Hallo,
also kurz: alle Sprachen, die du ansprichst, sind indogerm. Sprachen, d.h. sie haben sich aus einer indogerm. Ursprache entwickelt. Daher rührt die Ähnlichkeit vieler Formen, die du bemerkt hast.
Ich erkenne da fünf verschiedene Wortstämme: Sie beginnen mit
„b“: to be, been, bin, bist; mit „s“: sein, seid, sind; mit
„a“: are; mit „w“: was, were, war, warst, waren, gewesen; mit
„i“: is, ist.
Hier sind nur vier indogermanische Stämme erkennbar:
- *h₁es- und *h₂wes- (hier handelt es sich um zwei verschiedene Stämme, inwieweit sie auseinander entstanden sind, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden. Das bereits erwähnte urindogerm. Verb *wesanan wurde mit beiden Stämmen in ergänzender Weise (Fachjargon: suppletiv) konjugiert, war also schon im Urindogerm. unregelmäßig)
Vom Stamm *h₂wes- kommen die Formen mit w-, wie z. B. ich war oder das Partizip gewesen. Vom Stamm *h₁es- kommen die Formen mit (e)s- und auch engl. „I am“.
- *bʰew- Davon kommen die Formen mit b- wie „ich bin“ oder „to be“
- *er- / *or(w)- (eigtl. heben, bewegen). Hiervon kommt laut Wiktionary das englische you/we/they are, was aus dem Nordischen entlehnt ist.
Meine Fragen dazu:
- Gibt es eine Erklärung für die zahlreichen unterschiedlichen
Formen?
Die beiden wichtigsten zugrundeliegenden indogerm. Verben *wesanan und *beunan waren schon im Indogerm. unregelmäßig und ergänzten sich zu einem vollständigen Paradigma mit allen Zeitformen. *wesanan bildete vermutlich kein Präteritum, dafür wurden Formen von *beunan benutzt. Es gab also Formen von beiden Verben, die sog. Suppletivformen, die sich zu einem vollständigen Konjugationsparadigma, dem sog. Suppletivparadigma ergänzten. Wir haben das Suppletivparadigma geerbt, und außerdem haben sich die Formen stark verändert, weil „sein“ zu den häufigsten Verben gehört und sehr oft gebraucht wird, und deshalb sind in unseren Sprachen die Paradigmen von „sein“ so chaotisch. (Ist dir mal aufgefallen, dass auch andere sehr häufige Verben wie „haben“ oder „gehen“ in den meisten indogerm. Sprachen sehr unregelmäßig sind?) Es gibt auch Ausnahmen, z.B. das Russische, das die Präsensformen von „sein“ ganz einfach abgeschafft hat.
Ich könnte mir vorstellen, dass manche Formen (z. B.
er ist, sie sind) an das romanische anknüpft (französisch: il
est, ils sont), während andere Formen mit b und w germanischen
Ursprungs sind.
Du hast richtig bemerkt, dass in den roman. Sprachen ALLE Präsensformen vom Stamm *h₁es- kommen (also irgendwas mit „s“), während der Stamm *h₂wes-, der im Germanischen z.B. in „ich war“, „I was“ usw. überlebt, im Romanischen komplett ausgestorben ist. Der Stamm *bʰew-, von dem ja im Deutschen und Englischen einige häufig gebrauchte Formen wie „ich bin“ oder der englische Infinitiv „be“ kommen, ist im Romanischen auch vorhanden. Von ihm kommt nämlich das lateinische Perfekt fui (ich war), das im spanischen Indefinido „fui“ oder im italienischen passato remoto „foi“ weiterlebt. Im Französischen hingegen ist die Nachfolgeform „je fus“ auf die Literatursprache beschränkt, also im Alltag praktisch nicht anzutreffen.
Ist aber nur so eine Idee… Außerdem wirft
das neue Fragen auf: Im Französischen (Latein kann ich nicht)
ist 1. Person Singular mit „s“ (je suis), im Englischen mit
Vokal (I am), im Deutschen mit „b“ (ich bin). Wenn das „am“
auch eher mit dem „être“ verwandt ist als mit dem „bin“,
Hier muss ich protestieren. Du hast zwar richtig bemerkt, dass „I am“ mit den französischen Präsensformen verwandt ist (alle diese Formen kommen vom Stamm *h₁es-), aber die Infinitiv „être“ hat damit nichts damit zu tun, er kommt vom lateinischen „stare“ (eigentlich stehen). Wir können hier beobachten, wie eine Suppletivform entstanden ist: Der Infinitiv stare (jetzt être) wurde als Infinitiv zu den Formen „je suis, tu es“ usw. betrachtet, obwohl er einen ganz anderen Stamm hat. Der lateinische Infinitiv „esse“ hingegen ist im Französischen ausgestorben.
verwundert es, dass es auf Französisch nicht etwa „je e–“
heißt.
Du hast sehr aufmerksam beobachtet, dass im Französischen ein „e“ zu erwarten ist. Dieses e war im Altlateinischen noch vorhanden. Die vollständige Konjugation von *wesanan im Präsens war ungefähr wie folgt:
*h₁es-mi - ich bin
*h₁es-si - du bist
*h₁es-ti - er ist
*h₁es-men - wir sind
*h₁es-te - ihr seid
*h₁es-nti - sie sind
aus der 1. Person Singular wurde im Lateinischen zuerst „esum“ und später fiel das e weg, so dass die übliche Form „sum“ entstand, aus der die romanischen Formen sich entwickelten.
- Ist die alemannische Form oder die hochdeutsche Form des
Partizips die ursprünglichere? (Oder lässt sich das womöglich
gar nicht sagen?)
In germanischer Sprachgeschichte kenn ich mich nicht so gut aus, aber ich denke, dass die alemannische Form eine Neubildung ist.
- Wie sieht es eigentlich mit dem Keltischen aus? Wie
funktioniert da das entsprechende Hilfsverb?
keine Ahnung. Aber Keltisch steht auf der Liste mit den Sprachen, mit denen ich mich noch beschäftigen muss.
- Gibt es noch weitere Dialekte im Deutschen, wo die
Konjugation von „sein“ vom Hochdeutschen deutlich abweicht?
Erstens: Weiß ich nicht. Zweitens: Ein anderes Perfektpartizip würde ich noch nicht als „deutlich abweichen“ bezeichnen.
- Interessant wären auch noch andere Sprachen, die da dazu
passen: Niederländisch, Friesisch, Dänisch …
Im Germanischen bin ich nicht so bewandert, das müssen andere www-ler erledigen.
- Bilde ich mir die Verwandtschaft nur ein oder existiert sie
tatsächlich (bei Deutsch und Englisch bin ich mir jedoch
ziemlich sicher)?
Ich hoffe, dass ausreichend klargeworden ist, dass du dir die Verwandtschaft nicht einbildest. Du hast die Sprachen, die du kennst, sehr genau betrachtet, wie man ja daran sieht, dass du im Französischen bei „je suis“ das „e“ vermisst hast. Du hast das Zeug zum guten Indogermanisten.
Viele Grüße
Marco