Kriterien
Hallo Peet
Die Kunst hat etwas Elitäres an sich: Nicht jeder kann sie
ausüben, nicht jeder kann sie rezipieren, nicht jeder
beurteilen.
Eliten definieren sich selbst – ihre Regelkanones fungieren als Ab- und Ausgrenzung und damit als Selbstvergewisserung und Legitimation elitären Anspruchs. Mehr steckt nicht dahinter. ‚Kunst’ ist ein Mythos. Das Allerheiligste im Tempel ist leer. Wo kein Fanum, da ist auch kein Profanum.
… Es sind aber Voraussetzungen, darüber ernsthaft
(qualifiziert) sprechen zu dürfen. Mögen oder nicht mögen darf
jeder, wie es ihm passt.
Wer setzt die Voraussetzungen fest, wann wer wie über was sprechen darf? Es ist jedem belassen, jemandem, der sich nicht auf das eigene Werte- und Beurteilungsschema einlassen will, den Diskurs zu verweigern und sich mit Gleichgesinnten im Elfenbeinturm einzuschließen. Aber ich gestehe niemandem zu, im öffentlichen Diskurs allgemeingültige Qualifikationen und Disqualifikationen auszusprechen.
„Die Kunst der Fuge“ kann ein
Nicht-Musiker nur bedingt verstehen, eigentlich gar nicht,
nicht ohne Einführung jedenfalls. Und auch dann spielt der
außermusikalische Kontext immer noch eine große Rolle. Als
Stichworte lasse ich Mathematik und Biografie sowie Geschichte
der Polyphonie stehen, die alle außerhalb der Musik als des
unmittelbaren Klangprozesses liegen.
Dies macht mir erneut deutlich, worin sich vermutlich unsere Art der Rezeption unterscheidet – und bestätigt meinen Widerwillen gegen den Begriff ‚verstehen’ im Zusammenhang mit Musik. Ich versuche, Musik zu erfahren und erst in zweiter Linie (und jedenfalls nicht während des Höraktes) intellektuell zu verstehen. Ich höre nicht analytisch, sondern empathisch - die sinnliche Erfahrung und die emotionale Reaktion darauf hat für mich den absoluten Primat. Ein Defizit in dieser Beziehung ist für mich nicht heilbar. Das ist natürlich die Position eines militanten Amateurs, ich leugne es nicht … 
Noch einmal: Ostinato und Crescendo verschmelzen hier zu einem
Prinzip, das sind absolut innermusikalische Inhalte, die von
der Kraft des Rhythmus ausgehen, in der sehr komplizierten
Synthese der rhytmischen Elemente von spanischem, kubanischem
Folklore sowie Jazz. Das ist neu, revolutionär und bricht mit
der Publikumserwartung („intolerable“). Diese Inhalte stehen
hier aber in der Atmosphäre der Nachkriegszeit als Träger oder
Transporter vom außermusikalischen Kontext.
Das ist alles schön und richtig, und brilliant instrumentiert ist es auch noch. Trotzdem – ich finde es langweilig; um mit Deinen Worten zu sprechen: Es gefällt mir nicht. Um es zu wiederholen: Ein Defizit in dieser Beziehung ist für mich nicht heilbar.
Das stimmt leider auch mit dem Webern-Beispiel nicht. Die
Musik des Expressionismus kann man ohne Mahler und den
Expressionismus-Kontext nicht verstehen.
Aber man kann sie völlig ohne Kenntnis dieses Kontextes erfahren. Und zwar durchaus nicht notwendig als schrill, misstönend, ver-störend. Das ‚Verstehen’ mag ein Zugang sein, Offenheit und Unvoreingenommenheit (kein Klammern an Hörgewohnheiten) ist ein anderer – vielleicht einer, der folgerichtiger zum tatsächlichen ‚Genuss’ von Musik führt. Ein ‚Verstehen’ alleine kann allenfalls zu einer Wertschätzung führen. Das wäre mir zu wenig.
Gesagtes trifft selbstverständlich nur auf den Konsumenten von Musik zu – für den Interpreten ist ein ‚Verstehen’ unabdingbar. Aber ein Verstehen ohne die emotionale Komponente des Nachempfindens kann nur zu einer trocken akademischen, uninteressanten Interpretation führen. Für einen Musiker genügt es nicht, ein Stück zu verstehen – ich denke, er muss es lieben, wenn seine Interpretation etwas taugen soll.
und es gibt immer genug Blöde, die dem
‚Fachmensch’ die Anerkennung als solcher
verweigern. Folgerichtig ist die Musikgeschichte voll von
Meisterwerken, nach denen heute kein Hahn mehr kräht. Ob das
allemal an den Hähnen oder an den Werken liegt, sei mal
dahingestellt.
Die Verachtung der (musikalischen sowie wissenschaftlichen)
Tradition sagt wiederum mehr über den Hahn als über die
Tradition. Man steht entweder in ihr oder außerhalb. Ein
Satie, Cage, Nancarrow dürfen das, weil sie mit der Tradition
arbeiten, indem sie sie sprengen.
Ich vermute, Du hast mich da falsch verstanden. Die Tradition (so lange man ihr keine Maßstabsqualität zumisst) ist für mich durchaus nicht verachtenswert und ihre Kenntnis allemal eine Bereicherung des persönlichen Horizontes. Es ging mir ja um die Frage, was ein ‚Meisterwerk’ zu einem solchen macht und ob dies Deiner Meinung nach an objektiven Kriterien festzumachen ist. Das von Dir (wohl scherzhaft verkürzt) als Kriterium genannte Urteil eines „anerkannten Fachmenschen“ beantwortet meines Erachtens diese Frage nicht erschöpfend.
Um die Frage anders zu stellen: warum findet ein Bach eher geneigte Hörer als ein Pachelbel und ein Mozart eher als ein Wagenseil. Ich denke, das entzieht sich weitgehend objektiven (technisch / handwerklichen) Beurteilungsmaßstäben.
Sicher, man soll die Stimmen wägen, nicht zählen, um mit Schiller zu sprechen. Aber auch im Urteil der „anerkannten Fachmenschen“ spielen nach meiner Überzeugung subjektive Kriterien eine bedeutende Rolle – und nicht immer ist das breite Publikum bereit, das subjektive Empfinden der Fachwelt (bzw. einzelner Vertreter) nachzuvollziehen. Wobei das sicher nicht das Problem des Bolero ist …
Was wäre ein
objektives Kriterium dafür, dass der Bolero Kunst ist, dass er
„gute Musik – sehr gute sogar!“ ist?
Es gibt keine objektive Kriterien außerhalb einer festen
Tradition, die ihrerseits aber nur von den objektiven
Kriterien unterstützt wird.
Das klingt fast nach religiöser Orthodoxie. Tradition in diesem Sinne ist fester Bestandteil des elitären Regelkanons und wie dieser insgesamt Selbstzweck. Aber davon abgesehen – welche Tradition liefert denn dann für den Bolero
Das ist neu, revolutionär und bricht mit der Publikumserwartung („intolerable“).
die objektiven Kriterien? Da wird ja nicht nur mit der Publikumserwartung, sondern auch mit der Tradition gebrochen. Dass die Tradition mittlerweile den Bolero integriert hat, ist eine andere Geschichte. Der Bolero entspricht den Kriterien der Tradition erst a posteriori - er hat sich seine positiven Kriterien selbst geschaffen.
Menschen, die bereit sind, die
Tradition zu akzeptieren und sich darin zu finden, haben nicht
nur einen Geschmack. Sie sind imstande, die Größe eines
Meisterwerkes zu akzeptieren, auch wenn es ihnen persönlich
nicht gefällt. Sie wissen auch, daß ein Meilenstein nicht
beiseite gelegt werden darf.
Ich mag mit meinem Spott über die edle Einfalt und so gar nicht stille Größe des Bolero zu weit gegangen sein. Dass mein Missfallen eine Sache persönlicher Empfindung ist, sollte wohl mittlerweile klar sein – so wie ich die Existenz objektiver Kriterien bezweifle, die für die ‚Größe’ eines Werkes sprechen, gilt auch das Umgekehrte. Einziges Kriterium für mich, ob ein bestimmtes Musikstück ‚gut’ ist oder nicht, ist mein Empfinden – notwendig also ein subjektives Kriterium und daher auch nur für mich persönlich gültig. Die musikhistorische Bedeutung eines Werkes bleibt davon unberührt – sie macht es nicht ‚besser’ und nicht ‚schlechter’ und interessiert mich daher auch, wie schon angedeutet, allenfalls in zweiter Linie.
Freundliche Grüße,
Ralf