Radikaler Konstruktivismus

Hi!

Ich habe seit Thomas Millers Erklärungen im Neon Genesis Evangelion Threat ein wenig über den Radikalen Konstruktivismus nachgedacht. Wer die Theorie nicht kennt, hier ist die Bewschreibung, die ich auch gelesen hab:
http://userpage.fu-berlin.de/~miles/konstrukt.htm

[1] Gibt es eine ‚echte‘ Realität?

Die Beschreibung erweckt den Eindruck, eine ‚echte‘ Realität sei gar nicht vorhanden. Das hat mich gestört, weil es einfach unmöglich zu sein scheint. Aber nach einer Weile ist mir klar geworden, wie es wohl gemeint ist: Niemand kann eine ‚echte‘ Realität erkennen (‚Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden‘). Unser Geist erschafft unsere Realität. Da unser Geist nicht fähig ist die wahre Realität zu erkennen kann es sie nicht geben.

Das war sehr wichtig, weil eine für mich recht wichtige Idee beim Radikalen Konstruktivismus die ist, dass alle Wahrheiten (alle Realitäten) gleichwertig sind, weil man nicht die Ähnlichkeit zu einer ‚richtigen‘ Realität messen kann.

[2] Das Bild vom Menschen

Eine Sache, der mich im Zusammenhang mit den Überlegungen zur ‚echten‘ Realität beschäftigt ist das ‚Bild‘ von einem Menschen. Ich hatte vor einiger Zeit einmal aufgeschrieben, welche Faktoren das Bild von einem Menschen ausmachen (könnt ihr hier lesen: http://buerger.metropolis.de/defender3/Bild.htm). Kürzlich bin ich beim Aufräumen im Archiv darauf gestossen, und als ich es nochmal überflogen habe ist mir bewusst geworden, dass hier der Radikale Konstruktivismus nicht funktioniert: Wenn ihr die Liste mit den Faktoren durchgeht dürfte euch bewusst werden, dass das Bild, dass ihr von euch selbst habt präziser ist als das, das andere von euch haben.
Man kann keine ‚echte‘ Realität erkennen, aber man ist Teil der Realität. Kann man sich selbst ‚erkennen‘?

[3] Ist der Radikale Konstruktivismus viabel?

Laut dem Text (Link ist am Anfang) kann man die verschiedenen Wahrheiten (bzw. Realitäten) nicht nach dem Abstand zur ‚echten‘ Realität bewerten, da die ‚echte‘ Realität nicht erkennbar ist. Bewerten kann man nur die ‚Viabilität‘ einer Wahrheit: ‚Begünstigt meine Wahrheit mein Fortbestehen?‘ ist die zentrale Frage. Dabei kann man z.B. an suizidgedfährdete Depressive denken, die in ihrem Geist eine Welt geschaffen haben, die ihnen keine Chance auf ein glücklisches Leben einräumt, weshalb der Tod ihre einzige Option zu sein scheint.
Was ich an dieser Idee interessant finde ist, dass der Radikale Konstruktivismus an sich als Model Teil meiner Realität ist und somit auch in Punkto Viabilität bewertbar ist. Was denkt ihr, ist der RK viabel? Für den erwähnten Depressiven ist er es bestimmt: Er muss nur erkennen, dass er ein düsteres Bild von der Welt gezeichnet hat, dass ihm schadet. Er muss nur seine Weltvorstellung ändern um glücklisch sein zu können. Was mir an dem Prinzip suspekt erscheint ist aber die Passivität: ‚Versuch nicht, die Welt zu ändern, ändere deine Welt (dein Bild von der Welt)‘.

Wow, bis hier hast du gelesen? Das finde ich super! Wenn du dir schon die Mühe gemacht hast alles durchzuarbeiten schreibst du auch bestimmt eine Antwort, oder? Vielen Dank, ich bin gespannt was du zu sagen hast!

-Sebastian

Da unser Geist nicht fähig
ist die wahre Realität zu erkennen kann es sie nicht geben.

Das Argument verstehe ich nicht. Etwas muss doch dort draußen sein, das auf unsere Sinne einwirkt. Ob es erkennbar ist, ist die andere Frage.

Ich habe die Auffassung des Radikalen Konstruktivismus nie nachvollziehen können:

  1. Führt diese Auffassung zu einem Paradox. Brecht wurde einmal gesagt, dass die Welt nicht erkennbar sei. Seine Gegenfrage: Woher wissen sie das?
    Wie können wir einen radikalen Konstruktivismus annehmen und dann drüber diskutieren? Sollte man dann nicht lieber schweigen??
  2. Führt diese Auffassung m.E. zu negativen Schlussfolgerungen. Wie können wir uns der Dinge bewusst sein, warum haben wir ein Bewusstsein, dass etwas existiert (ein Sein hat nach Heidegger)?
    Die Antwort: weil wir die nötige Distanz haben, uns also zu uns selber verhalten können. Diese Distanz impliziert m.E. eine Verschiedenheit von der „Realität“, und das ist doch positiv. Wenn wir mit den Dingen zusammenfallen würden, hätten wir keine Erkenntnis von ihnen. Das Beklagen dieser Distanz ist daher falsch, weil sie die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ist.
  3. Kann ich die Argumente auch inhaltlich nicht nachvollziehen.
    Unsere Gehirn konstruiert unsere Wirklichkeit> o.k. Wir müssen die Welt z.B. nach dem Kausalitätsprinzip betrachten (das sind nach Kant Kategorien unseres Verstandes). Doch die moderne Physik machte doch Aussagen im subatomaren Bereich, wo solche Prinzipien nicht mehr gelten. Wir können sie nur nicht denken, haben aber doch etwas über die „Realität“ erfahren. Oder???
  4. Würden wir uns völlig täuschen, wären wir nicht die beherrschende Spezis der Erde geworden.
    Steffen

Hi!

Da unser Geist nicht fähig
ist die wahre Realität zu erkennen kann es sie nicht geben.

Das Argument verstehe ich nicht.

Ist schwer zu erklären. Also, es gibt die ‚echte‘ Realität. Es gibt eine Realität in jedem menschlichen Geist. Diese bauen auf der ‚echten‘ Realität auf, unterscheiden sich aber von ihr. Die ‚echte‘ Realität bewirkt Realitäten in menschlichem Denken, kann aber selbst nicht in diesem existieren (‚Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden‘).

  1. Führt diese Auffassung zu einem Paradox. Brecht wurde
    einmal gesagt, dass die Welt nicht erkennbar sei. Seine
    Gegenfrage: Woher wissen sie das?

Jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit, das ist eine Tatsache. Lies meinen Essay über das Bild vom Menschen, der ist ein gutes Beispiel für die Mechanismen, die das bewirken.

Wie können wir einen radikalen Konstruktivismus annehmen und
dann drüber diskutieren? Sollte man dann nicht lieber
schweigen??

Wieso denn??

  1. Führt diese Auffassung…

Du lehnst zwar den RK ab, aber du gibst doch zu, dass wir durch unsere Distanz zu den Dingen ein Bild von ihnen entwickeln, dass nicht völlig mit der Realität übereinstimmt.

  1. Kann ich die Argumente auch inhaltlich nicht
    nachvollziehen.

Das mit der Wissenschaft ist ein guter Gedanke. Es könnte schon sein, dass naturwissenschaftlische Fakten der echten Realität entstammen. Allerdings weiss ich nicht, was das nützen soll. Was bringt es mir für mein Leben, wenn ich weiss, dass ein Atom wirklich so und nicht anders aufgebaut ist?

  1. Würden wir uns völlig täuschen, wären wir nicht die
    beherrschende Spezis der Erde geworden.

Das kann man auch anders sehen. Wir sind z.B. die einzigen, die ihren eigenen Lebensraum zerstören und sich sinnlos abschlachten. Tiere zweifeln ausserdem weder am Sinn ihres Daseins noch werden sie depressiv. Und was ist, wenn wir wirklich alle in der Matrix leben? :smile:

-Sebastian

Hallo,

aus „Philosophie der Freiheit“ S. 46/47

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Ein erlebter Vorgang kann eine Summe von Wahrnehmungen, aber auch ein Traum, eine Halluzination und so weiter sein. Kurz, ich kann nicht sagen, in welchem Sinne er existiert. Das werde ich dem Vorgange selbst nicht entnehmen können, sondern ich werde es erfahren, wenn ich ihn im Verhältnisse zu andern Dingen betrachte. Da kann ich aber wieder nicht mehr wissen, als wie er im Verhältnisse zu diesen Dingen steht. Mein Suchen kommt erst auf einen festen Grund, wenn ich ein Objekt finde, bei dem ich den Sinn seines Daseins aus ihm selbst schöpfen kann. Das bin ich aber selbst als Denkender, denn ich gebe meinem Dasein den bestimmten, in sich beruhenden Inhalt der denkenden Tätigkeit. Nun kann ich von da ausgehen und fragen: Existieren die andern Dinge in dem gleichen oder in einem andern Sinne?
"

http://www.anthroposophy.com/Steinerwerke/GA4-Inhalt…