Schopenhauer und die Willensfreiheit

Hallo,

vor einiger Zeit habe ich, neugierig geworden durch das Buch ‚Vom Nutzen der Nachdenklichkeit‘ die meisten Werke von Arthur Schopenhauer gelesen, u.a. seine Preisschrift ‚Über die Freiheit des menschlichen Willens‘. Seine dort und teilweise auch in seinen anderen Werken vorgetragenen Lösung des Problems der Willensfreiheit hat mich stark beeindruckt und eigentlich auch überzeugt. Was meint Ihr? Ist die philosophische Frage nach der Willensfreiheit damit gelöst oder habe ich mich blenden lassen?

Martin

Hallo Martin

Das Problem ist nicht geloest.

Eine etwas moderne Variante als die Schopenhauers findest du hier:
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…

Da habe ich meine Ansichten mit einem anderen w-w-w-user diskutiert.

Gruss, Tychi

[Bei dieser Antwort wurde das Vollzitat nachträglich automatisiert entfernt]

vor einiger Zeit habe ich, neugierig geworden durch das Buch
‚Vom Nutzen der Nachdenklichkeit‘ die meisten Werke von Arthur
Schopenhauer gelesen, u.a. seine Preisschrift ‚Über die
Freiheit des menschlichen Willens‘. Seine dort und teilweise
auch in seinen anderen Werken vorgetragenen Lösung des
Problems der Willensfreiheit hat mich stark beeindruckt und
eigentlich auch überzeugt. Was meint Ihr? Ist die
philosophische Frage nach der Willensfreiheit damit gelöst
oder habe ich mich blenden lassen?

Hallo Martin

Wenn Du so fragst, wirst Du hier nur von denen eine Antwort bekommen, die diese Schrift kennen.

Vielleicht wäre es besser, Du würdest versuchen in wenigen Worten zu beschreiben, worin denn nun Schopenhauers Lösung eigentlich besteht. Dann könnte man darüber etwas philosophieren :smile:

gruß
rolf

Hallo Martin,

hältst du die Trennung von empirischem und intelligiblem Charakter wirklich für überzeugend? Aus meiner Sicht ist das ein Taschenspielertrick. Wie kann man denn seinen intelligiblen Charakter bestimmen? Doch nur induktiv - und damit ist die Begründung empirisch, also gerade nicht intellektuell, oder? Was spricht deiner Meinung nach für die Richtigkeit des Ansatzes?

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas,

ich würde gerne auf Dein Posting antworten, weil ich hier entweder etwas anderer Meinung bin oder aber Deines missverstanden habe:

meines Erachtens geht Schopenhauer in der Frage der Freiheit des Willens Kants Antinomienlehre nach, indem er diese Frage zu einem „Scheinproblem“ erklärt, das einer ungenügenden Differenzierung von „Ding an sich“ und „Erscheinung“ geschuldet ist; (ich weiß nicht, ob der späte Schopenhauer selbst die Differenz empirisch/intelligibel verwendet oder ob dies Deine Differenz ist)

hältst du die Trennung von empirischem und intelligiblem
Charakter wirklich für überzeugend? Aus meiner Sicht ist das
ein Taschenspielertrick. Wie kann man denn seinen
intelligiblen Charakter bestimmen? Doch nur induktiv - und
damit ist die Begründung empirisch, also gerade nicht
intellektuell, oder?

Schopenhauers Erklärung in „Die Welt als Wille und Vorstellung“ geht so: Der Wille als An-Sich ist grundlos, also nicht dem Satz vom Grunde (Kausalität als Grundform der Erscheinung bei Schopenhauer!) unterworfen; nun ist die Meinung, dass der menschliche Wille frei wäre, eine falsche Analogisierung mit der Grundlosigkeit des Willens; übersehen wird dabei, dass der menschliche Wille bereits und immer nur als Erscheinung vorliegt, damit aber dem Satz vom Grunde unterworfen ist, damit in seinem Notwendigkeits-Zusammenhang betrachtet werden muss.

Ich denke, dass wir an dieser Stelle noch einer Meinung sein werden, entscheidend ist die Interpretation: Meines Erachtens hat dies nichts „Taschenspielertrick“-Artiges, die Induktionsproblematik ist dabei nicht berührt; stattdessen muss der Wille-als-Erscheinung als unfrei betrachtet werden, kann gar nicht anders betrachtet werden, weil der Satz vom Grunde „allgemeine Form aller Erscheinung“ ist; damit muss der Wille immer in seiner kausalen Motivierung verstanden werden, kann so unmöglich frei sein; dennoch aber ist er frei, nicht weil er an irgendeiner Stelle unmotiviert wäre, sondern weil die Motivierung selbst, also der Grund-Charakter nicht in „Erscheinung“ tritt, damit dem Satz vom Grunde nicht unterworfen werden kann.

Meine „psychologische“ Konsequenz daraus wäre nun, dass der Wille retrospektiv immer als unfrei erscheinen muss, weil er so nur als „Erscheinung“ gedacht werden kann, dass er aber prospektiv nicht als unfrei/determiniert gedacht werden kann, weil wir nur von seiner „erscheinenden“ Determinierung ausgehen können, nicht aber von einer Determinierung-an-sich. Dies scheint mir sehr wohl eine nicht uninteressante Betrachtungsweise zu sein.

Die von Dir angeführte Schopenhauersche „Begründung“ halte ich nun also nicht für „empirischer“ als die Kantsche Trennung von Ding an sich und Erscheinung.

Viele Grüße
franz

Hallo Martin,

hältst du die Trennung von empirischem und intelligiblem
Charakter wirklich für überzeugend?

Hallo Thomas,

die Trennung von intelligiblem und empirischem Charakter geht, so weit ich mich erinnere, nicht auf Schopenhauer sondern auf Kant zurück, und sie spielt, soweit ich das beurteilen kann, in Schopenhauers Texten zur Willensfreiheit nicht die zentrale Rolle.

Gruß

Martin

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Hallo Martin

Wenn Du so fragst, wirst Du hier nur von denen eine Antwort
bekommen, die diese Schrift kennen.

Hallo rolf,

Du hast natürlich recht. Ich habe gehofft, in diesem Forum auch auf Schopenhauer-Experten zu treffen.

Vielleicht wäre es besser, Du würdest versuchen in wenigen
Worten zu beschreiben, worin denn nun Schopenhauers Lösung
eigentlich besteht. Dann könnte man darüber etwas
philosophieren :smile:

Leider kann ich Schopenhauers Ansichten über den Willen und seine Freiheit oder Unfreiheit nicht in wenigen Worten zusammenfassen. Wenn ich das mit eigenen Worten versuche, verliert die Sache für mich selbst an Überzeugungskraft. Daher meine Frage, ob ich mich vielleicht von glänzenden Formulierungen blenden lasse.

Gruß

Martin

Hallo Martin,

die Trennung von intelligiblem und empirischem Charakter geht,
so weit ich mich erinnere, nicht auf Schopenhauer sondern auf
Kant zurück,

das ist richtig, aber Schopenhauer übernimmt sie im Prinzip (§ 20 der zweiten Preisschrift, klarer noch ablesbar in den Vorlesungen).

und sie spielt, soweit ich das beurteilen kann, in Schopenhauers
Texten zur Willensfreiheit nicht die zentrale Rolle.

Wenn du die erste Preisschrift allein liest, ist das richtig, aber da du nicht gesagt hast, dass du dich darauf beschränken möchtest, nahm ich an, dass du sie im Zusammenhang mit der zweiten liest (was ich für die einzig richtige Vorgehensweise halte).

Ich werde gleich in der Antwort auf Ben noch näher darauf eingehen. Bitte lies meine Antwort an ihn, wenn ich sie gepostet habe.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

induktive Metaphysik, Charakter bei Kant
Hallo Franz,

in WWV und schon vorher in der Diss. charakterisiert Sch. den intellig. Charakter als außerhalb der Zeit liegend, als Ding an sich. Der empirische Charakter ist daher unfrei, der intelligible frei. Der intellible Charakter wird durch Induktion erkannt, ist aber selbst nie Objekt. Das hat mit Poppers Induktionskritik zunächst erst einmal nichts zu tun, die Vorgehensweise Schopenhauers nennt man „induktive Metaphysik“, wie man sie auch später bei Lotze etc. findet: Von Erscheinungen wird auf deren Grund geschlossen. Ansonsten bin ich mit deiner Schopenhauerdeutung (so wie er sich selbst versteht) weitgehend einverstanden.

Die von Dir angeführte Schopenhauersche „Begründung“ halte ich
nun also nicht für „empirischer“ als die Kantsche Trennung von
Ding an sich und Erscheinung.

Das verstehe ich nicht ganz. Worauf beziehst du dich? Schopenhauers Begründung ist nicht empirisch.

Übrigens halte ich die Trennung in intelligiblen und empirischen Charakter auch bei Kant für falsch, aber das wäre wohl ein neues Thema. Das hängt damit zusammen, dass ich schon den systematischen Grundgedanken der KpV, die die Vorgehensweise der KrV umkehrt, für falsch halte. Ich denke aber, dass meine Kritik an Kant hier zu weit führen würde.

Um aber noch einmal auf Schopenhauer zurückzukommen: Seine Verlagerung des Dinges an sich auf den (freien und wilden) Willen ist die eigentlich Crux aus meiner Sicht, jedenfalls in Bezug auf die Problematik der Willensfreiheit. Ich bin übrigens weit davon entfernt, den freien Willen für beweisbar zu halten. Schopenhauer hat insofern Recht, als er das Tun im Rahmen des Wollens für frei hält, das Wollen selbst (im empirischen Sinn) aber nicht. Daraus folgt aber gerade bei ihm eigentlich, dass auch der intelligible Charakter unfrei sein müsste, was er aber ja bestreitet (s. o.). Denn wenn schon der Wille bloß induktiv erkannt wird, dann natürlich dessen Freiheit sowieso. Oder siehst du das anders?

Herzliche Grüße

Thomas

Hallo Thomas,

in WWV und schon vorher in der Diss. charakterisiert Sch. den
intellig. Charakter als außerhalb der Zeit liegend, als Ding
an sich. Der empirische Charakter ist daher unfrei, der
intelligible frei.

Ok; da hatte ich Dein knappes Ausgangsposting nur missverstanden.

Der intellible Charakter wird durch
Induktion erkannt, ist aber selbst nie Objekt.

… weshalb er eben auch nie als solcher erkannt wird, es sei denn als empirischer intelligibler Charakter.

die Vorgehensweise Schopenhauers nennt man „induktive
Metaphysik“, wie man sie auch später bei Lotze etc. findet:
Von Erscheinungen wird auf deren Grund geschlossen.

Soweit ich die induktive Metaphysik bei Lotze, Fechner, etc. kenne, geht es dort darum, aus beobachtbaren Aussagen (deren Geltung auf Induktionsschlüssen ruht) metaphysische Aussagen „herzuleiten“; dieses Herleiten hat natürlich nichts mit Induktion zu tun, sondern mit Analogisierung, Probabilismen, etc. Ein solches Vorgehen erkenne ich bei Schopenhauer nicht, weil bei ihm klar ist, dass wenn „von Erscheinungen auf deren Grund geschlossen wird“, dieser Grund der Grund der Erscheinung ist, und das im doppelten Sinne; der Grund also selbst nur Erscheinung ist, erscheinender Grund.

Die von Dir angeführte Schopenhauersche „Begründung“ halte ich
nun also nicht für „empirischer“ als die Kantsche Trennung von
Ding an sich und Erscheinung.

Das verstehe ich nicht ganz. Worauf beziehst du dich?
Schopenhauers Begründung ist nicht empirisch.

Da habe ich Dich auch missverstanden. Ich wollte damit auch nur ausdrücken, dass Schopenhauers Willensfreiheitsproblem eben genau der Kantschen Leitlinie von Ding an sich/Erscheinung entlang strukturiert ist.

Um aber noch einmal auf Schopenhauer zurückzukommen: Seine
Verlagerung des Dinges an sich auf den (freien und wilden)
Willen ist die eigentlich Crux aus meiner Sicht, jedenfalls in
Bezug auf die Problematik der Willensfreiheit.

Stimme ich völlig zu, wobei ich diese Crux nicht nur in Bezug auf die Willensfreiheit sehen würde (übigens ist „frei“ und „wild“ natürlich zu viel ausgesagt über den Willen; er ist ja nicht frei i.S. von nicht-notwendig, sondern frei i.S. von nicht-notwendig/frei)

Ich bin
übrigens weit davon entfernt, den freien Willen für beweisbar
zu halten.

Schopenhauer hat ja gerade die Unbeweisbarkeit der Freiheit des Willens gezeigt, ohne dabei aber zugleich dessen Unfreiheit beweisen zu wollen

Schopenhauer hat insofern Recht, als er das Tun im
Rahmen des Wollens für frei hält, das Wollen selbst (im
empirischen Sinn) aber nicht. Daraus folgt aber gerade bei ihm
eigentlich, dass auch der intelligible Charakter unfrei sein
müsste, was er aber ja bestreitet (s. o.). Denn wenn schon der
Wille bloß induktiv erkannt wird, dann natürlich dessen
Freiheit sowieso. Oder siehst du das anders?

Hier verstehe ich Deinen leider Punkt nicht ganz. Sehr knapp gesagt: Schopenhauer erkennt die Unfreiheit des (erscheinenden) Willens in dessen Unterworfenheit unter den Satz vom Grunde (=Erscheinung); die Schlußfolgerung, dass der Wille (an sich) frei wäre, ergibt sich aus der Erkenntnis, dass dieser dem Satz vom Grunde nicht unterworfen ist, damit aber „frei“ ist im Sinne von non-frei/notwendig, nicht im Sinne von non-notwendig. (der Gegenbegriff ist also das entscheidende)
Wenn Du sagst, dass eigentlich der intelligible Charakter unfrei sein müsse, dann wäre dies aus meiner Sicht richtig, wenn Schopenhauer tatsächlich an dieser Stelle induktive Metaphysik à la Lotze, etc. betrieben hätte; darum geht es meines Erachtens hier aber nicht.

Viele Grüße
franz

P.S. Ich vermute stark, dass unser Dissens hier in erster Linie meinem Missverstehen Deines Ausgangspostings geschuldet war/ist

Hallo Franz,

Soweit ich die induktive Metaphysik bei Lotze, Fechner, etc.
kenne, geht es dort darum, aus beobachtbaren Aussagen (deren
Geltung auf Induktionsschlüssen ruht) metaphysische Aussagen
„herzuleiten“; dieses Herleiten hat natürlich nichts mit
Induktion zu tun, sondern mit Analogisierung, Probabilismen,
etc. Ein solches Vorgehen erkenne ich bei Schopenhauer nicht,
weil bei ihm klar ist, dass wenn „von Erscheinungen auf deren
Grund geschlossen wird“, dieser Grund der Grund der
Erscheinung ist, und das im doppelten Sinne; der Grund also
selbst nur Erscheinung ist, erscheinender Grund.

das ist richtig, ich sehe die Ähnlichkeit darin, dass auch Schopenhauer häufig analogisiert statt argumentiert.

diese Crux nicht nur in Bezug auf die Willensfreiheit

Ganz einverstanden (das sage ich als Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft *g*).

P.S. Ich vermute stark, dass unser Dissens hier in erster
Linie meinem Missverstehen Deines Ausgangspostings geschuldet
war/ist

So ist es.

Herzliche Grüße

Thomas

Hallo,

jetzt habe ich doch noch die angeregte Expertendiskussion bekommen, die ich mir gewünscht hatte. Vielen Dank an alle Teilnehmer,

Martin