Rilkes 'Herbsttag' rezitieren

Guten Tag zusammen.

Ich bin darum gebeten worden, anlässlich einer Beerdigung das Rilke-Gedicht „Herbsttag“ zu rezitieren.

Herbsttag

_Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben._

Was mir Bauchschmerzen macht ist der Doppelpunkt in der ersten Zeile. Stünde dort ein Komma oder Semikolon, hätte ich kein Problem. Aber wie ist der Doppelpunkt zu verstehen? Zur Verdeutlichung einer Anrede ist (m)eine Vermutung. Die ersten beiden Strophen sind ja sowas wie ein Anliegen oder verschärft gesagt: fast eine Anweisung, wobei die letzte Strophe die Vergänglichkeit, das Ende formuliert.

Rilke war nach meinem bisherigen Wissen nicht besonders religiös, jetzt lese ich aber bei Wiki folgenden (für mich etwas widersprüchlichen) Satz
Beeinflusst durch die Philosophen Schopenhauer und vor allem Nietzsche, deren Schriften er früh kennengelernt hatte, ist Rilkes Werk geprägt durch eine scharfe Kritik an der Jenseitsorientierung des Christentums und an einer einseitig naturwissenschaftlich-rationalen Weltdeutung.

Versteht ihr das Gedicht auf einem religiösen Duktus beruhend oder ist die Religiosität, die aufgrund der Anrede „Herr“ gegeben scheint, eher als Metapher zu deuten?

Wäre Euch für Eure Interpretation dankbar. Vor allem auch darüber, wie ihr dieses „Herr“ in der Betonung seht! Verzweifelt oder geläutert, fordernd oder quängelnd oder, oder, oder …

Gruß,
Anja
die bisher nicht wusste, wieviel Kopfzerbrechen einem ein Doppelpunkt machen kann.

Hi, Anja,
es ist offensichtlich, die beiden ersten Strophen klingen nicht nur wie ein Gebet, sie sind auch eine Bitte an einen - wie auch immer vorstellbaren - Allmächtigen, denn wer sollte sonst das Wetter steuern?
Lies den blöden Doppelpunkt einfach wie ein Komma.

Ganz abgesehen mag ich dieses Gedicht. es gibt nur wenige, die ein stärkeres Herbstgefühl vermitteln.
Blah

Hallo Anja,

wie ist der Doppelpunkt zu verstehen? Zur
Verdeutlichung einer Anrede ist (m)eine Vermutung.

genau so sehe ich das auch.

Praktisch bedeutet das für die Rezitation (so, wie ich persönlich sie anlegen würde), dass das „Herr“ etwas stärker betont wird und die Zäsur danach ein wenig länger ist als man es lesen würde, wenn dort nur ein Komma stünde.

Versteht ihr das Gedicht auf einem religiösen Duktus beruhend
oder ist die Religiosität, die aufgrund der Anrede „Herr“
gegeben scheint, eher als Metapher zu deuten?

Ich verstehe es als Andeutung naiver, bäuerlich-erdverbundener Religiosität. Nicht, dass ich diese nun Rilke unterstellen würde - die ‚Naivität‘ des unmittelbaren Ansprechens eines göttlichen Dialogpartners ist durchaus kalkuliertes Stilmittel, gewissermaßen eine romantische Regression, die freilich im Folgenden ‚gebrochen‘ wird.

Verzweifelt oder geläutert, fordernd oder quängelnd oder,
oder, oder …

affirmativ, würde ich sagen. Gelassene Ergebung in den unvermeidlichen Lauf der Dinge.

Freundliche Grüße,
Ralf