Re: Keine Angst vor dem Sterben 
Hallo Metapher,
freut mich, daß der Thread an dieser Stelle metaphorische Qualitäten annimmt 
zur Sache:
In der Tat: Die bewußte Wahrnehmung von Sinnesreizen scheint bei elektrisch aktivem Gehirn auf die Reichweite unserer Sinnesorgane beschränkt zu sein. Bei zunehmender Funktionseinschränkung scheint die Wahrnehmung dann aber über diesen Aktionsradius hinausgehen zu können. Dabei ist es wohl irrelevant, ob diese Störung durch auf Sauerstoffmangel beruht oder chemischer oder elektrischer Natur ist (Drogen bzw. Elektroden). Bedenke zu letzterem, daß ein Computer abstürzt, wenn Du inadäquate Impulse auf seine Ports gibst - obwohl es auch bloß Strom ist, ohne den der Rechner ja eigentlich gar nicht erst funktionieren würde.
Das ganze nocheinmal anders, auf Deinen entsprechenden Punkt eingehend:
Wenn solches „Bewußtsein“ [im Sinne obiger „erweiterter
Wahrnehmung“] sein kann ohne elektrische Gehirnaktivität, dann
ist es offenbar von ebendieser unabhängig. Dann müßte es auch
dann sein, wenn das Gehirn elektrisch aktiv ist.
Wenn das Organ elektrisch aktiv ist, kommt es ja gar nicht zu erweiterten Sinneswahrnehmungen. Stattdessen kommt es nur dann zur erweiterten Wahrnehmung…
wenn das Gehirn elektrisch inaktiv ist, [weshalb] es offenbar
doch an eine physiologische Bedingung gekoppelt [ist]… und
zwar an eine, die :durch elektrische Inaktivität erzeugt wird…
…richtig, Inaktivität als hinreichendes, aber (!) nicht unbedingt notwendiges Ereignis (dazu später mehr).
Könnte es […] sein, daß diese Wahrnehmungen nicht
solche „trotz inaktiven Gehirns“ sind, sondern vielmehr
des „gerade wieder :aktivwerdenden“ Gehirns?
Das liefe, pathopsychologisch ausgedrückt, auf eine retrograde Amnesie während der Zeit des Hirnausfalls hinaus, die dann später durch konfabulationsähnliche Scheinerinnerungen ausgefüllt wird - welche der Patient für echt hält.
In diesem Falle dürften aber - und soviel ist klar - die dem Patienten „erinnerliche“ Ereignisse jedoch nicht denen der Realität entsprechen.
Hier findet man jedoch - und das ist jetzt der erste entscheidende Punkt - in der Literatur gegenteilige Hinweise, wie z.B. bei van Lommel et al. (The Lancet 2001, 358:2039-45). Van Lommel berichtet von einer Intensivschwester seiner Abteilung, welche bei einer Reanimation das Gebiß des Patienten herausnahm und später vergaß, wo sie es deponiert hatte. Später auf Station erkannte der damals klinisch tote und zunächst wohl weiterhin zahnlose Patient nicht nur die Krankenschwester wieder (Quasi: „He fie, fie haffen mir doch mein Gebiff geklaut!“), sondern er konnte dem Gedächtnis der Schwester auch noch auf die Sprünge helfen („Fie haben es auf den kleinen Wagen mit den Fubladen gelegt!“). Der Patient verließ später die Klinik als gesundeter Mensch, inklusive Gebiff.(1)
Der (zwangsläufig!) erzählungshafte und von mir anekdotisch verbrämter Charakter solcher Berichte sollte angesichts der hohen Vertrauenswürdigkeit der angegebenen Literaturreferenz nicht stören.
Das ganze mag nun dadurch erklärbar sein, daß der Patient erstens die Augen vielleicht doch nicht ganz geschlossen hatte und zweitens das Geschehen hinter ihm sich in den Brillengläser des sich über ihn beugenden Doktors spiegelte. Nun weiß man aber aus den bereits genannten Zwischenfällen aus neurochirurgischen OPs, daß eben jene Rindenareale, die zwingend notwendig sind für die (hier: optische) Reizverarbeitung, elektrisch stumm waren (2). Dies ist der zweite entscheidende Punkt.
Beide entscheidene Punkte zu einem zusammengefaßt:
Auch bei einem elektrisch stummen Gehirn findet eine Aufnahme und Speicherung realer Informationen statt. Diese Informationen müssen zudem die dem Gehirn vorgeschalteten Sinnesorgane gar nicht erst erreicht haben.
Klingt sensationell, aber bei genauem Hinsehen eigentlich sehr zurückhaltend formuliert. Ich treffe noch nicht einmal eine Schlußfolgerung, sondern beschreibe lediglich die Meßergebnisse.
Es bieten sich (einige Punkte teils von Dir, teils von Sven aufgreifend) einige Erklärungsmöglichkeiten an:
1. "Einige Neuronen waren in Wirklichkeit noch elektrisch aktiv, aber nicht genug, um dies Messen zu können- trotz Oberflächenableitung."
Bei Untergang von Neuronen vermindern sich zuerst und recht früh die Gedächtnisleistung, insbesondere die Aufnahme von Inhalten für länger als 15 Minuten (Nahtodeserlebnisse wären sofort wieder vergessen), das Abrufen von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis und die komplexe Reizverarbeitung (Reize erreichen oft nicht das Bewußtseinsniveu). Mit einzelnen, versprengten Neuronen wären kaum so hochassoziative Leistungen zu erreichen wie das nochmalige Abspulen des gesamten bisherigen Lebens (Langzeitgedächtnis - man muß schon bei der Frage ansetzen, wie das gesamte Leben im - sicher irgendwo auch physikalisch-platzmäßig limitierten Gehirn - überhaupt gespeichert werden könnte…). Darüber hinaus muß man ganz einfach sehen, daß Hirnleistung auf Kommunikation von Zellen (auch und im wesentlichen) über zwischengeschaltete Zellen funktioniert. Wenn 99% dieser Relaisstationen ausfallen, funken nur noch einzelne isolierte Zellen nutzlos vor sich hin.
2. "Bewußtsein und Wahrnehmung sitzen außerhalb der Großhirnrinde."
Wenn ja, wo? Es gibt kein Organ, welches nicht irgendwie erkranken könnte - oder welches ein Chirurg nicht einmal irgendwann entfernt hätte. Nur die Kompromittierung der Großhirnrinde geht mit dem einher, was sich nach außen hin als „Individualtod“ äußert.
3. "Das Gehirn funktioniert im wesentlichen chemisch und nicht elektrisch; und Sabom et al. (2) dokomentierten lediglich eine nicht vorhandene elektrische Aktivität, nicht aber die Abwesenheit chemischer Vorgänge."
Der Ädaquate Reiz für das Nervensystem ist ein elektrischer. Die elementare Funktion einer jeden Sinneszelle ist die Umsetzung von Reizen in elektrische Impulse. Werden die von der Sinneszelle abgehenden Nerven elektrisch stimuliert, so ist die Empfindung identisch mit derjenigen einer normalen Reizung - z.B. ein Lichtpunkt oder ein Ton. Ebenso ist der „Output“ des Nevensystems elektrisch. Die motorische Endplatte am Muskel beschäftigt sich ausschließlich mit der Umsetzung elektrischer Impulse in chemische, welche von kontraktilen Muskelelementen „verstanden“ werden. Wäre die meßbare elektrische Aktivität des Gehirns lediglich ein Epiphänomen chemischer Vorgänge, so gäbe es in den Nervenzellen nicht ganz explizite Moleküle und Organellen, deren ausschließliche Funktion die Generierung und Weiterleitung elektrischer Impulse wäre. Das ganze ist nicht zuletzt recht energieintensiv - für ein Epiphänomen letztlich von evolutionärem Nachteil.
Welchen Sinn erfüllen die dicke Fettschichen (Myelinscheiden) um die Nervenzellausläufer herum wenn nicht den einer elektrischen Isolierung? Warum mißt man zur Diagnose einer Epilepsie das „elektrisches Gewitter“ im EEG, nicht aber erhöhte Konzentrationen chemischer Botenstoffe z.B. im Blut?
Freilich gibt es in den Synapsen Neurotransmitter. Diese werden aber nicht binnen Millisekunden im langen Zellausläufer transportiert, sondern sind am Zellende lokalisiert und werden auf einen elektischen Reiz hin ausgeschüttet. Technisch wäre so ein schneller Vesikeltransport wohl auch gar nicht so ohne weiteres realisierbar.
Lange rede, kurzer Sinn: Klar sagen kann man, daß die komplexen Vorgänge im Gehirn zu ganz wesentlichen Teilen elektrischer Natur sind.
Ganz abgesehen davon, daß beim Sistieren der Sauerstoffzufuhr die chemischen genauso wie die elektrischen zum erliegen kommen sollten.
Daher ist eigentlich m.E. nur eine Schlußfolgerung wirklich sinnvoll: Bewußtsein und Sinneswahrnehmungen sind nicht an ein funktionierendes Gehirn gebunden, und damit - jedenfalls bei Hirnausfall - womöglich auch nicht an den geographischen Aufenthaltsort des Komplexes aus Sinnesorgan und Gehirn (!)
Vielleicht ist schon zu Lebzeiten die Wahrnehmung von Sinnesreizen außerhalb der Organreichweite gegeben - womit ich zur Frage „Hirnaktivität - notwendig oder hinreichend?“ zurückkommen möchte. Es gibt ernstzunehmende und reproduzierbare Effekte außerhalb der Zufallsbreite, wenn junge, gesunde Menschen versuchen zu erraten, was für ein geometrisches Symbol sich in einem verschlossenen Umschlag befindet - auch über große Entfernungen hinweg. Eventuell verstärken sich solche Effekte bei selbstauferlegten Hirnleistungsbeschränkungen - siehe die subjektiv erlebte Bewußtseinserweiterung bei Askese, Fasten, Meditation etc. usw.
Das ganze ist eine fantastische, aber durchaus nicht unvernünftige Annahme. Im Detail hatte ich das mal im Religionsbrett ausgeführt und dabei auch geschildert, wie ich mir letztere Befunde im Zusammenhang mit der anzunehmenden Unabhänigkeit von Körper und Bewußtsein logisch-modellhaft persönlich erkläre:
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
Meine Gedanken laufen darauf hinaus, daß das logisch-deduktive, körperliche, Diesseits, uns spezielle (Hirn-)leistungen ermöglicht, die wir zum biologischen Überleben auf dieser Welt brauchen. Allerdings bleibt uns der Blick ins ganzheitliche, seelische Jenseits durch das Gefangensein der Seele in eben jene Leistungen möglich machende Hirnstrukturen weitgehend verborgen (Nahtodesberichte: "Mit einem mal habe ich das ganze Universum verstanden".
Interessant, wie es Eckhard weiter unten formuliert hat:
"Könnte es vielleicht sein, dass die „elektrische“ Aktivität diese andere Art der Wahrnehmung überlagert, sodaß sie erst dann präsent und bemerkt wird, wenn der ‚Störnebel‘ sich verzogen hat?
Dass also beide Arten der Wahrnehmung ständig vorhanden sind, eine davon aber der anderen an ‚Lautstärke‘ oder Deutlichkeit unterlegen ist?
Schließen möchte ich aber mit einem Zitat von van Lommel aus seinem Lancet-Paper:
_ „In Ermangelung einer anderen Erklärung für Nahtodeserlebnisse muß das bisherige noch nie bewiesene Konzept, Bewußtsein und Erinnerung seien im Gehirn verankert, revidiert werden. Wie könnte ein klares Bewußtsein, subjektiv wahrgenommen außerhalb des eigenen Körpers, existieren in einer Phase des klinischen Todes mit flachem EEG?“ _
Ich denke, besser kann man die Sache nicht auf den Punkt bringen.
viel Freude beim Vermehren der gewonnenen Denkanregungen 
Oliver
(1) Die entsprechende Textpassage, von mir ins deutsche übersetzt:
Während der Pilotphase in einer unserer Kliniken berichtete eine Intensivpflegeschwester über ein extrakorporales Erlebnis bei einem reanimierten Patienten:
„Während der Nachtschicht wird ein 44jähriger, zyanotischer, komatöser Mann auf die Intensivstation eingeliefert. Er wurde ungefähr eine Stude zuvor von Spaziergängern auf einer Wiese entdeckt. Nach seiner Aufnahme wurde der Patient zunächst ohne Intubation beatmet, unter Herzmassage und Defibrillation [Elektroschock]. Als wir den Patienten intubieren [also einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre einführen] wollten, stellten wir fest, daß der Patient Gebißträger ist. Ich entfernte die Prothese und legte sie auf den Medikamentenwagen. Währenddessen führten wir die Wiederbelebung fort. Nach zirka eineinhalb Stunden hat der Patient wieder einen ausreichenden Herzrhythmus und Blutdruck, aber er ist immer noch komatös und muß beatmet werden.
Erst nach mehr als einer Woche sehe ich den Patienten zum zweiten Mal, welcher in der Zwischenzeit auf die kadiologische Station verlegt wurde. Ich verteile die Medikamente. In diesem Moment sieht er mich und sagt: „Oh, diese Schwester weiß, wo mein Gebiß ist“. Ich bin sehr überrascht. Er fährt fort: „Ja, genau sie waren da, als man mich eingeleifert hat, und sie haben mir mein Gebiß aus dem Mund genommen und legten es auf den kleinen Wagen mit den vielen Flaschen darauf, und den Schubladen darunter, und da haben sie sie hingelegt.“ Ich war sehr erstaunt weil der Patient in dieser Phase tief komatös und unter Reanimaton war. Als ich den Patienten weiter befragte, erzählte er mir, er habe sich selbst im Bett liegen sehen, er konnte beobachten, wie sich Ärzte und Schwestern um ihn bemühten, und er konnte bis ins Detail unseren kleinen Schockraum beschreiben als auch das Aussehen der an der Reanimation beteiligten Personen. Er hatte während dieser Zeit große Angst, daß wir unsere Wiederbelebungsbemühungen einstellen würden, und in der Tat waren wir in unseren Diskussionen während der Wiederbelebung sehr pessimistisch bezüglich den Erfolgsaussichten. Der Patient berichtete, daß er verzwiefelt und erfolglos uns klarmachen wollte, daß er immer noch da war und wir die Wiederbelebung unbedingt fortsetzen sollten. Seine Erlebnisse haben ihn zutiefst beeindruckt, er berichtet, nun keine Angst mehr vor dem Sterben zu haben. Vier Wochen später verläßt er das Krankenhaus als gesunder Mann.“
(2) Sabom et al.: Light and Death: One doctor’s fascinating account of near-death-experiences. Michigan, Zondervan publishing house, 1998, 37-52.