Das trifft auf das Jura-Studium aber nicht zu. Natürlich gibt es da auch die ein oder andere Definition und die ein oder andere Liste von Tatbestandsmerkmalen, die man zu einem gewissen Tatbestand einfach drauf haben muss. Auch die ein oder andere „Hausnummer“ wichtiger Paragraphen prägt sich mit der Zeit natürlich ein. Diese Dinge fragt aber normalerweise niemand in Prüfungen ab. Solange man weiß, was gemeint ist und es anwenden kann, ist der Wortlaut auch egal, solange man nicht gerade Dinge so falsch bezeichnet, dass man dadurch andere feststehende Begrifflichkeiten „missbraucht“ und damit dann zu erkennen gibt, dass man die Dinge und deren Bedeutungen nicht auseinander zu halten weiß.
Viel wichtiger im Jura-Studium ist einerseits eine gewisse Grundbegabung im systematischen, differenzierenden und kategorisierenden Denken mitzubringen und diese dann andererseits mit dem zu nutzen, was man dann im Studium über rechtliche Grundprinzipien und Regelungen in diversen Rechtsgebieten lernt.
Natürlich gibt es jede Menge Studenten, die meinen mit stumpfem Auswendiglernen von Paragraphen und Co. ein Jura-Studium erfolgreich absolvieren zu können. Die scheitern aber mit schöner Regelmäßigkeit schon an den ersten Klausuren, wenn sie die notwendige Grundbegabung für das juristische Denken nicht mitbringen. Und diese kann man auch nur sehr beschränkt lernen, wenn sie einem nicht von Hause aus gegeben ist und liegt. Denn der Gegenstand von Klausuren und Hausarbeiten ist ganz regelmäßig eine Aufgabenstellung, die in den entscheidenden Details oder sogar komplett so gerade noch nicht in den Vorlesungen behandelt wurde. D.h. da gab es dann regelmäßig noch gar nichts, das man anhand der Vorlesungen hätte auswendig lernen können. Du musst vielmehr zunächst mal den Sachverhalt in rechtlich ggf. relevante Aspekte zerlegen. Dann mit dem groben Wissen, was es „alles so gibt“ bzw. wo man findet, was es alles so gibt einige Versuchsballons im Sinne von: „Könnte passen“ anhand der Tatbestandsmerkmale starten, indem du untersuchst, ob Du die matchen kannst, und gehst ggf. dann zum nächsten Thema, wenn es nicht passt.
So kann es Dir dann passieren, dass sich schon die erste Hausarbeit im bürgerlichen Recht um ein Preisausschreiben dreht, obwohl Du im Studium vorher noch nie etwas vom Begriff der Auslobung gehört hast, oder dass Du Dich in einer Klausur im öffentlichen Recht plötzlich einem Detailproblem des Gaststättenrechts gegenüber siehst, obwohl man sich noch nie auch nur ansatzweise in den Vorlesungen mit dem Gaststättengesetz auseinander gesetzt hat. D.h. da geht es zu 99% um Methodenkompetenz, wie man sich einen Sachverhalt in einem ggf. vollkommen unbekannten Rechtsgebiet so erarbeitet, dass man zu einem handwerklich vertretbaren Ergebnis kommt und nicht ein wichtiges Tatbestandsmerkmal übersieht und damit ggf. schon gleich zu Anfang der Prüfung „falsch abbiegt“, wie es einigen Kommilitonen in der mündlichen Examens-Prüfung im Strafrecht passierte, die sich auf das eigentlich bekannte Glatteis des so genannten „Bankraubs“ ziehen ließen und einen Raub tatbestandlich durchprüften, anstelle einer räuberischen Erpressung die regelmäßig in solchen Fällen tatsächlich vorliegt (Bankmitarbeiter händigt selbst Geld aufgrund von „Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ aus, anstelle von Wegnahme des Geldes durch den Täter).
Aber man kann mit auswendig lernen bzw. der Erinnerung an Gelesenes natürlich auch durchaus mal im Einzelfall Glück haben: In der Prüfung im öffentlichen Recht des selben Examens gab es die Frage, wie man rechtlich eine neu in einem Fluss entstehende Insel einer Gebietskörperschaft zuordnen könnte. Allgemeine Verzweiflung bei den Kommilitonen. Ich hingegen hatte am Vortag bei einem letzten Gang durch die aktuellen Ausgaben der von Prüfern gerne genutzten Zeitschriften ganz am Ende einige nur zusammen getackerte Blätter in die Hand genommen: „Niedersächsische Rechtspflege“. Darin gab es einen kurzen Beitrag, wie durch ein „rein formelles Gesetz“ ein bislang bundesunmittelbarer Truppenübungsplatz nach Aufgabe durch die Bundeswehr verteilt worden war, und die Definition des nur formellen Gesetzes hatte mir der Beitrag auch noch mal in Erinnerung gerufen.