Hallo Thomas,
Daß Wissenschaftler normalerweise gegenüber ihren Annahmen
nicht kritisch eingestellt sind, möchte ich zwar
stark bezweifeln, generell haben aber diese Theorien
wissenschaftlicher Entwicklung sicherlich den Nutzen einer
Sensibilisierung.
im Rahmen der Kuhnschen Theorie ist von „Normalwissenschaft“ die
Rede im Sinne des normalen Vorgangs der wissenschaftlichen
Forschung. So ist es gemeint, wenn von „normalerweise“ die Rede
ist.
Es war mir nicht recht klar, daß Du die Annahmen meinst, die das Fundament, quasi die negative Heuristik, bilden. Mir stellt sich die Frage, auf welche der grundlegenden Ebenen man gehen muß (und v.a. wer festlegt, welche die grundlegenste Ebene ist), um diese Behauptung, daß Wissenschaftler ihren Annahmen gegenüber normalerweise nicht kritisch eingestellt sind, aufrechterhalten zu können. Ich suche z.Z. in Gedanken immer wieder nach Beispielen von Wissenschaftlern, von denen ich weiß, daß sie ihren Annahmen gegenüber kritisch sind. Allerdings kann ich oft eine grundlegendere Ebene bilden, auf der sie dann nicht mehr kritisch sind. Es müßte also bestimmt werden, welche Ebene gemeint ist.
Ein anderer Punkt: Ich kenne einige Wissenschaftler, die sind ihren Grundannahmen gegenüber verbal sehr kritisch eingestellt, in der Forschung verhalten sie sich aber nicht so. Passen diese Personen ins Kuhnsche Schema? Oder müßte man nicht mehr Psychologie aufbieten, um zu erkennen, daß eine Person ihren Grundannahmen durchaus kritisch gegenüber stehen kann, aber aufgrund der praktischen Begrenztheit der Möglichkeiten nur innerhalb des „Normalen“ forschen kann?
Darin liegt zunächst KEINE Abwertung. Erst durch Phänomene,
die aus diesem „normalen“ Rahmen herausfallen, entsteht die
Grundlagenkritik, die dann in gewissen Fällen den
Paradigmenwechsel herbeiführt (aber auch Paradigmenwechsel sind
nicht immer bindend. So kann man z. B. durchaus im Rahmen der
Newtonschen Physik Theorien aufstellen, solange sie den Mikro-
und Makrobereich nicht tangieren).
Dieser Punkt ist mir durchaus bekannt. Wahrscheinlich habe ich Schwierigkeiten, dies als zutreffendes Modell anzuerkennen, weil es in meinem Fach niemals ein alles beherrschendes Paradigma gab.
Sowohl Popper als auch Kuhn als auch Lakatos lehnen – wenn ich
mich recht erinnere – Psychologie als Naturwissenschaft ab.
Viele lehnen Psychologie als Naturwissenschaft ab. Es hat aus meiner Sicht viel mit dem Gedanken zu tun, daß die Würde des Menschen verloren ginge, wenn sich eine vollständig naturwissenschaftliche Psychologie etablieren würde.
Was ich meinte, war, dass ja die diskreten
Ergebnisse der Statistik als Einzelergebnisse immer noch
Einzelfälle darstellen. Insofern kann nicht auf eine
Gesetzmäßigkeit geschlossen werden – das ist das Argument.
Dieses Argument ist mir noch nicht ganz einsichtig. Ein einzelnes Ergebnis ist immer ein Einzelergebnis. Eine Reihe von Einzelergebnissen stellen - sofern man sie aufeinander beziehen kann - mehr als ein Einzelergebnis dar. Denn man kann feststellen, ob sich die einzelnen Ergebnisse widersprechen oder gegenseitig bestätigen. Wenn sie sich gegenseitig bestätigen, dann kann man versuchen, eine Theorie zu entwickeln (oder hat sie schon entwickelt), die jedes Einzelergebnis „erklärt“. Die Theorie beinhaltet Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten. Wenn die Empirie weitere Einzelfälle findet, in denen die Hypothesen nicht widerlegt werden, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß die Theorie „falsche“ Gesetzmäßigkeiten enthält. Natürlich ist die Gesetzmäßigkeit nicht gefunden, denn es bleibt immer eine Restwahrscheinlichkeit, daß es Fälle gibt, die der Theorie widersprechen.
Jedoch ist diese Vorstellung noch zu einfach. Das Interessante tritt hinzu, wenn 2 oder mehr Theorien sich auf die gleichen Einzelfälle beziehen. Welche Theorie ist „wahr“? So könnte man fragen. Aus meiner Sicht sollte man aber nicht so fragen, sondern man sollte danach fragen, welche Theorie besser bestimmte Kriterien erfüllt, z.B. Einfachheit, quantitative und qualitative Genauigkeit der Vorhersagen, Gehalt (d.h. auf wie viele Phänomene die Theorie sich beziehen läßt). Dann sollte man die Kriterien untereinander gewichten und kann für sich den Schluß ziehen: Diese Theorie ist besser als die andere. Über „Wahrheit“ ist damit noch nichts gesagt. Denn beide Theorien werden mit Sicherheit aufgegeben, wenn sich eine im Sinne der genannten Kriterien bessere Theorie findet.
Entscheidend für die Forderung nach dem PRIMAT der Empirie. Und
da habe ich (als Nichtempiriker *g* wie Popper etc.) in der
akademischen Welt die Erfahrung gemacht, dass die meisten
Empiriker meinen, es komme darauf an, Phänomene mittels Empirie
zu veri- und nicht zu falsifizieren. In der Normalwissenschaft
ist das ja auch in Ordnung. Paradigmenwechsel setzen ja erst
dort ein, wo die Normalwissenschaft in Konflikt mit ihren
Grundannahmen kommt.
Man sollte 2 Ebenen auseinander halten: Ein Wissenschaftler möchte natürlich „seine“ Theorie bestätigen. Das hat menschliche Gründe: Er hat viel Arbeit in die Theorie gesteckt, viel Zeit mit der Forschung verbracht, hofft auf Ruhm, Geld usw. Weil aber andere Wissenschaftler andere Theorien bestätigen wollen und Theorien in Wettstreit miteinander stehen, kommt es zwar häufig nicht auf der Ebene des einzelnen Wissenschaftlers zum Bemühen, seine Theorie zu falsifizieren, aber auf der Ebene der Wissenschaftlergemeinde zum „Falsifikationswettstreit“.
So genau kenne ich die Poppersche „Logik der Forschung“ nicht. Aber falls Popper fordern würde, daß die Falsifikation auf der Ebene des Wissenschaftlers das Ziel sein sollte, dann wäre seine Forderung ziemlich abgehoben, weil gegen die menschliche Natur.
So hat Freud ja nur dann Unrecht, wenn man seine
Grundannahmen kritisiert. INNERHALB seines Systems ist die
Psychoanalyse schon schlüssig.
Na, die Psychoanalyse als „schlüssig“ zu bezeichnen, ist gewagt. Denk z.B. an das Problem der „Neurosenwahl“. Dies war für Freud schon eine harte Nuß. Er räumte doch selbst ein, daß er post hoc die meisten Fälle erklären könne, nur vorhersagen, wer welche Störung entwickeln würde, könne er nicht. So etwas spricht nicht für die Schlüssigkeit des Modells und ist auch einer der Gründe gewesen, wieso ich diesem Gedankengebäude den Rücken zugekehrt habe.
Aus behavioristischer Sicht MUSS
Freud aber als unwissenschaftlich gelten, weil er nicht
materialistisch bzw. mechanistisch argumentiert, sondern eben
hermeneutisch i.w.S.
Aber Freud argumentiert mechanistisch! Das Triebmodell ist mechanistisch, weil es von der Physik des 19. Jahrhunderts abgeschaut ist. Und Fromm charakterisiert Freuds Menschenbild folgendermaßen:
„Primär ist der Mensch eine durch die Libido angetriebene Maschine, bei der die Notwendigkeit, schmerzhafte oder störende Spannungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren, als automatischer Regulator wirkt. Die Spannungsminderung ist das Wesen der Lust; …“ (Fromm, Sigmund Freud, Seine Persönlichkeit und seine Wirkung, 1959; Ausgabe von 1995, S. 117).
Ja, schon fast des Behaviorismus eines Hulls gleich!
Es sind ja auch nicht eigentlich drei Theorien, sondern es sind
drei Versuche, ein einziges Problem, nämlich das
Abgrenzungsproblem, zu lösen bzw. aus verschiedenen Aspekten zu
beleuchten.
Diesen Begriff - Abgrenzungsproblem - habe ich bisher nur gehört. Es würde mich interessieren, was man darunter versteht.
Vielen Dank für Deine aufschlußreichen Erläuterungen, Thomas!
Gern geschehn! (Ich hoffe, das ist nicht ironisch gemeint
gewesen.) Ich diskutiere so etwas wirklich gern.
Nein, das war nicht ironisch, sondern ernst gemeint. Schließlich habe ich Dir auch ein Sternchen gegeben.
Freundliche Grüße,
Oliver