Hallo!
Ich recherchiere für eine Romanübersetzung, die Frage ist also wirklich rein hypothetisch …
Ab wann gilt ein Schiff als aufgegeben/herrenlos und jeder private Berger kann es sich unter den Nagel reißen und Bergelohn verlangen?
Der Roman spielt in USA.
Gruß,
Eva
So eine grundsätzliche seemännische Definition (sorry, kann dir leider keine offizielle, zitierfähige Fundstelle liefern) lautet:
„Ist ein Wasserfahrzeug nicht vor Anker oder festgemacht und offenbar von seiner Besatzung verlassen worden, gilt es als aufgegeben.“
D.h. immer dann, wenn ein Wasserfahrzeug ohne Besatzung auf einem offenen Gewässer treibt oder angeschwemmt am Ufer liegt, also gerade kein Anker gesetzt/es nicht festgemacht wurde, und keine konkreten Gründe dagegen sprechen, dass die Mannschaft es aufgegeben hat, gilt es als aufgegeben.
Herrenlos wäre eine andere Hausnummer. Das setzt die bewusste Aufgabe des Eigentums im rechtlichen Sinne voraus. Davon ist aber bei einer Havarie üblicherweise nicht auszugehen.
Bei der Bergung geht es dann auch nicht um „unter den Nagel reißen“, sondern um die Beseitigung einer Gefahr für den Schiffsverkehr, die im vermuteten Interesse des Eigners liegt, der insoweit zum Ersatz der damit verbundenen Kosten verpflichtet ist. Im deutschen Recht würde man hier von GoA (Geschäftsführung ohne Auftrag) sprechen. Und um diesen Anspruch zu sichern entsteht dann ein Pfandrecht an dem geborgenen Schiff. D.h. das Schiff wird gegen Zahlung des Bergelohns wieder herausgegeben. Das gibt es z.B. auch im Sinne des Werkunternehmerpfandrechts bei uns, nach dem sich die Autowerkstatt weigern kann, dir die reparierte Karre wieder raus zu rücken, bis zu die Reparaturrechnung bezahlt hast.
Hm, in dem Roman schon. Da hört man von einem Frachter, der nicht mehr von der Stelle kommt, und alle Bergungsschlepper an der Küste rüsten sich, um als erster vor Ort zu sein und die siebenstellige Prämie zu kassieren.
Der Kapitän hat SOS gefunkt, ein Rettungshubschrauber der Coast Guard hat die Besatzung von Bord geholt, bis auf den Kapitän und ein paar Mann, die bei der Bergung helfen. In dem Buch heißt es nun, es ist „up for grabs“, „fair game“, also Freiwild. Ich bin mir nur nicht sicher, ob der Frachter in der Situation bereits als „aufgegeben“ oder „herrenlos“ gilt.
Gruß,
Eva
Aufgegeben ist er in so einer Situation noch nicht, weil ja noch Mannschaft an Board ist. Herrenlos ist es ohnehin nicht. Vielmehr liegt hier zunächst mal „nur“ ein Fall von Seenot vor.
Die übliche Geschichte, um die es hier gehen dürfte ist die, dass sich der Kapitän im Extremfall nicht gegen offensichtlich notwendige Hilfe „wehren“ kann. D.h. er kann dann rein faktisch nicht mehr frei entscheiden, wem er den Bergungsauftrag gibt, sondern muss den ersten anlaufenden, geeigneten Schlepper akzeptieren. Und dann geht das nach Lloyds open form bzw. dem Internationalen Übereinkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über die Hilfeleistung und Bergung in Seenot v. 23.09.1910, dem auch die USA beigetreten ist.
D.h. der Bergevertrag kommt dann durch Zuruf bzw. Annahme der zugeworfenen Leine zustande (ist übrigens Blödsinn, wenn immer wieder behauptet wird, man würde um die Kostentragungspflicht einer Bergung herum kommen, wenn man selbst die Leine wirft). Dabei wird der Bergelohn aufgrund der Notsituation oft gar nicht vorab verhandelt, sondern entweder im Nachhinein vor Llodys oder anderen Versicherern verhandelt, bzw. gerichtlich festgesetzt (Art. 6, 8 des Abkommens).
Insoweit ist es zwar einerseits richtig, dass sich bei einer Havarie ggf. mehrere Schlepper ein Wettrennen um den lukrativen Auftrag bieten, es ist aber eine Überdramatisierung, wenn dann von Freiwild gesprochen wird. Wenn Seenot vorliegt, kann es dem Kapitän - so er nicht mehr die rein faktische Möglichkeit hat, sich seinen Retter auszusuchen - egal sein wer ihn rettet, zumal die Kosten ja in jedem Fall gerichtlich festgelegt werden können. D.h. auch wenn Schlepper 2 ggf. im ersten Zuruf billiger als Schlepper 1 erschien, kann man ja im Nachhinein die Abrechnung von Schlepper 1 überprüfen lassen, und so zu angemessenen Konditionen kommen.
BTW: Mich erinnert die Geschichte irgendwie an eine Fernsehserie aus Kindertagen.
Danke für die sehr schöne, informative Antwort.
Für den Schlepper ist die Reihenfolge aber schon wichtig, denn wer zuerst kommt, mahlt/kassiert zuerst, daher betrachten die das im Konkurrenzkampf wahrscheinlich durchaus als eine Art Freiwild.
„Mich erinnert die Geschichte irgendwie an eine Fernsehserie aus Kindertagen.“
Gruß,
Eva
Klar, für die Schlepperkapitäne ist dass natürlich eine Jagd um den Bergelohn, weil nur der, der die Leine übernimmt, auch Geld bekommt (wenn die Bergung erfolgreich ist).
Ich hatte die Textstelle jetzt aber eher aus Sicht des Kapitäns des in Seenot geratenen Schiffs verstanden. Für den mag das natürlich einerseits durchaus nach einem miesen Spiel und Leichenfledderei aussehen. Ganz nüchtern betrachtet, kann es ihm aber eigentlich egal sein, wer zum Zuge kommt, wenn er ohnehin Hilfe braucht, weil ihn das zitierte Abkommen vor Abzocke recht gut schützt.