein Zauberer, der einen Ball verschwinden lässt, ihn WIRKLICH verschwinden ließ. Die Vorstellung, dass es Telepathie nicht geben KANN, schützt die wissenschaftliche Psychologie vor falscher parapsychologischer Theorienbildung. Das Paradigma des Behaviorismus schützt uns davor, uns allzuweit über die Tiere zu erheben, weil eben auch der Mensch gewissen Mechanismen unterliegt. Vor Pawlow bzw. Watson war der Begriff des Verhaltens wesentlich von psychischen Faktoren bestimmt. Der Paradigmenwechsel besteht also hier darin, dass die zugrundegelegten Prinzipien reduziert werden. Gleichwohl bedeutet dieser Paradigmenwechsel - wenn er verabsolutiert wird - einen Verlust, weil es Phänomene gibt, die der Behaviorismus nicht oder nur schwer (bwz. mit einer Black Box) erklären kann. Selbst wenn man nicht weiß, wie der Zaubertrick funktioniert, weiß man doch, dass es sich um einen TRICK handelt, weil man den Erhaltungssatz kennt. Und genauso wird ein Behaviorist ANNEHMEN (also ohne es beweisen zu können), dass die für ihn nicht erklärbaren Phänomene IRGENDWANN erklärbar sein MÜSSEN. Beweisen kann er das aber nicht, sondern nur methodisch postulieren.

Lakatos ist für den praktizierenden Wissenschaftler eigentlich die interessanteste Figur der drei genannten Namen, weil bei ihm der Negativismus Poppers zugunsten der positiven Hypothesen- und Theorienbildung aufgeweicht wird. Die (jeweils aktuelle) Forschungsarbeit unterliegt bei ihm sogenannten heuristischen Regeln, also (Denk-)Verboten (negative Heuristik) und (Denk-)Geboten (positive Heuristik). Dadurch wird der (grundsätzlich reversible) Theorienkern vor unliebsamen Marginalien geschützt. Hat also die grundsätzlich falsifizierbare Forschungstätigkeit einen fortschrittlichen (und nicht immer nur einen rückschrittlichen) Kern, der sich z. B. in terminologischen Abgrenzungen zeigt. So wird eine teilweise Verifizierung wissenschaftlicher Aussagen möglich.

Und es ist doch nicht entscheidbar, welche „Theorie“ nun zutreffend ist?

Die Theorien der Schüler (Kuhn und Lakatos) basieren auf der Theorie des Lehrers (Popper). Die beiden ersten bauen auf der zweiten auf, wobei Lakatos die Theorie Kuhns eher aufnimmt. Die Anomalien der Normalwissenschaft sind bei Popper empirisch zu beseitigen, bei Kuhn gehören diese Anomalien zum jeweiligen Wissenschaftsparadigma dazu, sind mit ihm untrennbar verbunden. Indem Lakatos beide Seiten für sinnvoll erklärt, ist seine Theorie den beiden anderen, ohne die allerdings seine eigene Theorie aber nicht denkbar wäre, überlegen.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Wissenschaftstheorie der Chemie
Hallo Gandalf,

speziell in der Chemie ist das (philosophische)
Hinterfragen eine selten (aus)geübte Disziplin.

kennst du Alwin Mittasch? Ist zwar nicht auf dem aktuellen Level der chemischen Forschung (natürlich!), aber sehr lesenswert.

http://www.hyle.org/journal/issues/2/hyle2.htm#mittasch

Deine Meinung würde mich interessieren.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas!

Was nützen solche „Theorien“? Es sind doch keine
direkten Handlungsanweisungen für Wissenschaftler daraus zu
entnehmen, wie Wissenschaft betrieben werden sollte, um zu
Erkenntnissen zu kommen, oder?

in der Tat kann man den Theorien keine DIREKTEN
Handlungsanweisungen entnehmen, wohl aber INDIREKTE. Und hierin,
denke ich, besteht ihr Nutzen, vor allem im Hinweis darauf, dass
der Wissenschaftler kritisch gegenüber seinen eigenen
Voraussetzungen sein sollte, die er normalerweise nicht in Frage
stellt.

Daß Wissenschaftler normalerweise gegenüber ihren Annahmen nicht kritisch eingestellt sind, möchte ich zwar stark bezweifeln, generell haben aber diese Theorien wissenschaftlicher Entwicklung sicherlich den Nutzen einer Sensibilisierung. Mir war nicht so recht aufgegangen, daß die Lehrinhalte in meinem Institut ja nicht repräsentativ für die generelle Wissenschaftlerausbildung sein müssen. Diese Lehrinhalte dürften sicherlich auch von den Wissenschaftstheorien der genannten Herren beeinflußt sein. Für harte Naturwissenschaften
ist es vielleicht noch sinnvoller sich mit den Vorstellungen von Popper, Kuhn und Lakatos zu beschäftigen, weil deren Theorien - nach außen hin - zumindest weniger den Rang des Vorläufigen ausstrahlen als die meines Faches.

So scheren sich einige Empiriker überhaupt nicht darum,
dass man aus statistischen Ergebnissen nicht direkt auf den
Einzelfall schließen kann (Popper, Induktionsproblem).

Hm. Ich dachte, daß man vom Einzelfall oder einer Reihe von Einzelfällen nicht auf die Population schließen kann und daß dieses als Induktionsproblem bekannt ist. Aber natürlich kann man auch nicht behaupten, daß, wenn z.B. im Mittel Deutsche größer sind als Italiener, jeder Deutsche größer ist als jeder Italiener. Daß sich Empiriker nicht darum scheren, ist mir als Empiriker unbekannt, gehört es doch zur Grundausbildung, daß solche Schlüsse Fehlschlüsse sind *wunder*

REINE
Empirie ist - das meinen alle drei - abzulehnen.

Wobei mir kaum jemand bekannt ist, der reine Empirie gefordert hat. Außer Skinner, der sie zwar gefordert hat. Aber möglich ist reine Empirie sowieso nicht, so daß seine Forderung danach ziemlich unsinnig ist.

Die von dir eingeforderte dirkete Handlungsanweisung wäre in diesem Fall,
statistische Ergebnisse nicht überzubewerten bzw. sie mit
Augenmaß und Zurückhaltung zu interpretieren. Die Poppersche
Kritik an der den methodischen Grundlagen der Quantentheorie
wäre ein anderes Beispiel.

Natürlich sollten statistische Ergebnisse nicht überbewertet werden. Das sollte jeder wissen, der eine Statistikausbildung gemacht hat. Für diese Einsicht brauchte ich allerdings keine der 3 Theorien, sondern Verstand. Dennoch hast Du Recht, wenn Du darauf hinweist, daß es nichts schadet, es hin und wieder zu erwähnen, damit es niemand vergessen kann.

Das Paradigma des Behaviorismus schützt uns davor, uns allzuweit
über die Tiere zu erheben, weil eben auch der Mensch gewissen
Mechanismen unterliegt. Vor Pawlow bzw. Watson war der Begriff
des Verhaltens wesentlich von psychischen Faktoren bestimmt. Der
Paradigmenwechsel besteht also hier darin, dass die
zugrundegelegten Prinzipien reduziert werden.
Gleichwohl bedeutet dieser Paradigmenwechsel - wenn er verabsolutiert wird

  • einen Verlust, weil es Phänomene gibt, die der Behaviorismus nicht oder nur schwer (bwz. : mit einer Black Box) erklären kann.

Also mit der Black Box erklärt man sicherlich nichts. Daß es Phänomene gibt, die eine behavioristisch orientierte Verhaltenswissenschaft nicht erklären kann, unterscheidet sie nicht von Wissenschaften des Geistes. Die können sie nämlich auch nicht erklären! Allerdings tun sie so, als ob sie es könnten. Gleichzeitig haben sie noch das Problem, daß sie einen vom Körper irgendwie verschiedenen Geist implizit oder explizit annehmen, jedoch weder genau wissen, was ihr „Geist“ ist noch wie er mit dem Körper interagiert. Insofern haben sie einen hübschen Wald voller hypothetischer Konstrukte, von denen man wissen muß, daß sie nur hypothetisch sind. Sonst wird´s komisch (siehe den in offene Gehirn-Module elektrische Aktivität induzierende Geist von Popper & Eccles)!

Und genauso wird ein Behaviorist ANNEHMEN
(also ohne es beweisen zu können), dass die für ihn nicht
erklärbaren Phänomene IRGENDWANN erklärbar sein MÜSSEN. Beweisen
kann er das aber nicht, sondern nur methodisch postulieren.

Nimmt nicht jede Wissenschaftsrichtung an, daß sie bestimmte Phänomene eines Tages wird erklären können?

Vielen Dank für Deine aufschlußreichen Erläuterungen, Thomas!

Oliver

Hi Gandalf!

Popper hat mir als Naturwissenschaftler einige Denkanregungen
gegeben und auch einige Einschränkungen aufgezeigt.

Ich denke, daß für die harten Naturwissenschaften es vielleicht noch sinnvoller als z.B. für die Psychologie ist, sich der Vorläufigkeit der Theorien und des Wissens bewußt zu werden, weil ja gerade nach außen hin die Theorien der harten Naturwissenschaften so unumstößlich wirken. Bei psychologischen Theorien kann sich eigentlich bei niemandem dieser Eindruck bilden.

Danke für die Antwort!

Gruß,

Oliver

Hallo Oliver,

Daß Wissenschaftler normalerweise gegenüber ihren Annahmen
nicht kritisch eingestellt sind, möchte ich zwar
stark bezweifeln, generell haben aber diese Theorien
wissenschaftlicher Entwicklung sicherlich den Nutzen einer
Sensibilisierung.

im Rahmen der Kuhnschen Theorie ist von „Normalwissenschaft“ die Rede im Sinne des normalen Vorgangs der wissenschaftlichen Forschung. So ist es gemeint, wenn von „normalerweise“ die Rede ist. Darin liegt zunächst KEINE Abwertung. Erst durch Phänomene, die aus diesem „normalen“ Rahmen herausfallen, entsteht die Grundlagenkritik, die dann in gewissen Fällen den Paradigmenwechsel herbeiführt (aber auch Paradigmenwechsel sind nicht immer bindend. So kann man z. B. durchaus im Rahmen der Newtonschen Physik Theorien aufstellen, solange sie den Mikro- und Makrobereich nicht tangieren).

Mir war nicht so recht aufgegangen, daß die Lehrinhalte in
meinem Institut ja nicht repräsentativ für die generelle
Wissenschaftlerausbildung sein müssen. Diese Lehrinhalte
dürften sicherlich auch von den Wissenschaftstheorien der
genannten Herren beeinflußt sein. Für harte Naturwissenschaften
ist es vielleicht noch sinnvoller sich mit den Vorstellungen
von Popper, Kuhn und Lakatos zu beschäftigen, weil deren
Theorien - nach außen hin - zumindest weniger den Rang des
Vorläufigen ausstrahlen als die meines Faches.

Dass es solche „Wissenschaftler“ gibt, kann man an den vielen Artikeln der Tagespresse sehen, in denen sie Entsprechendes behaupten. Ich habe neulich (vor ein paar Tagen, leicht zu finden, weil ich dort selten poste) auf die Frage nach so einem Artikel von Soziologieprofessoren im Feminismusbrett reagiert. Vielleicht darf ich hier darauf verweisen. Solche Artikel sind LEIDER NICHT die Ausnahme.

Sowohl Popper als auch Kuhn als auch Lakatos lehnen – wenn ich mich recht erinnere – Psychologie als Naturwissenschaft ab.

Hm. Ich dachte, daß man vom Einzelfall oder einer Reihe von
Einzelfällen nicht auf die Population schließen
kann und daß dieses als Induktionsproblem bekannt ist.

Da hast du natürlich völlig Recht. Das ist mir in der Eile durchgegangen. Sorry. Was ich meinte, war, dass ja die diskreten Ergebnisse der Statistik als Einzelergebnisse immer noch Einzelfälle darstellen. Insofern kann nicht auf eine Gesetzmäßigkeit geschlossen werden – das ist das Argument. So meint Popper eben, dass die Häufungen von Teilchen kein Verschwinden der Teilchen im Sinne einer fehlenden Diskretheit (im Sinne der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie) rechtfertigen, sondern dass das Problem weiterhin besteht.

Wobei mir kaum jemand bekannt ist, der reine Empirie
gefordert hat. Außer Skinner, der sie zwar gefordert hat.

Na, das ist doch jemand, der nicht ganz unwichtig ist. *g*

Aber möglich ist reine Empirie sowieso nicht, so daß seine
Forderung danach ziemlich unsinnig ist.

Entscheidend für die Forderung nach dem PRIMAT der Empirie. Und da habe ich (als Nichtempiriker *g* wie Popper etc.) in der akademischen Welt die Erfahrung gemacht, dass die meisten Empiriker meinen, es komme darauf an, Phänomene mittels Empirie zu veri- und nicht zu falsifizieren. In der Normalwissenschaft ist das ja auch in Ordnung. Paradigmenwechsel setzen ja erst dort ein, wo die Normalwissenschaft in Konflikt mit ihren Grundannahmen kommt.

Letztendlich beschäftigen sich Popper, Kuhn und Lakatos mit dem Problem der ABGRENZUNG von Wissenschaft gegenüber nichtwissenschaftlichen Herangehensweisen. Kuhn hat – ebenso wie Paul Feyerabend – die Poppersche Empiriekritik an einer ganz bestimmten Stelle ausgebaut, am Relativismusproblem. Während aber Feyerabend mit seinem „anything goes“ einen wissenschaftlichen Anarchismus propagiert und damit in letzter Instanz schwer ernst zu nehmen ist, hat Kuhn den Relativismus nur für die Methodik zeitlicher Epochen betont. Das ist schon bedeutend, wie man – meine ich – auch in der Psychologie sehen kann. So hat Freud ja nur dann Unrecht, wenn man seine Grundannahmen kritisiert. INNERHALB seines Systems ist die Psychoanalyse schon schlüssig. Aus behavioristischer Sicht MUSS Freud aber als unwissenschaftlich gelten, weil er nicht materialistisch bzw. mechanistisch argumentiert, sondern eben hermeneutisch i.w.S.

Natürlich sollten statistische Ergebnisse nicht überbewertet
werden. Das sollte jeder wissen, der eine
Statistikausbildung gemacht hat. Für diese Einsicht brauchte
ich allerdings keine der 3 Theorien, sondern Verstand.

Es sind ja auch nicht eigentlich drei Theorien, sondern es sind drei Versuche, ein einziges Problem, nämlich das Abgrenzungsproblem, zu lösen bzw. aus verschiedenen Aspekten zu beleuchten. Aristotelische Physik gilt aus heutiger Sicht als unwissenschaftlich, genauso wie Aristotelische Psychologie; aber innerhalb ihrer Zeit haben die Aristotelischen Vorgehensweisen ihre Berechtigung, das ist letztlich die These Kuhns (die Popper schon ablehnt). Kuhn behauptet nämlich, dass Paradigmenwechsel das vorherige Paradigma NICHT falsifizieren, sondern nur ablösen. Wenn man – wie Lakatos – dies dann auf gegenwärtige Probleme anwendet, dann kann man zu einer ganz neuen Form von Bescheidenheit kommen.

Sonst wird´s komisch (siehe den in offene Gehirn-Module
elektrische Aktivität induzierende Geist von Popper &
Eccles)!

Ganz deiner Meinung!

Und genauso wird ein Behaviorist ANNEHMEN
(also ohne es beweisen zu können), dass die für ihn nicht
erklärbaren Phänomene IRGENDWANN erklärbar sein MÜSSEN.
Beweisen
kann er das aber nicht, sondern nur methodisch postulieren.

Nimmt nicht jede Wissenschaftsrichtung an, daß sie bestimmte
Phänomene eines Tages wird erklären können?

Schon, aber – um bei Kuhn zu bleiben – nur im Rahmen ihres Paradigmas.

Vielen Dank für Deine aufschlußreichen Erläuterungen, Thomas!

Gern geschehn! (Ich hoffe, das ist nicht ironisch gemeint gewesen.) Ich diskutiere so etwas wirklich gern.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

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Hallo Thomas,

Daß Wissenschaftler normalerweise gegenüber ihren Annahmen
nicht kritisch eingestellt sind, möchte ich zwar
stark bezweifeln, generell haben aber diese Theorien
wissenschaftlicher Entwicklung sicherlich den Nutzen einer
Sensibilisierung.

im Rahmen der Kuhnschen Theorie ist von „Normalwissenschaft“ die
Rede im Sinne des normalen Vorgangs der wissenschaftlichen
Forschung. So ist es gemeint, wenn von „normalerweise“ die Rede
ist.

Es war mir nicht recht klar, daß Du die Annahmen meinst, die das Fundament, quasi die negative Heuristik, bilden. Mir stellt sich die Frage, auf welche der grundlegenden Ebenen man gehen muß (und v.a. wer festlegt, welche die grundlegenste Ebene ist), um diese Behauptung, daß Wissenschaftler ihren Annahmen gegenüber normalerweise nicht kritisch eingestellt sind, aufrechterhalten zu können. Ich suche z.Z. in Gedanken immer wieder nach Beispielen von Wissenschaftlern, von denen ich weiß, daß sie ihren Annahmen gegenüber kritisch sind. Allerdings kann ich oft eine grundlegendere Ebene bilden, auf der sie dann nicht mehr kritisch sind. Es müßte also bestimmt werden, welche Ebene gemeint ist.

Ein anderer Punkt: Ich kenne einige Wissenschaftler, die sind ihren Grundannahmen gegenüber verbal sehr kritisch eingestellt, in der Forschung verhalten sie sich aber nicht so. Passen diese Personen ins Kuhnsche Schema? Oder müßte man nicht mehr Psychologie aufbieten, um zu erkennen, daß eine Person ihren Grundannahmen durchaus kritisch gegenüber stehen kann, aber aufgrund der praktischen Begrenztheit der Möglichkeiten nur innerhalb des „Normalen“ forschen kann?

Darin liegt zunächst KEINE Abwertung. Erst durch Phänomene,
die aus diesem „normalen“ Rahmen herausfallen, entsteht die
Grundlagenkritik, die dann in gewissen Fällen den
Paradigmenwechsel herbeiführt (aber auch Paradigmenwechsel sind
nicht immer bindend. So kann man z. B. durchaus im Rahmen der
Newtonschen Physik Theorien aufstellen, solange sie den Mikro-
und Makrobereich nicht tangieren).

Dieser Punkt ist mir durchaus bekannt. Wahrscheinlich habe ich Schwierigkeiten, dies als zutreffendes Modell anzuerkennen, weil es in meinem Fach niemals ein alles beherrschendes Paradigma gab.

Sowohl Popper als auch Kuhn als auch Lakatos lehnen – wenn ich
mich recht erinnere – Psychologie als Naturwissenschaft ab.

Viele lehnen Psychologie als Naturwissenschaft ab. Es hat aus meiner Sicht viel mit dem Gedanken zu tun, daß die Würde des Menschen verloren ginge, wenn sich eine vollständig naturwissenschaftliche Psychologie etablieren würde.

Was ich meinte, war, dass ja die diskreten
Ergebnisse der Statistik als Einzelergebnisse immer noch
Einzelfälle darstellen. Insofern kann nicht auf eine
Gesetzmäßigkeit geschlossen werden – das ist das Argument.

Dieses Argument ist mir noch nicht ganz einsichtig. Ein einzelnes Ergebnis ist immer ein Einzelergebnis. Eine Reihe von Einzelergebnissen stellen - sofern man sie aufeinander beziehen kann - mehr als ein Einzelergebnis dar. Denn man kann feststellen, ob sich die einzelnen Ergebnisse widersprechen oder gegenseitig bestätigen. Wenn sie sich gegenseitig bestätigen, dann kann man versuchen, eine Theorie zu entwickeln (oder hat sie schon entwickelt), die jedes Einzelergebnis „erklärt“. Die Theorie beinhaltet Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten. Wenn die Empirie weitere Einzelfälle findet, in denen die Hypothesen nicht widerlegt werden, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß die Theorie „falsche“ Gesetzmäßigkeiten enthält. Natürlich ist die Gesetzmäßigkeit nicht gefunden, denn es bleibt immer eine Restwahrscheinlichkeit, daß es Fälle gibt, die der Theorie widersprechen.

Jedoch ist diese Vorstellung noch zu einfach. Das Interessante tritt hinzu, wenn 2 oder mehr Theorien sich auf die gleichen Einzelfälle beziehen. Welche Theorie ist „wahr“? So könnte man fragen. Aus meiner Sicht sollte man aber nicht so fragen, sondern man sollte danach fragen, welche Theorie besser bestimmte Kriterien erfüllt, z.B. Einfachheit, quantitative und qualitative Genauigkeit der Vorhersagen, Gehalt (d.h. auf wie viele Phänomene die Theorie sich beziehen läßt). Dann sollte man die Kriterien untereinander gewichten und kann für sich den Schluß ziehen: Diese Theorie ist besser als die andere. Über „Wahrheit“ ist damit noch nichts gesagt. Denn beide Theorien werden mit Sicherheit aufgegeben, wenn sich eine im Sinne der genannten Kriterien bessere Theorie findet.

Entscheidend für die Forderung nach dem PRIMAT der Empirie. Und
da habe ich (als Nichtempiriker *g* wie Popper etc.) in der
akademischen Welt die Erfahrung gemacht, dass die meisten
Empiriker meinen, es komme darauf an, Phänomene mittels Empirie
zu veri- und nicht zu falsifizieren. In der Normalwissenschaft
ist das ja auch in Ordnung. Paradigmenwechsel setzen ja erst
dort ein, wo die Normalwissenschaft in Konflikt mit ihren
Grundannahmen kommt.

Man sollte 2 Ebenen auseinander halten: Ein Wissenschaftler möchte natürlich „seine“ Theorie bestätigen. Das hat menschliche Gründe: Er hat viel Arbeit in die Theorie gesteckt, viel Zeit mit der Forschung verbracht, hofft auf Ruhm, Geld usw. Weil aber andere Wissenschaftler andere Theorien bestätigen wollen und Theorien in Wettstreit miteinander stehen, kommt es zwar häufig nicht auf der Ebene des einzelnen Wissenschaftlers zum Bemühen, seine Theorie zu falsifizieren, aber auf der Ebene der Wissenschaftlergemeinde zum „Falsifikationswettstreit“.

So genau kenne ich die Poppersche „Logik der Forschung“ nicht. Aber falls Popper fordern würde, daß die Falsifikation auf der Ebene des Wissenschaftlers das Ziel sein sollte, dann wäre seine Forderung ziemlich abgehoben, weil gegen die menschliche Natur.

So hat Freud ja nur dann Unrecht, wenn man seine
Grundannahmen kritisiert. INNERHALB seines Systems ist die
Psychoanalyse schon schlüssig.

Na, die Psychoanalyse als „schlüssig“ zu bezeichnen, ist gewagt. Denk z.B. an das Problem der „Neurosenwahl“. Dies war für Freud schon eine harte Nuß. Er räumte doch selbst ein, daß er post hoc die meisten Fälle erklären könne, nur vorhersagen, wer welche Störung entwickeln würde, könne er nicht. So etwas spricht nicht für die Schlüssigkeit des Modells und ist auch einer der Gründe gewesen, wieso ich diesem Gedankengebäude den Rücken zugekehrt habe.

Aus behavioristischer Sicht MUSS
Freud aber als unwissenschaftlich gelten, weil er nicht
materialistisch bzw. mechanistisch argumentiert, sondern eben
hermeneutisch i.w.S.

Aber Freud argumentiert mechanistisch! Das Triebmodell ist mechanistisch, weil es von der Physik des 19. Jahrhunderts abgeschaut ist. Und Fromm charakterisiert Freuds Menschenbild folgendermaßen:

„Primär ist der Mensch eine durch die Libido angetriebene Maschine, bei der die Notwendigkeit, schmerzhafte oder störende Spannungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren, als automatischer Regulator wirkt. Die Spannungsminderung ist das Wesen der Lust; …“ (Fromm, Sigmund Freud, Seine Persönlichkeit und seine Wirkung, 1959; Ausgabe von 1995, S. 117).

Ja, schon fast des Behaviorismus eines Hulls gleich!

Es sind ja auch nicht eigentlich drei Theorien, sondern es sind
drei Versuche, ein einziges Problem, nämlich das
Abgrenzungsproblem, zu lösen bzw. aus verschiedenen Aspekten zu
beleuchten.

Diesen Begriff - Abgrenzungsproblem - habe ich bisher nur gehört. Es würde mich interessieren, was man darunter versteht.

Vielen Dank für Deine aufschlußreichen Erläuterungen, Thomas!

Gern geschehn! (Ich hoffe, das ist nicht ironisch gemeint
gewesen.) Ich diskutiere so etwas wirklich gern.

Nein, das war nicht ironisch, sondern ernst gemeint. Schließlich habe ich Dir auch ein Sternchen gegeben.

Freundliche Grüße,

Oliver

Hallo Zusammen!

Aus behavioristischer Sicht MUSS
Freud aber als unwissenschaftlich gelten, weil er nicht
materialistisch bzw. mechanistisch argumentiert, sondern eben
hermeneutisch i.w.S.

Aber Freud argumentiert mechanistisch! Das Triebmodell ist
mechanistisch, weil es von der Physik des 19. Jahrhunderts
abgeschaut ist. Und Fromm charakterisiert Freuds Menschenbild
folgendermaßen:

„Primär ist der Mensch eine durch die Libido angetriebene
Maschine, bei der die Notwendigkeit, schmerzhafte oder
störende Spannungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren, als
automatischer Regulator wirkt. Die Spannungsminderung ist das
Wesen der Lust; …“ (Fromm, Sigmund Freud, Seine
Persönlichkeit und seine Wirkung, 1959; Ausgabe von 1995, S.
117).

Ja, schon fast des Behaviorismus eines Hulls gleich!

Aber Fromm schreibt auch:
Die behavioristische Maxime, daß beobachtbares Verhalten eine wissenschaftlich zuverlässige Größe sei, stimmt einfach nicht. Tatsache ist, daß das Verhalten selbst Unterschiede aufweist, die vom motivierenden Impuls abhängt, selbst dann, wenn der Unterschied bei oberflächlicher Beobachtung nicht sichtbar ist.
Aus An. der menschl. Destruktivität.
Kapitel Behaviorismus und Aggression.

Mit Interesse verfolge ich euren Austausch! :smile:

Gruss
HC

Hi Thomas,

kennst du Alwin Mittasch? Ist zwar nicht auf dem aktuellen
Level der chemischen Forschung (natürlich!), aber sehr
lesenswert.

kennen wäre übertrieben, ich hab mal einen Aufsatz von ihm gelesen, ist aber Äonen her. Es hat mich allerdings nicht vom Sockel gehauen, vielleicht bin ich doch zu sehr verbildetet Chemiker, der mit seinen Substanzkrümeln im Becherglas zufrieden ist :wink:

Gandalf

`n Abend allerseits!

Aber Fromm schreibt auch:
Die behavioristische Maxime, daß beobachtbares Verhalten eine
wissenschaftlich zuverlässige Größe sei, stimmt einfach nicht.
Tatsache ist, daß das Verhalten selbst Unterschiede aufweist,
die vom motivierenden Impuls abhängt, selbst dann, wenn der
Unterschied bei oberflächlicher Beobachtung nicht sichtbar
ist.
Aus An. der menschl. Destruktivität.
Kapitel Behaviorismus und Aggression.

Das Fromm-Zitat habe ich gebracht, um Thomas´ Meinung zu widersprechen. Daß Fromm kein Behaviorist war, ist mir klar. Daß er Kritiker des Behaviorismus war, ist auch klar. Jedoch stimmt es einfach nicht, daß Freuds Modell nicht mechanistisch ist. Und weil die Analyse eines psychoanalytischen Modells für manche Leute glaubwürdiger wirkt, wenn sie durch einen Psychodynamiker erfolgt, brachte ich das Fromm-Zitat.

Zu Deinem Zitat von Fromm muß ich anmerken, daß Fromm anscheinend die behavioristisch orientierte Verhaltenswissenschaft nicht verstanden hat. Es ist nämlich auch aus behavioristischer Sicht richtig, daß das Studium des Verhalten an sich nicht sinnvoll ist. Dies wird im Behaviorismus als topographische Analyse oder strukturelle Analyse bezeichnet. Bei einer topographischen Analyse geht es nur um die Beschreibung von Verhalten. Topographische Analysen sind zweifelsohne oberflächlich.

Behavioristische Verhaltensanalysen sind jedoch funktionale Analysen. Diese umfassen die präzise Beschreibung des Verhaltens, ihre Übersetzung in psychologische Sprache und das Inbeziehungsetzen des Verhaltens mit vorauslaufenden und nachfolgenden Bedingungen. Funktionale Analysen fragen, zu welchem Zweck Verhalten gezeigt wird. Daher spricht man ja auch von „instrumentellem Verhalten“ oder „operantem Verhalten“. Funktionale Analysen wurden z.B. von Tinbergen als eine Möglichkeit angesehen, um biologische Verhaltensforschung zu betreiben. Fromms Kritik, daß der Behaviorismus nur am Verhalten an sich, also an topographischen Analysen, interessiert sei, zeugt von einem tiefen Unverständnis der Absichten behavioristisch orientierter Verhaltenswissenschaften.

Mit Interesse verfolge ich euren Austausch! :smile:

Danke für das Kompliment. :smile:

Freundliche Grüße,

Oliver

Hallo Oliver,

Es müßte also bestimmt werden, welche Ebene gemeint ist.

ich bin nicht sicher, ob ich dich hier richtig verstehe. Freischuss: Die unterste Ebene ist die Ebene der Begriffe und Schlüsse, also ob und ggf. wie ein Begriff gerechtfertigt werden kann oder welche von mehreren möglichen Ursachen bei induktiven oder abduktiven Schlüssen bevorzugt werden sollten – und warum.

Ein anderer Punkt: Ich kenne einige Wissenschaftler, die sind
ihren Grundannahmen gegenüber verbal sehr kritisch
eingestellt, in der Forschung verhalten sie sich aber nicht so.
Passen diese Personen ins Kuhnsche Schema? Oder müßte man nicht
mehr Psychologie aufbieten, um zu erkennen, daß eine Person
ihren Grundannahmen durchaus kritisch gegenüber stehen kann,
aber aufgrund der praktischen Begrenztheit der Möglichkeiten
nur innerhalb des „Normalen“ forschen kann?

Es ist ein Unterschied, ob jemand aus persönlichen Motiven „falsch forscht“ oder weil er seinen paradigmatischen Grundannahmen verpflichtet ist. Das erste ist ein psychologisches, das zweite ein wissenschaftsmethodisches Problem.

weil es in meinem Fach niemals ein alles beherrschendes
Paradigma gab.

Mindestens gab es eines bei Aristoteles bzw. in der christlichen Psychologie des Mittelalters.

Was ich meinte, war, dass ja die diskreten
Ergebnisse der Statistik als Einzelergebnisse immer noch
Einzelfälle darstellen. Insofern kann nicht auf eine
Gesetzmäßigkeit geschlossen werden – das ist das Argument.

Dieses Argument ist mir noch nicht ganz einsichtig. Ein
einzelnes Ergebnis ist immer ein Einzelergebnis. Eine
Reihe von Einzelergebnissen stellen - sofern man sie
aufeinander beziehen kann - mehr als ein Einzelergebnis dar.

Ja, das ist schon richtig, aber in der Praxis wird die Restwahrscheinlichkeit völlig negiert.

man sollte danach fragen, welche Theorie besser bestimmte
Kriterien erfüllt, z.B. Einfachheit, quantitative und
qualitative Genauigkeit der Vorhersagen, Gehalt (d.h. auf wie
viele Phänomene die Theorie sich beziehen läßt).

Das ist guter alter Popper.

So genau kenne ich die Poppersche „Logik der Forschung“ nicht.
Aber falls Popper fordern würde, daß die
Falsifikation auf der Ebene des Wissenschaftlers das Ziel sein
sollte, dann wäre seine Forderung ziemlich
abgehoben, weil gegen die menschliche Natur.

Nein, Popper fordert nicht die Falsifikation, sondern dass eine Theorie prinzipiell falsifizierBAR sein muss, um als wissenschaftlich zu gelten. Und seiner Meinung mangelt es der Psychologie an dieser (strengen) Überprüfbarkeit, unter anderem weil sie sich im therapeutischen Rahmen mit (sehr komplexen) Einzelfällen beschäftigt.

Freud … räumte doch selbst ein, daß er post hoc die meisten
Fälle erklären könne, nur vorhersagen, wer welche Störung
entwickeln würde, könne er nicht. So etwas spricht nicht für
die Schlüssigkeit des Modells und ist auch
einer der Gründe gewesen, wieso ich diesem Gedankengebäude den
Rücken zugekehrt habe.

Das sehe ich ein wenig anders, denn die ABSICHT der Psychoanalyse ist ja weniger Erklärung als Therapie. Freilich müsste man damit aber eben auch die strenge Wissenschaftlichkeit fallen lassen bzw. eine andere Art von „Wissenschaftlichkeit“ behaupten.

Aber Freud argumentiert mechanistisch!

Sehr richtig, aber nicht in allen Teilen seines Werkes. Aber das macht die Sache natürlich nicht geschlossener.

Diesen Begriff - Abgrenzungsproblem - habe ich bisher nur
gehört. Es würde mich interessieren, was man darunter versteht.

Das ist hier wohl gut erklärt – und mehr zu Popper:

http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/str…

Herzliche Grüße

Thomas Miller

P. S. Ich hab die nächsten zwei Tage etwas Stress. Bitte nicht böse sein, falls ich nicht auf jedes Posting sofort antworten kann. :smile:

Hallo Oliver!

Hier machst du es dir wohl zu einfach. Fromm zu unterstellen, er hätte den B. nicht verstanden ist ganz sicher falsch.
Um beim B. zu bleiben, Skinner ist immerhin so weit gegangen, zu behaupten, auch bei der Erklärung des beobachtbaren Verhaltens strikt auf Annahmen über innere, nicht unmittelbar sichtbare Vorgänge, verzichten zu können. Sein Neobehaviorismus gündete sich auf folgende Konzeption: Die Psychologie als Wissenschaft darf und muß sich nicht mit Gefühlen oder Impulsen oder irgendwelchen anderen subjektiven Vorkommnissen befassen. Fromm hat, um jetzt mal konkreter zu werden, im Kontext zu seinem Zitat, die Beispiele zweier prügelnder Väter herbeigezogen, die ihre Aggressionen instrumentalisieren, um etwas für ihr Kind zu erreichen – ein Erziehungsziel.
Rein äußerlich betrachtet scheint das identisch. Wenn wir jedoch das Verhalten des liebevollen Vaters, mit dem des sadistischen Vaters vergleichen, finden wir Unterschiede: die Art, wie sie das Kind halten und wie sie vor und nach der Strafe mit ihm reden. Entsprechend auch die Reaktionen der Kinder, das eine fühlt die sadistische Qualität der Strafe, das andere hat keinen Grund an der Liebe des Vaters zu zweifeln.
Die kognitive Wende, Mitte der Siebziger Jahre, hat den Behaviorismus doch nicht unbegründet abgelöst!!! Es gibt zwar noch einzelne Vertreter des radikalen Beh., die jegliches Innenleben leugnen, und ganz sicher sind seine theoretischen und methodischen Prinzipien noch immer spürbar, aber Du wirst mir wohl zustimmen müssen, daß das kognitive Modell, das einflußreichste Forschungsparadigma überhaupt ist.
Was Fromm nun recht gibt! Und zwischen operantem und instrumentellem Verhalten, wußte er schon zu differenzieren und auch dem Wert funktionaler Analysen, sowie seines sinnvollen (!) Einsatzgebietes! Aber ich kann hier natürlich nicht sein ganzes Werk, was ja grad durch seine sorgfältige Empirik epochemachend wurde, aufzeigen.

Herzliche Grüße
HC

Hallo Humancrossing!

Hier machst du es dir wohl zu einfach. Fromm zu unterstellen, er
hätte den B. nicht verstanden ist ganz sicher falsch.

Nicht ich mache es mir zu einfach, sondern Fromm hat ihn sicherlich nicht verstanden.

Um beim B. zu bleiben, Skinner ist immerhin so weit gegangen, zu
behaupten, auch bei der Erklärung des beobachtbaren Verhaltens
strikt auf Annahmen über innere, nicht unmittelbar sichtbare
Vorgänge, verzichten zu können. Sein Neobehaviorismus gündete
sich auf folgende Konzeption: Die Psychologie als Wissenschaft
darf und muß sich nicht mit Gefühlen oder Impulsen oder
irgendwelchen anderen subjektiven Vorkommnissen befassen.

Das ist zu einfach. Was ist denn „covert behavior“, ein Ausdruck, den Skinner gebrauchte? Skinners Auffassung war dezidiert, daß es Gedanken und Gefühle gibt, daß diese aber nicht das Verhalten „verursachen“. Für Skinner ist das Verhalten von seinen vergangenen Konsequenzen abhängig. Daraus machten Leute wie Fromm dann so etwas wie: Skinner leugnet Gedanken und Gefühle. Man dürfe sich nicht damit befassen usw. Ganz im Gegenteil: Skinner hat sich selbst damit befaßt. Kostprobe?

„In this chapter I consider a number of behavioral processes which have given rise to the invention of what are usually called higher mental processes. They compose one great part of the field of thinking. It is a difficult field, and no one, so far as I know, claims to give a definite account“ (Skinner, 1976, S. 113).

Das „chapter“ ist überschrieben: „Thinking“ (!)

Und er fährt fort: „The present argument is this: mental life and the world in which it lived are inventions. They have been invented on the analogy of external behavior occuring unter external contingencies. Thinking is behaving. The mistake is in allocating the behavior to the mind“ (Skinner, 1976, S. 115).

Wie Du siehst, sollte man Skinners Werke lesen, bevor man - wie Fromm - so einen Unfug erzählt. Ich teile Skinners Meinung, daß der „Geist“ eine Erfindung ist - er ist ein hypothetisches Konstrukt. So wie „Persönlichkeit“ ein hypothetisches Konstrukt ist. Über die Nützlichkeit des hypothetischen Konstruktes „Geist“ kann man sich streiten, aber nicht über die Tatsache, daß er ein hypothetisches Konstrukt ist.

Fromm hat, um jetzt mal konkreter zu werden, im Kontext zu seinem
Zitat, die Beispiele zweier prügelnder Väter herbeigezogen, die
ihre Aggressionen instrumentalisieren, um etwas für ihr Kind zu
erreichen – ein Erziehungsziel.
Rein äußerlich betrachtet scheint das identisch. Wenn wir jedoch
das Verhalten des liebevollen Vaters, mit dem des sadistischen
Vaters vergleichen, finden wir Unterschiede: die Art, wie sie
das Kind halten und wie sie vor und nach der Strafe mit ihm
reden. Entsprechend auch die Reaktionen der Kinder, das eine
fühlt die sadistische Qualität der Strafe, das andere hat keinen
Grund an der Liebe des Vaters zu zweifeln.

Ach, und das kann man ein Behaviorist nicht erkennen? Das glaubst Du doch selbst nicht! Experimentelle Studien von Nichtbehavioristen haben ergeben, daß Verhaltenstherapeuten die besseren Beobachter sind als Tiefenpsychologen, weil die Verhaltenstherapeuten in das beobachtbare Verhalten nicht so viel hineindichten wie ihre tiefenpsychologischen Kollege:

„Ein besonders beeindruckendes Experiment zur Wirkung von Voreinstellungen und deren Abhängigkeit von der Art des Diagnostizierens führten Langer & Abelson (1974) durch. 40 Kliniker aus zwei unterschiedlichen „Schulen“ (Verhaltenstherapeuten und Analytiker) beurteilten dasselbe Videoband eines Interviews. Jeweils der Hälfte der Klinikergruppen wurde zuvor gesagt, daß es sich bei dem Befragten um einen Stellenbewerber bzw. um einen Patienten handelte. Die diagnostische Bewertung des Interviews durch die Verhaltenstherapeuten war weniger von den Voreinstellungen geprägt als die der Analytiker. Wenn der Befragte als Patient bezeichnet wurde, sprachen im die Analytiker signifikant mehr Auffälligkeiten zu“ (Schmidt & Kessler, 1976, S. 140).

Gerade die Verhaltensbeobachtung und -erfassung ist die Stärke des behavioristischen Ansatzes. Ein „liebevoller“ Vater reagiert ganz anders als ein „sadistischer“. Das kann jeder sehen. Und in einer Verhaltensanalyse kann das präzise beschrieben und funktional mit vorangehenden und nachfolgenden Bedingungen in Verbindung gebracht werden.

Die kognitive Wende, Mitte der Siebziger Jahre, hat den
Behaviorismus doch nicht unbegründet abgelöst!!!

Ein Grund dafür ist z.B.: Der unwiderstehliche Drang zum Mentalismus! Aber gefällt Dir das Bild, das die damaligen Kognitivisten vom Menschen hatten: Der Mensch ist ein Computer? Das Menschenbild der damaligen Kognitivisten ist die serielle Rechenmaschine von Neumanns.

Es gibt zwar noch einzelne Vertreter des radikalen Beh., die
jegliches Innenleben leugnen,

Das ist Unfug! Dazu Skinner wieder selbst:

"Here, for example, are some of the things commonly said about behaviorism or the science of behavior. They are all, I believe, wrong:

  1. It ignores consciousness, feelings, and states of mind.
  2. It formulates behavior simply as a set of responses to stimuli, thus representing a person as an automaton, robot, puppet or machine.
  3. It does not attempt to account for cognitive processes.
  4. It has no place for intention or purpose.
  5. It cannot explain creative achievements …" (Skinner, 1976, S. 4).

Und er zählt insgesamt 20 solcher Punkte auf und bespricht sie eingehend in seinem Buch. So sagt er zum 1. Punkt in der Zusammenfassung:

"1. Methodological behaviorism and certain versions of logical positivism could be said to ignore consciousness, feelings, and states of the mind, but radical behaviorism does not thus „behead the organism“; it does not „sweep the problem of subjectivity under the rug“; it does not „maintain a strictly behavioristic methodoloy by treating reports of introspection merely as verbal behavior“; and it was not designed to „permit consciousness to atrophy“ (Skinner, 1976, S. 241).

Und zum 5. Punkt:

„A person disposed to act because he has been reinforced for acting may feel the condition of his body at such a time and call it „felt purpose“, but what behaviorism rejects is the causal efficacy of that feeling“ (Skinner, 1976, S. 246).

Skinner leugnet also keineswegs Gefühle - das wäre auch absolut dumm von ihm, denn er war sich seiner doch genauso gewiß, wie wir uns unserer sind. Was er bestreitet, ist, daß diese Gefühle eine „kausale Wirksamkeit“ für Verhalten haben. Diese Wirksamkeit gesteht er den vergangenen Konsequenzen des Verhaltens zu.

Ich hoffe, daß Du jetzt, wo Du ihn einmal Auszüge aus seinen Werk gelesen hast, nicht mehr an diese Märchen vom bösen Onkel Skinner glaubst, der die menschlichen Gefühle oder Gedanken leugnet!

Vielleicht wäre es besser, einmal ein paar Skinner-Texte selbst zu lesen. Ich habe mir die Mühe gemacht und entdeckt, daß die Kritiker Skinners es wohl versäumt haben müssen, weil sie manchmal einen ausgemachten Quatsch erzählen.

Gruß,

Oliver

Lit.:

Schmidt & Kessler (1976). Anamnese. Weinheim: Beltz.
Skinner, B.F. (1976). About Behaviorism. New York: Vintage Books.

Hallo Oliver!

Danke erstmal für deine große Mühe.
Das hat man nun davon, wenn man hier mitmischt!
Jetzt bringst du mir meine schön in Schubladen
verpackten Vorurteile durcheinander! :smile:)))

Aber Spass beiseite, nicht nur Fromm, sondern auch praktisch die gesamte moderne Psychologie spricht sich gegen Skinner aus.
In ich glaube sämtlichen Standartwerken, die ich gelesen habe,
von Anatomie der…bis zum Zimbardo, steht eigentlich dasselbe drin. Was soll ich nun wieder davon halten?
Wie erklärst du dir dann den Untergang des B. und den Ersatz, durch die kog.? Heißt es nicht survive of the fittest?
Oder glaubst du an eine Renaissance?

Wenn ich die Zeit finde, werde ich mir Skinner wirklich mal antun!
Danke jedenfalls nochmal!

Gruss
HC

Hallo Humancrossing!

Danke erstmal für deine große Mühe.
Das hat man nun davon, wenn man hier mitmischt!
Jetzt bringst du mir meine schön in Schubladen
verpackten Vorurteile durcheinander! :smile:)))

Gern geschehen! :wink:

Aber Spass beiseite, nicht nur Fromm, sondern auch praktisch die
gesamte moderne Psychologie spricht sich gegen Skinner aus.
In ich glaube sämtlichen Standartwerken, die ich gelesen habe,
von Anatomie der…bis zum Zimbardo, steht eigentlich dasselbe
drin. Was soll ich nun wieder davon halten?

Ah, aus dem Zimbardo hast Du das „zitiert“ :wink:! Sehr viel steht in der 6. Auflage über den „Untergang“ des Behaviorismus nicht drin.

Ich kann es mir nicht erklären, wie es dazu kommt, daß über behavioristische Standpunkte so schluderig geschrieben wird. Jedoch ist mir nach der Lektüre behavioristischer Literatur klar, daß schluderig geschrieben wird. Ich vermute, daß die Schluderigkeit daher rührt, daß viele Autoren relativ wenig bis keine Ahnung von behavioristischen Ansätzen haben, weil sie sich niemals wirklich für diese Ansätze interessiert haben. Da aber (aus ihrer Sicht leider) die behavioristischen Ansätze eine bedeutende Rolle in der Psychologie spielten, sehen sie sich dazu gezwungen, darüber zu schreiben. Und sie schreiben dann die Kampfparolen ab, die Vertreter des Kognitivismus benutzt haben, um Skinners Behaviorismus aus seiner dominierenden Position über die amerikanische Psychologie zu vertreiben. Skinner selbst hat es ihnen recht einfach gemacht: Er hat Kritik nämlich meistens ignoriert und geschwiegen. Das Buch „About Behaviorism“ ist das einzig mir bekannte Werk, indem er sich ausdrücklich und ausführlicher mit der Kritik an seinem Ansatz beschäftigt hat.

Die gleichen „Überlebenden“ sagen sehr oft, daß Skinner mißverstanden wird bzw. nicht richtig wiedergegeben wird. Nun kann man das glauben oder nicht. Ich war neugierig und habe mich auf die Suche gemacht, um etwas „Wahrheit“ unter den Leichen der Schlachten aus der kognitiven Wendezeit hervorzuziehen. Zumindest habe ich festgestellt, daß das, was da unter den Leichen hervorkommt, sich in vielen Punkten von dem unterscheidet, was nach Aussage vieler heutiger Psychologen unter den Leichen sein soll.

Deshalb ist mein Tipp: Lieber das Original lesen als die „Fälschung“. Das gilt übrigens auch für Freud und Konsorten. Die sind besser als in den Psycho-Bücher berichtet. Jedoch heißt dies nicht, daß sie deshalb gut sind.

Skinners Ansatz kann man kritisieren, was auch ich tue. Jedoch sollte sich die Kritik auf das richten, was Skinner wirklich für richtig hielt und nicht auf einen Popanz.

Wie erklärst du dir dann den Untergang des B. und den Ersatz,
durch die kog.? Heißt es nicht survive of the fittest?
Oder glaubst du an eine Renaissance?

Für den „Untergang“ habe ich keine Erklärung. Eine Erklärung sollte die Wissenschaftsgeschichte versuchen. Ich fürchte nur, daß die Zeit für einen distanzierten und damit differenzierten Standpunkt noch nicht gekommen ist. Meine Vermutung - und das sagen sowohl die Autoren des heutigen Behaviorismus als auch die des heutigen Kognitivismus - ist, daß der Computer damals als eine Chance angesehen wurde, die „geistigen“ Prozesse des Menschen zu untersuchen („Psychology as the science of mind“). Behavioristen der damaligen Zeit - und das waren v.a. Skinnerianer - lehnten eine „science of mind“ ab, witterten die Rückkehr des von ihnen strikt abgelehnten Mentalismus und blieben bei der Fahne Skinners. Andere Behavioristen - die in der Tradition Tolmans und auch Hulls - konnten sich dagegen sehr wohl mit dem Computermodell anfreunden und schlossen sich der - Mitte der 70er Jahre - nicht mehr neuen kognitivistischen Idee an. Mit dem Aufstieg des Computers sank die Bedeutung der Skinnerianer. Eine neue Technologie brachte eine neue Metapher, die nach Ansicht vieler einfach ein besseres Modell für den Menschen darstellte.

Ich glaube an keine Renaissance des Radikalen Behaviorismus. Wissenschaft muß sich weiter entwickeln. Jedoch denke ich, daß behavioristische Ideen immer noch eine Bedeutung und einen Nutzen haben. Sie sind - aus meiner Sicht - nämlich nicht alle falsch. Behavioristische Interpretationen von Forschungsergebnissen sind sehr sparsam. Dies ist etwas, was sich der Rest der Psychologie abgucken könnte. Es gibt aber auch neuere Strömungen in der behavioristischen Familie, die bedeutend „theoriefreundlicher“ sind als der Skinnersche Ansatz. Diese Strömungen vollziehen einen notwendigen Schritt, um sich in die Diskussion zu bringen. Skinners Reserviertheit gegenüber Theorien (nicht Feindlichkeit - das ist wieder ein Märchen) war sicherlich auch nicht geeignet, um Sympathien zu wecken.

Wenn ich die Zeit finde, werde ich mir Skinner wirklich mal
antun!

Ja, nur Mut!

Danke jedenfalls nochmal!

Gern geschehen!

Gruß,

Oliver

.

Hallo Gandalf,

kennen wäre übertrieben,

schade.

ich hab mal einen Aufsatz von ihm gelesen, ist aber Äonen her.

Immerhin.

Es hat mich allerdings nicht vom
Sockel gehauen, vielleicht bin ich doch zu sehr verbildetet
Chemiker, der mit seinen Substanzkrümeln im Becherglas
zufrieden ist :wink:

Oh, Mittasch war ja selbst Experimentalchemiker, nie Professor, nur Angestellter bei BASF. Fasziniert hat mich besonders seine Unabhängigkeit von der physikalischen Wissenschaftstheorie. Er ist einer der Wenigen, die wissenschaftstheoretisch und gleichzeitig spezifisch chemisch denken.

Herzliche Grüße

Thomas Miller