Hallo liebe Leute,
im Wikipedia-Artikel zum Dekonstruktivismus ist vom „Präsenzdenken“ und von der „verzeitlichten“ Interpretation die Rede. Was bedeuten diese Begriffe? Googeln hat mich leider nicht weitergebracht…
Danke im Voraus für eure Antworten.
Maude.
Hallo,
im Wikipedia-Artikel zum Dekonstruktivismus ist vom
„Präsenzdenken“ und von der „verzeitlichten“ Interpretation
die Rede.
der vermutlich:
http://de.wikipedia.org/wiki/Dekonstruktion
„Präsenz“ ist bei Derrida ein mehrdimensionaler Begriff; ich müsste nachschauen, wenn Du es genauer wissen willst, aber zwei Dimension fallen mir sofort ein.
-
als Präsens: die Metaphysik geht davon aus, dass bestimmte identische Einheiten zeitübergreifend bestehen, z.B. „das Subjekt“;
sie denkt diese Einheiten nicht als in der Zeit und durch die Zeit (etwa durch fortwährende Wiederholung) konsituierte, sondern als zeitlose, immerseiende. -
als Präsent: die Metaphysik denkt diese identische Einheiten als „Gabe“, „Gegebene“, dem Denken vorgegebene Einheiten;
und eben nicht als „Genommene“, durch wiederholtens Denken und Handeln in der Zeit konstituierte.
Deleuze fasst dies z.B. schön zusammen: „Es gibt nicht Gaben, nur den Diebstahl“ (sinngemäß zitiert!)
Eine mögliche Literaturangaben unter tausenden dafür wäre:
Derrida, Falschgeld. Zeit Geben I
http://www.amazon.de/Falschgeld-Zeit-geben-Jacques-D…
„verzeitlichte Interpretation“ ist kein klarer terminus technicus wie „Präsenzdenken“, und da der Beginn des Wikipedia-Artikels, wo der Begriff auftaucht, diesen auch nicht näher bestimmt, lässt sich nur allgemeines dazu sagen:
Wikipedia greift dazu die Problematik des „Autors“ auf;
wenn wir einen Text lesen, dann interpretieren wir notwendig den Text; diese Interpretation ist aber selbst unablöslich mit dem Text verbunden bzw. der Text ist nichts mehr als die Gesamtheit seiner Interpretationen;
diese Interpretationen verweisen aber wiederum aufeinander und bauen (durch Zitation, Inspiration, etc.) aufeinander auf;
sowohl progressiv, in dem Sinne, dass auf Interpretation Interpretation folgt, ohne an einem geschichtlichen (zeitlich!) Endpunkt Final/Original werden zu können, wie auch regressiv, in dem Sinne, dass kein definitiver Ursprung (also Beginn der Geschichte, „vor der Zeit“, z.B. ein Naturzustand „vor der Kultur“) gefunden werden kann, weil sich jeder vermeintliche Originaltext als Interpretation eines Textes erweist, …
Der „Autor“ hat die Funktion, die Zeit zu arretieren, also der Interpretationsbewegung eine Ende zu setzen, einen Anfang (der immer Anfang bleibt, „ewiger Präsens“) zu suggerieren;
der „Autor“ aber ist eine metaphysische Figur, ähnlich dem Schöpfergott, weil auch der Autor nicht souveräner Erzeuger eines Textes ist, sondern selbst von Texten (seiner Geschichte, seiner Klasse, seinen Neurosen, etc.) bestimmt ist, die sein Werk als bloße Interpretation dieser Texte ausweisen.
Ein bißchen verständlich geworden? Oder ist mein Artikel -wie der Wikipedia-Artikel m.E. auch- nur verständlich, wenn die Grundhaltung des D. schon verstanden ist? Das Zeugs ist nämlich seeehr schwer kurz und knapp erklärbar.
Viele Grüße
Franz
Lieber Ben
wenn wir einen Text lesen, dann interpretieren wir notwendig
den Text; diese Interpretation ist aber selbst unablöslich mit
dem Text verbunden bzw. der Text ist nichts mehr als die
Gesamtheit seiner Interpretationen;
diese Interpretationen verweisen aber wiederum aufeinander und
bauen (durch Zitation, Inspiration, etc.) aufeinander auf;
Das hast du schön beschrieben, lieber Ben, finde ich jedenfalls und dieser dialektische Sprung da in der Hermeneutik, der sich dadurch auftut, gefällt mir ebenfalls. Ich habe mir aufgrund deine Anregung also sofort was von Jacques Derrida bestellt…mal schauen, ob ich ein Dekonstruktivist werde …
Es grüßt Dich
Branden
Hallo Branden,
Das hast du schön beschrieben, lieber Ben, finde ich
jedenfalls und dieser dialektische Sprung da in der
Hermeneutik, der sich dadurch auftut, gefällt mir ebenfalls.
ich kann mir vorstellen, was Du damit meinst, aber der Chronistenpflicht halber sei gesagt:
der Dekonstruktivismus ist dezidiert Anti-Hermeneutik (im Sinne Gadamers, oder sogar Schleiermachers verstanden; wobei dem Umkreis des D. zurechenbare Leute wie etwa Vattimo ihr Programm wiederum „Hermeneutik“ nennen, als andere Art des Anschlusses an Heidegger als der von Gadamer …), und sicherlich auch Anti-Dialektik im Sinne Hegels.
Ich habe mir aufgrund deine Anregung also sofort was von
Jacques Derrida bestellt…mal schauen, ob ich ein
Dekonstruktivist werde…
ooh, suppaah
Welches Werk denn?
Wobei ich Dir vorhersagen kann, dass Du den Dekontruktivismus darin nicht finden wirst; den findet man bei Derrida nur, wenn man schon weiß, wie man ihn findet
Im Ernst: Derrida ist sauschwer zu lesen (zumindest wenn man das genuin Philosophische in ihm sucht; Literaturinterpretation oder einfach ne spannende Geschichte findet man bei ihm aber immer!), ganz sicher jedenfalls nicht weniger schwer als Hegel, eher schwerer.
Ich hab zum Beispiel im Grundstudium damals als Einstieg seine „Grammatologie“ gelesen, und das einzige was wirklich hängengeblieben war, ist, dass Rousseau nach dem gleichen Muster denkt wie er onaniert … (die Erkenntnis hat mich aber schwer beeindruckt!)
Der Zugang zum Dekonstruktivismus ist auch deshalb so schwierig, weil der D. keine bloße Theorie ist, oder gar eine Methode, sondern er ist eine Denkhaltung, man könnte sagen ein Musikinstrument; und Musizieren kann man ja auch nicht theoretisch lernen, sondern nur durch Spielen …
In diesem Sinne: genieß das Durchrauschen von Derridas Text einfach, versuch gar nicht, dadurch den Dekonstruktivismus verstehen zu wollen, das verstellt den Zugang nur!
Übrigens (1): Prof. Eshelman hat in seiner Vorlesung mal gesagt, man wird einmal die Philosophie so nach prä-Derridianisch und post-Derridianisch ordnen, wie wir sie heute als prä- und post-Kantisch ordnen; und Recht hat er meines Erachtens …
Übrigens (2) bestehen große Affinitäten des D. zur Psychoanalyse:
http://www.amazon.de/Vergessen-wir-nicht-die-Psychoa…
http://www.amazon.fr/Lacan-avec-Derrida-Ren%C3%A9-Ma…
(Major versucht sich an einer „Psychanalyse derridien“)
http://www.amazon.fr/quoi-demain-Dialogue-Jacques-De…
(ein Dialog Derridas mit der sehr bekannten französischen Analytikerin Roudinesco)
…
Übrigens (3): Derrida ist Träger des Adorno-Preises:
http://www.atelierleonhardt.de/derrida.htm
http://www.berlinerliteraturkritik.de/index.cfm?id=6991
(er versteht m.E. Adorno tatsächlich von Benjamin her, was ich hochsympathisch finde, gerade weil das Habermas’ Versuch, sich als Adornite zu präsentieren, etwas entgegenstellt)
Übrigens (4): Ich mag Derrida eigentlich nicht sonderlich
Viele Grüße
Franz
Lieber Franz,
Deine Antwort hat mich in meinem kürzlich begonnenen Selbststudium des Dekonstruktivismus um Einiges weitergebracht. Dafür danke ich dir ganz herzlich!
Gruß,
Maude.
Hallo Ben
der Dekonstruktivismus ist dezidiert Anti-Hermeneutik (im
Sinne Gadamers, oder sogar Schleiermachers verstanden; wobei
dem Umkreis des D. zurechenbare Leute wie etwa Vattimo ihr
Programm wiederum „Hermeneutik“ nennen, als andere Art des
Anschlusses an Heidegger als der von Gadamer …), und
sicherlich auch Anti-Dialektik im Sinne Hegels.
Aha.
Hm.
Na gut.
Ich hab auch mal irgendwas von Gadamer zu lesen versucht, aber entweder war es das Kleingedruckte oder der Inhalt…ich erinnere mich an nichts davon…
…
Welches Werk denn?
O, einen ganzen bunten Strauß, nicht nur von Derrida, sondern auch alles Mögliche drumherum …
Ich kreige manchmal slche Anfälle…übertrieben gesagt: Amazon ist durch derartige Anfälle reich geworden
…
…ganz sicher jedenfalls nicht
weniger schwer als Hegel, eher schwerer.
Machs mir nicht noch schwerer, Ben
Ich hab zum Beispiel im Grundstudium damals als Einstieg seine
„Grammatologie“ gelesen, und das einzige was wirklich
hängengeblieben war, ist, dass Rousseau nach dem gleichen
Muster denkt wie er onaniert
Na, das ist doch immerhin Butter bei die Fische! Ich freu mich jetzt schon auf derlei Lektüre, nachdem ich vor sooo langen Jahren (1970 herum) Henry Miller gelesen habe…
Der Zugang zum Dekonstruktivismus ist auch deshalb so
schwierig, weil der D. keine bloße Theorie ist, oder gar eine
Methode, sondern er ist eine Denkhaltung, man könnte sagen ein
Musikinstrument
Ja, das bin ich ja von solchen Leuten wie z.B. Adorno oder Benjamin gewöhnt und zuweilen gefällt mir das sogar
und Musizieren kann man ja auch nicht
theoretisch lernen, sondern nur durch Spielen …
Wem sagst Du das!!
In diesem Sinne: genieß das Durchrauschen von Derridas Text
einfach, versuch gar nicht, dadurch den Dekonstruktivismus
verstehen zu wollen, das verstellt den Zugang nur!
Okay, ich werd mich bemühen, mon ami
Übrigens (1): Prof. Eshelman hat in seiner Vorlesung mal
gesagt, man wird einmal die Philosophie so nach
prä-Derridianisch und post-Derridianisch ordnen, wie wir sie
heute als prä- und post-Kantisch ordnen; und Recht hat er
meines Erachtens …
Donnerlettchen - Du motivierst mich immer mehr, ernsthaft
Übrigens (2) bestehen große Affinitäten des D. zur
Psychoanalyse:
Ja, das hab ich auch schon rausgekriegt
…
Übrigens (3): Derrida ist Träger des Adorno-Preises
Auch dieses ist mir nicht verborgen geblieben und hat mich ein weiteres Stücklein motiviert
(er versteht m.E. Adorno tatsächlich von Benjamin her, was ich
hochsympathisch finde, gerade weil das Habermas’ Versuch, sich
als Adornite zu präsentieren, etwas entgegenstellt)
Das ist ja wie für mich gebacken! Wie Du wahrscheinlich weißt (aus meiner ViKa oder unseren Dialogen) gehören Benjamin und Adorno zu meinen Lieblingen. Kennst Du übrigens dieses wunderbare Buch über „BENJAMIN UND BRECHT“ ??? (Kann auch sein, dass der Titel „BRECHT UND BENJAMIN“ ist, hab es gerade verborgt, nachdem ich es in Griechenland gelesen habe.)
Übrigens (4): Ich mag Derrida eigentlich nicht sonderlich
Na, Du machst mir Spaß…
Es grüßt Dich
Branden
Hallo Branden,
…ganz sicher jedenfalls nicht
weniger schwer als Hegel, eher schwerer.Machs mir nicht noch schwerer, Ben
???
Ich hab Derridas Werke doch nicht geschrieben!
Ich hab zum Beispiel im Grundstudium damals als Einstieg seine
„Grammatologie“ gelesen, und das einzige was wirklich
hängengeblieben war, ist, dass Rousseau nach dem gleichen
Muster denkt wie er onaniertNa, das ist doch immerhin Butter bei die Fische! Ich freu mich
jetzt schon auf derlei Lektüre, nachdem ich vor sooo langen
Jahren (1970 herum) Henry Miller gelesen habe…
Wenn Du gerne solche Gedanken liest und Henry Miller magst, dann kommst Du irgendwann an Deleuze/Guattaris Anti-Ödipus nicht vorbei (übrigens erfährst Du dabei dann auch gleich, was schizoide und paranoide Mathematik ist
Kennst Du übrigens dieses
wunderbare Buch über „BENJAMIN UND BRECHT“ ???
(Kann auch
sein, dass der Titel „BRECHT UND BENJAMIN“ ist, hab es gerade
verborgt, nachdem ich es in Griechenland gelesen habe.)
Nein, leider kenne ich „beide“ nicht; ich hab leider insgesamt immer zu wenig Zeit für Benjamin gehabt;
übrigens: solltest Du etwas von Derrida zu Benjamin direkt suchen, dann das:
http://www.amazon.de/Gesetzeskraft-mystische-Autorit…
(ich glaube auch, diese Schrift ist allgemein der leichteste Einstieg in Derrida)
Viele Grüße
Franz
Hallo,
„Präsenzdenken“
Da hilft das Stichwort Logozentrismus weiter:
http://www.little-idiot.de/derrida/text29.html
und von der „verzeitlichten“ Interpretation
Derrida benutzt phänomenologische Ressourcen
von Husserl und Heidegger, ohne die Kenntnis
derer ist es praktisch aussichtslos D. zu verstehen,
und er bedient sich, wie Franz schon erwähnt hat,
bei Levinas und Freud.
D. treibt das Denken der Zeitlichkeit über den
phänomenologischen Horizont hinaus, zu einer
niemals gegenwärtigen Spur und Differenz.
Vielleicht kannst du mit dieser arg komprimierten
Stütze etwas anfangen.
Gruß
Walden