Schöne Worte oder Quatsch?

Hy

Ich habe letztens auf ner Einladungs-Karte für ne Hochzeit so nen süßen Spruch gelesen.

Die letzten Worte sind:

…immer wieder Neues in dir zu entdecken, damit du werden kannst, der du bist.

Ich weiß allerdings nicht, ob das irgendwo „abgeschrieben“ (weil bekannt) ist (Kannte den Text nicht) oder ob die das selber erfunden haben.

Mir gehts um die letzten Worte: Man kann doch nicht etwas (noch) werden, was man schon längst ist…
Ist das nun einfach widersinnig oder ??

Gruß
Kathrina

Hallo Katharina!

Ich weiß allerdings nicht, ob das irgendwo „abgeschrieben“
(weil bekannt) ist (Kannte den Text nicht) oder ob die das
selber erfunden haben.

Wenn Du „immer wieder Neues in dir zu entdecken, damit du werden
kannst, der du bist.“
bei Google eingibst, dann findest Du eine Seite mit Trauverprechen (http://www.ref-kirche-ins.ch/leben/trauversprechen.pdf ; PDF-Datei). Der vollstaendige Satz lautet dort: „Ich vertraue darauf, dass meine Nähe Dich dazu bewegt, immer wieder Neues in Dir zu entdecken, damit Du werden kannst, der Du bist.“

Mir gehts um die letzten Worte: Man kann doch nicht etwas
(noch) werden, was man schon längst ist…
Ist das nun einfach widersinnig oder ??

Naja, viele Gedichte, Sprueche und aehnliches sind doch schnoerkelig und/oder himmlisch romantisch ausgedrueckt. :smile: Ob man das schoen oder als Quatsch empfindet ist doch sehr subjektiv. Meiner Meinung nach soll der Spruch hier bedeuten, dass man eigene Staerken, Schwaechen, weitere Charaktereigenschaften usw. an sich entdeckt, deren Vorhandensein man sich zuvor nicht bewusst war … die aber schon in der Person vorhanden waren ("…der Du bist.") und die man dann vielleicht zukuenftig auch bewusst verwendet ("…damit Du werden kannst.").

Soweit meine Interpretation. Bin gespannt auf weitere Meinungen.

Viele Gruesse,

Marcus

[Bei dieser Antwort wurde das Vollzitat nachträglich automatisiert entfernt]

Servus,

Mir gehts um die letzten Worte:

die hat in dieser oft zitierten Form Nietzsche geschrieben.

Man kann doch nicht etwas
(noch) werden, was man schon längst ist

Das grad nicht, aber man kann werden, was man ist, indem man sich ständig neu entwirft, den eigenen Entwurf ständig neu entwickelt, jeden Morgen mit einem neuen Geist wach wird.

Schon längst: Bin ich jedenfalls nicht. Aber dabei immer der Gleiche gewesen - ziemlich oft aufs Neue, manchmal neu.

Schöne Grüße

MM

Hallo Kathrina,

Mir gehts um die letzten Worte: Man kann doch nicht etwas
(noch) werden, was man schon längst ist…
Ist das nun einfach widersinnig oder ??

Auflösung des Widersinns von „werde, der du bist“:

„…der du bist“ bedeutet: nicht gelebte Neigungen, bisher nicht entwickeltes Potential, die einem innewohnenden Möglichkeiten.

„werde…“ bedeutet: dieses Potential zu entdecken, zu entwickeln und nach außen sichtbar zu machen.

Es werden in diesem Satz zwei Bedeutungsebenen vermischt (du bist einerseits, was du faktisch darstellst - und du bist anderseits das in dir noch unerweckte Mögliche), und so eine Paradoxie (Scheinwiderspruch) erzeugt.

In paradoxienfreies Deutsch übersetzt heißt das: Entdecke dein Potential und entwickle es, oder: mache es dem Möglichen Wirklichkeit. So klingt es dann irgendwie banaler.

Ich glaube, auch manche Witze funktionieren nach diesem Prinzip, mir fällt jetzt aber keiner ein.

Grüße,

I.

werde, der du bist
Hi Kathrina,

…immer wieder Neues in dir zu entdecken, damit du werden kannst, der du bist.

Wie dieser traditionelle Satz eines Treuversprechens komplett lautet, hat Marcus ja schon zitiert.

Er baut auf einem Zitat des griech. Dichters Pindar (*522 +445 v. Chr.) auf. In den Epinikeia („Siegeroden“, oder auch „Pythische Gesänge“) 2.72 heißt es:

γένοι΄ οίος εσσί μαθών
génoi’ hoíos essí mathón
werde, der du bist, lernend

Bekannt geworden ist der Satz durch die erste deutsche Pindar-Übersetzung von Hölderin. Nietzsche handelt darüber an mehreren Stellen. Die autobiografischen Fragmente „Ecce Homo“ haben den Untertitel „Wie man wird, was man ist“ und in „Die fröhliche Wissenschaft“ (III, 270) steht die Frage:

Was sagt dein Gewissen? - „Du sollst der werden, der du bist“

Der Grundgedanke, der bei Pindar, Plato, Goethe, Hölderlin, Hegel, Schelling, Nietzsche und vielen anderen Philosophen eine herausragende Rolle spielt, wurde hier schon angedeutet: Das „Selbst“ ist identisch mit sich nur „an sich“ (oder „eigentlich“). Es ist darin aber nur eine Grenze, die es permanent zu überschreiten gilt: Das ist das Anders-Werden, Ver-Anderung, die Veränderung, die Ver- oder Entäußerung. Es ist also keine abgeschlossene, statische, feste Größe, sondern „besteht“ in einer permanenten Bewegung des Anderswerdens. Erst durch das Anderswerden wird das Selbst selbst: Es „kommt zu sich“. Diese Bewegung kommt aber idealerweise nie zum Stillstand.

Einen ganz ähnlichen Hintergrund hat der Satz des Mystikers Angelus Silesius:
„Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“

Diese Bewegung der Selbst-Veranderung, für die wir seit Hegel den Begriff der Entwicklung haben, hat zwei „Momente“ (Bewegungsgrößen): Das eine Moment ist das eigene Potential (die „Möglichkeiten“), das zur Verwirklichung (d.h. zur Veräußerung) drängt. Das andere Moment besteht in der Herausforderung durch den Anderen, überhaupt durch die Umgebung, die die Anstöße liefert: Die Wechselwirkung.

Wenn dir dies - zu Recht - paradox vorkommt, dann denk an das Samenkorn, das auch nur „an sich“ der Baum ist, zu dem es erst werden muß. Er wird erst, was er wesentlich ist. Und dazu trägt sowohl sein eigenes Potential bei, als auch die Wechselwirkung („Stoffwechsel“) mit der Umgebung.

Gruß

Metapher

Für alle Antworter
*wink*

Danke für eure netten und einleuchtenden Erklärungen :smile:

Jetzt macht das ganze natürlich viel mehr Sinn~

Danke euch!
Kathrina

Großartig!
Hallo Metapher!

Texte wie diese sind es, die das www-Forum zu dem machen, was es ist.

Danke für die wunderbare Erklärung,

Angelika

Hallo Marcus,

Wenn Du „immer wieder Neues in dir zu entdecken,
damit du werden
kannst, der du bist.“
bei Google eingibst, dann
findest Du eine Seite mit Trauverprechen
(http://www.ref-kirche-ins.ch/leben/trauversprechen.pdf ;
PDF-Datei). Der vollstaendige Satz lautet dort: „Ich
vertraue darauf, dass meine Nähe Dich dazu bewegt, immer
wieder Neues in Dir zu entdecken, damit Du werden kannst, der
Du bist.“

Typisch, dass der Quatsch aus der kirchlichen Ecke kommt und in Verbindung mit heterosexuellen Eheschließungen gebraucht wird:

http://www.bibleserver.com/index.php?text_navigation…

Das entlarvte auch Luise Pusch schon 1982 in ihrer Glosse „Wir Männschen“:

»Ein Mensch ohne Frau ist eigentlich kein Mensch«, so heißt es im Talmud, Frauen, die bloß einen Mann aufweisen können (das reicht anscheinend nicht zur Menschwerdung), werden aus der Klasse der Menschen hinausdifiniert.

http://www.djk.de/1_wir_ueber_uns/6_frauen/schmunzel…

Zu ergänzen wäre, dass diese „Entmenschung“ natürlich auch Männer betrifft, die bloß einen Mann aufweisen können, ebenso wie Frauen, die bloß eine Frau aufweisen können und Alleinstehende unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung.

Gruß Gernot