Hallo Raiko,
Dein Artikel hat schon einige Tage auf dem Rücken, aber vielleicht ist es ja noch nicht zu spät für eine weitere Entgegnung darauf.
Bei Deinen Zeilen ergab sich für mich zuerst die Frage, von welchen Mehrheiten Du sprichst: etwa politische wie im Bundestag, eine durch diverse Einflüsse geprägte Meinung der Bevölkerung, eine erst durch ein Ereignis/Kampagne zutage tretende.
Danach fragte ich mich, wie real eine die Mehrheit tatsächlich ist, kennen wir doch den Begriff der schweigenden Mehrheit. Wenn diese ausgeschlossen ist oder sich selbst ausschliesst, bildet nur ein kleinerer Teil eine Mehrheit. Das sieht man etwa bei Wahlen, wenn es nur z. B. nur 60% Beteiligung daran gibt, die anschliessend für die Mehrheitsverhältnisse verantwortlich sind. (Was natürlich nicht heisst, dass die schweigende Mehrheit keine Meinung hat; vielleicht taucht nämlich ihre bei der Entscheidungsfindung gar nicht auf.)
Beispiel I): Die Apotheose des westlichen
Demokratieverständnisses, in deren Folge nicht zustimmende
Staaten hartnäckig sanktioniert und bombardiert werden
Da triffst Du einen sehr sensiblen Punkt bei mir, und ich sehe es ebenso. Dass es im Westen dafür solch grosse Zustimmung gibt, liegt meiner Ansicht an der (ver-)öffen(t)lichen Meinung. Ich weiss nicht genau, ob man nun so weit tendieren und sagen soll, dass solche Meinungen gerne übernommen werden, weil ein mit Argumenten oder Ansichten gefüllter Bericht bereits das Bild einer Mehrheit vorspiegelt, dem sich der Einzelne nicht verschliessen will, um sich nicht ausgeschlossen zu fühlen.
Beispiel II): Anti-Raucher-Kampagnen incl. Werbeverbote, aber
auch die Verteufelung von cannabis sativa als „gefährliche
Droge“
einerseits contra Duldung und sogar Förderung des
Alkoholkonsums andererseits
Diese Doppelmoral tritt so oft zutage, dass ein Gewöhnungseffekt derart eingetreten ist, dass das Erkennung solcher Missstände nur noch durch eine Minderheit zu geschehen scheint. (Denn wäre es die Mehrheit, würde sich dann nicht etwas an den Zuständen ändern? Aber hier spielt auch wieder die Politik hinein, die selbst Mehrheiten zu ignorieren weiss.)
Sind die Menschen gleichgültig oder dumm oder übersättigt?
Wer hat den Intellektuellen den Mund zugeklebt? Sie sich
gegenseitig? Oder gibt es nur noch Fachleute und keine
Intellektuellen mehr?
Alle drei Dinge des ersten Satzes kann man wohl nennen, aber ich sehe auch die Möglichkeit der Ohnmacht. (Welch schöner Begriff: ohne Macht.) Zufällig schaue ich eben auf mein „Muskote“-Zigarettenpapier, auf dem stets ein mehr oder weniger schlauer Spruch steht. Dieser passt:
_Eigentlich weiss man nur,
wenn man wenig weiss;
mit dem Wissen wächst der Zweifel.
(Johann Wolfgang von Goethe)_
Sind es denn nicht gerade die Intellektuellen, die zwar über viel Wissen, oftmals auch Anerkennung verfügen, aber dennoch über keine Macht verfügen? Manche sind zu „abgehoben“ mit ihren Ansichten, dass sich ihre Erkenntnisse einer Mehrheit verschliessen, weil diese nicht verstehen kannn. Andere beschäftigen sich sehr mit der Theorie und blenden dabei die praktischen Anwendungsmöglichkeiten aus. Es gibt wohl etliche Spielarten hierzu, aber wenn man Goethe folgen soll und mit dem Wissen der Zweifel wächst, verwundern mich Selbstmorde von Intellektuellen und Künstlern weniger. Das Wissen über Zustände und die fehlende Möglichkeit dagegen - auch oder gegen eine Mehrheit -, kann Verzweiflung schaffen. Und Schweigen.
Marco