'Sein' (Englisch, Deutsch, Alemannisch)

Hallo!

Die Frage könnte auch bei „Deutsche Sprache“ oder „Dialekte“ stehen.

Das Hilfsverb „sein“ ist irgendwie ja schon etwas besonderes:

Deutsch

Ich bin - ich war
Du bist - Du warst
Er/sie/es ist - er/sie/es war
Wir sind - wir waren
Ihr seid - Ihr wart
Sie sind - sie waren
Infinitiv: sein
Partizip: gewesen

Englisch

I am - I was
You are - you were
He/she/it is - he/she/it was
We are - we were
You are - you were
They are - they were
Infinitiv: to be
Partizip: been

Ich erkenne da fünf verschiedene Wortstämme: Sie beginnen mit „b“: to be, been, bin, bist; mit „s“: sein, seid, sind; mit „a“: are; mit „w“: was, were, war, warst, waren, gewesen; mit „i“: is, ist.

Lustigerweise wird im alemannischen zudem das Partizip nicht mit w (gewesen) sondern mit s (gsieh - quasi: „geseint“) gebildet, was ja irgendwie regelmäßiger erscheint als das hochdeutsche „gewesen“.

Meine Fragen dazu:

  • Gibt es eine Erklärung für die zahlreichen unterschiedlichen Formen? Ich könnte mir vorstellen, dass manche Formen (z. B. er ist, sie sind) an das romanische anknüpft (französisch: il est, ils sont), während andere Formen mit b und w germanischen Ursprungs sind. Ist aber nur so eine Idee… Außerdem wirft das neue Fragen auf: Im Französischen (Latein kann ich nicht) ist 1. Person Singular mit „s“ (je suis), im Englischen mit Vokal (I am), im Deutschen mit „b“ (ich bin). Wenn das „am“ auch eher mit dem „être“ verwandt ist als mit dem „bin“, verwundert es, dass es auf Französisch nicht etwa „je e–“ heißt.

  • Ist die alemannische Form oder die hochdeutsche Form des Partizips die ursprünglichere? (Oder lässt sich das womöglich gar nicht sagen?)

  • Wie sieht es eigentlich mit dem Keltischen aus? Wie funktioniert da das entsprechende Hilfsverb?

  • Gibt es noch weitere Dialekte im Deutschen, wo die Konjugation von „sein“ vom Hochdeutschen deutlich abweicht?

  • Interessant wären auch noch andere Sprachen, die da dazu passen: Niederländisch, Friesisch, Dänisch …

  • Bilde ich mir die Verwandtschaft nur ein oder existiert sie tatsächlich (bei Deutsch und Englisch bin ich mir jedoch ziemlich sicher)?

Bin gespannt auf die Antworten!
Michael

Hallo,

um mal einen Überblick über die heutige Situation in den germanischen Sprachen zu geben:

In den nordgermanischen Sprachen hat „sein“ nur zwei Stämme: einen Präsensstamm (är- im Schwedischen bzw. er- in allen anderen Sprachen) sowie einen Stamm, der sich im Infinitiv, im Präteritum und im Partizip Perfekt findet (je nach Sprache und Tempus ver-, vær-, var-, vor- oder vór-).

In den westgermanischen Sprachen (Niederländisch, (West-)Friesisch, Niederdeutsch Luxemburgisch und Jiddisch) decken sich die Wortstämme in etwa mit denen im Deutschen mit folgenden Ausnahmen:

– im (West-)Friesischen gibt es nur zwei Stämme im Präsens (bi- und is)

– im Luxemburgischen lautet die Form der ersten Person Singular im Präsens nicht *ban (o.ä.), sondern (wie die erste und dritte Person Plural) sinn. Wenn ich mich recht entsinne, ist das auch bei den verwandten deutschen Dialekten wie dem Saarländischen der Fall.

All dies ließe natürlich den Schluss zu, dass die Formenvielfalt in den westgermanischen Sprachen in einem gewissen Rahmen mit der (geographischen) Nähe zum romanischen Sprachraum zu tun hätte, während die nordgermanischen Sprachen einheitlichere Formen bewahrt hätten. Ich wäre mit solchen Schlussfolgerungen jedoch vorsichtig, da im Laufe der Sprachgeschichte auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben könnten, die heute nicht mehr auf den ersten Blick ersichtlich sind. Es scheint da z.B. im Urgermanischen zwei synonyme Verben für „sein“ gegeben zu haben (*wesaną und *beuną), deren Formen möglicherweise irgendwann zusammengefallen sind (was die _b-_Stämme erklären könnte). Aber da ich kein Altgermanist bin, werde ich mich hüten, irgendwelche weiteren Spekulationen diesbezüglich anzustellen. :wink:

Gruß,
Stefan

Hi,
in Ergänzung:

In den westgermanischen Sprachen (Niederländisch,
(West-)Friesisch, Niederdeutsch Luxemburgisch und Jiddisch)
decken sich die Wortstämme in etwa mit denen im Deutschen mit
folgenden Ausnahmen:

Hier fehlt Afrikaans, das eine sehr vereinfachte Grammatik hat und aus dem Infinitiv „wees“ die Zeitformen „is“ „was“ „is gewees“ „sal wees“ bildet—und zwar für alle Personen gleich.
Der „b“-Stamm ist also weggefallen, obwohl sich die Grammatik, um eine einfache Struktur zu erreichen, stark an der Englischen orientiert hat, und nicht etwa, wie zu erwarten gewesen wäre, an der viel komplizierteren Nierländischen (die wiederum der Deutschen recht ähnlich ist).

Gruß

Jo

Hallo.

Meines Wissens dreht es sich hier um drei verschiedene Wörter oder besser gesagt Wortstämme, die die germanischen Sprachen schon von der Urgermanischen und der indoeuropäischen Ursprache mitgebracht haben und dann durch die Sprachgeschichte in verschiedener Weise kombiniert haben. 1. Ein Stamm auf be/bi, das man auch im Skandivischen „bo“ = „wohnen, sich aufhalten“, findet. 2. Ein Stamm auf we/wa = „bleiben“. 3. Ein Stamm es/as/s = „sein“.

Der Vokalwechsel in diesen Wörtern ist Ablaut, wie in den deutschen starken Verben (z.B. geben - gab). Der Wechsel zwischen r und s ist Rhotazismus, das heisst, in einigen germanischen Sprachen ging vor Jahrhunderten ein ursprünglicher s in r über, aber nur in gewissen Stellungen.

Einen Einfluss von Französisch gibt es in diesen Wörtern nicht. Die Ähnlichkeit kommt daher, dass auch Französisch eine indoeuropäische Sprache ist und der Wortstamm es/as/s durch Latein von der indoeuropäischen Ursprache mitgebracht hat.

Übrigens: Dies hatte ich auch schwieriger und mehr umständlich sagen können, wenn ich mich fachsprachlich korrekter ausgedrückt hätte. Aber warum denn?

Beste Grüsse,
TR

Hallo,

also kurz: alle Sprachen, die du ansprichst, sind indogerm. Sprachen, d.h. sie haben sich aus einer indogerm. Ursprache entwickelt. Daher rührt die Ähnlichkeit vieler Formen, die du bemerkt hast.

Ich erkenne da fünf verschiedene Wortstämme: Sie beginnen mit
„b“: to be, been, bin, bist; mit „s“: sein, seid, sind; mit
„a“: are; mit „w“: was, were, war, warst, waren, gewesen; mit
„i“: is, ist.

Hier sind nur vier indogermanische Stämme erkennbar:

  • *h₁es- und *h₂wes- (hier handelt es sich um zwei verschiedene Stämme, inwieweit sie auseinander entstanden sind, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden. Das bereits erwähnte urindogerm. Verb *wesanan wurde mit beiden Stämmen in ergänzender Weise (Fachjargon: suppletiv) konjugiert, war also schon im Urindogerm. unregelmäßig)
    Vom Stamm *h₂wes- kommen die Formen mit w-, wie z. B. ich war oder das Partizip gewesen. Vom Stamm *h₁es- kommen die Formen mit (e)s- und auch engl. „I am“.
  • *bʰew- Davon kommen die Formen mit b- wie „ich bin“ oder „to be“
  • *er- / *or(w)- (eigtl. heben, bewegen). Hiervon kommt laut Wiktionary das englische you/we/they are, was aus dem Nordischen entlehnt ist.

Meine Fragen dazu:

  • Gibt es eine Erklärung für die zahlreichen unterschiedlichen
    Formen?

Die beiden wichtigsten zugrundeliegenden indogerm. Verben *wesanan und *beunan waren schon im Indogerm. unregelmäßig und ergänzten sich zu einem vollständigen Paradigma mit allen Zeitformen. *wesanan bildete vermutlich kein Präteritum, dafür wurden Formen von *beunan benutzt. Es gab also Formen von beiden Verben, die sog. Suppletivformen, die sich zu einem vollständigen Konjugationsparadigma, dem sog. Suppletivparadigma ergänzten. Wir haben das Suppletivparadigma geerbt, und außerdem haben sich die Formen stark verändert, weil „sein“ zu den häufigsten Verben gehört und sehr oft gebraucht wird, und deshalb sind in unseren Sprachen die Paradigmen von „sein“ so chaotisch. (Ist dir mal aufgefallen, dass auch andere sehr häufige Verben wie „haben“ oder „gehen“ in den meisten indogerm. Sprachen sehr unregelmäßig sind?) Es gibt auch Ausnahmen, z.B. das Russische, das die Präsensformen von „sein“ ganz einfach abgeschafft hat.

Ich könnte mir vorstellen, dass manche Formen (z. B.

er ist, sie sind) an das romanische anknüpft (französisch: il
est, ils sont), während andere Formen mit b und w germanischen
Ursprungs sind.

Du hast richtig bemerkt, dass in den roman. Sprachen ALLE Präsensformen vom Stamm *h₁es- kommen (also irgendwas mit „s“), während der Stamm *h₂wes-, der im Germanischen z.B. in „ich war“, „I was“ usw. überlebt, im Romanischen komplett ausgestorben ist. Der Stamm *bʰew-, von dem ja im Deutschen und Englischen einige häufig gebrauchte Formen wie „ich bin“ oder der englische Infinitiv „be“ kommen, ist im Romanischen auch vorhanden. Von ihm kommt nämlich das lateinische Perfekt fui (ich war), das im spanischen Indefinido „fui“ oder im italienischen passato remoto „foi“ weiterlebt. Im Französischen hingegen ist die Nachfolgeform „je fus“ auf die Literatursprache beschränkt, also im Alltag praktisch nicht anzutreffen.

Ist aber nur so eine Idee… Außerdem wirft

das neue Fragen auf: Im Französischen (Latein kann ich nicht)
ist 1. Person Singular mit „s“ (je suis), im Englischen mit
Vokal (I am), im Deutschen mit „b“ (ich bin). Wenn das „am“
auch eher mit dem „être“ verwandt ist als mit dem „bin“,

Hier muss ich protestieren. Du hast zwar richtig bemerkt, dass „I am“ mit den französischen Präsensformen verwandt ist (alle diese Formen kommen vom Stamm *h₁es-), aber die Infinitiv „être“ hat damit nichts damit zu tun, er kommt vom lateinischen „stare“ (eigentlich stehen). Wir können hier beobachten, wie eine Suppletivform entstanden ist: Der Infinitiv stare (jetzt être) wurde als Infinitiv zu den Formen „je suis, tu es“ usw. betrachtet, obwohl er einen ganz anderen Stamm hat. Der lateinische Infinitiv „esse“ hingegen ist im Französischen ausgestorben.

verwundert es, dass es auf Französisch nicht etwa „je e–“
heißt.

Du hast sehr aufmerksam beobachtet, dass im Französischen ein „e“ zu erwarten ist. Dieses e war im Altlateinischen noch vorhanden. Die vollständige Konjugation von *wesanan im Präsens war ungefähr wie folgt:

*h₁es-mi - ich bin
*h₁es-si - du bist
*h₁es-ti - er ist
*h₁es-men - wir sind
*h₁es-te - ihr seid
*h₁es-nti - sie sind

aus der 1. Person Singular wurde im Lateinischen zuerst „esum“ und später fiel das e weg, so dass die übliche Form „sum“ entstand, aus der die romanischen Formen sich entwickelten.

  • Ist die alemannische Form oder die hochdeutsche Form des
    Partizips die ursprünglichere? (Oder lässt sich das womöglich
    gar nicht sagen?)

In germanischer Sprachgeschichte kenn ich mich nicht so gut aus, aber ich denke, dass die alemannische Form eine Neubildung ist.

  • Wie sieht es eigentlich mit dem Keltischen aus? Wie
    funktioniert da das entsprechende Hilfsverb?

keine Ahnung. Aber Keltisch steht auf der Liste mit den Sprachen, mit denen ich mich noch beschäftigen muss.

  • Gibt es noch weitere Dialekte im Deutschen, wo die
    Konjugation von „sein“ vom Hochdeutschen deutlich abweicht?

Erstens: Weiß ich nicht. Zweitens: Ein anderes Perfektpartizip würde ich noch nicht als „deutlich abweichen“ bezeichnen.

  • Interessant wären auch noch andere Sprachen, die da dazu
    passen: Niederländisch, Friesisch, Dänisch …

Im Germanischen bin ich nicht so bewandert, das müssen andere www-ler erledigen.

  • Bilde ich mir die Verwandtschaft nur ein oder existiert sie
    tatsächlich (bei Deutsch und Englisch bin ich mir jedoch
    ziemlich sicher)?

Ich hoffe, dass ausreichend klargeworden ist, dass du dir die Verwandtschaft nicht einbildest. Du hast die Sprachen, die du kennst, sehr genau betrachtet, wie man ja daran sieht, dass du im Französischen bei „je suis“ das „e“ vermisst hast. Du hast das Zeug zum guten Indogermanisten.

Viele Grüße

Marco