Sind die Existenzialien nur formal und leer?

Hallo an alle!

Heidegger abstrahiert von den pluralen Existenzmöglichkeiten bzw. vom konkreten Seienden, um die formale Struktur des Daseinsvollzugs bzw. das Sein des Daseins zu explizieren. Der ontische Inhalt kann also beliebig sein, die formale Struktur der Existenz bleibt jedoch konstant.
Sind die Existenzialien aber wirklich nur formal u. leer? Ist das Inhaltliche nicht vielmehr zweierlei: das inhaltsvolle Ontische (ein objektiver Sachverhalt, eine Weltanschauung, Norm usw.) und das inhaltsvolle Ontologische. Zu letzterem zählten z.B. Vertrauen, Aufrichtigkeit, Langmut, Haß.
Nach Heidegger müssen die Existenzialien wohl leer sein, weil ihre evtl. Inhaltlichkeit den Charakter der Existenz als Möglichkeit zerstören würde: Wenn die Bedingungen für den Charakter des Daseins als Möglichkeit inhaltlich wären, könnte der Einzelne über sein Dasein disponieren.
Im Falle der „inhaltlichen Seinsweisen“ wie Liebe und Vertrauen ist aber eine objektivierende Verfügung anscheinend ebenso ausgeschlossen. Man kann sie „stoppen“, aber nicht willentlich hervorbringen oder hindern, daß sie sich melden. Im Vollzug dieser Seinsweisen eröffnet sich dem Menschen ja der interpersonale Bereich des Möglichen, des Ontischen – so würde „das inhaltsvolle Ontologische“ gerade mit zu den Bedingungen des Möglichkeitscharakters des Daseins gehören.

Also: Könnte man diese Phänomene als „Seinsweisen“ des Daseins denken oder gehören sie doch eher zum Ontischen? Ist es möglich, daß die Formalität der Daseinsanalyse Heideggers etwas damit zu tun hat, daß er seinen Ausgangspunkt in den „negativen“ Phänomenen nimmt (Angst, Langeweile), denen ein „Hinaustranszendieren ins Nichts“ zu eigen ist. Entspricht der Erfahrung des Nichts die formale Leere seiner Existenzanalyse?

Vielen Dank!
JC

Hallo J. C., :smile:

Sind die Existenzialien aber wirklich nur formal u. leer?

deine Überlegungen sind interessant, aber deine Schlussfolgerung scheint mir ein Vorurteil zu beinhalten, nämlich dass die Existenzialien nur formal und leer seien.

Sie sind es zweifelsohne, aber eben nicht nur, sondern notwendig. Wären sie es nicht, wären sie - um bei deiner Terminologie zu bleiben - in der Tat „ontisch“. Aber gerade weil sie „ontologisch“ sind, sind sie eben nicht „formal“ und „leer“, sondern „inhaltlich gefüllt“.

Das Problem liegt vielleicht darin, dass du den Entscheidern die Entscheidung abnehmen willst? Die Prohairesis gehört aber mindestens seit der Nicomachischen Ethik zu den Grundkonstanten aller Ethik überhaupt! Und das heißt eigentlich - dass man schon immer notwendig im Zwiespalt gelassen sein muss , um zu garantieren, dass die Wahl der „Richtigen“ nicht vorgegen wird. Insofern kann ich deine letzte Frage

Entspricht der
Erfahrung des Nichts die formale Leere seiner Existenzanalyse?

nicht ganz deuten. Denn der Vorwurf, den du an die Existenzanalyse richtest, ist ja gerade nicht der der formalen Leerheit, sondern ist ein inhaltlicher Aspekt - oder irre ich mich da?

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas,

herzlichen Dank für deine Antwort!

Denn der Vorwurf, den du an die
Existenzanalyse richtest, ist ja gerade nicht der der formalen
Leerheit, sondern ist ein inhaltlicher Aspekt - oder irre ich
mich da?

Ich habe mich wohl mißverständlich ausgedrückt – mein Vorwurf an die Existenzialphilosophie bezieht sich doch präzis auf ihre formale Leerheit.

…aber deine
Schlussfolgerung scheint mir ein Vorurteil zu beinhalten,
nämlich dass die Existenzialien nur formal und leer
seien.
Sie sind es zweifelsohne, aber eben nicht nur, sondern
notwendig. Wären sie es nicht, wären sie - um bei
deiner Terminologie zu bleiben - in der Tat „ontisch“.

Meine Frage (samt „nur“) hätte ich vielleicht so formulieren sollen: Gibt es nur formale Existenzialien, oder auch einige, die inhaltlich sind? Könnte es nicht sein, daß neben den formalen Existenzialien z.B. des In-Seins, der „Sorge“, des Seinkönnens und des „formalen“ Gewissensrufes auch inhaltsvolle Existenzialien gibt wie z.B. Liebe, Vertrauen und Barmherzigkeit bzw. ein „inhaltlicher“ Gewissensruf der Nächstenliebe?
Könnte man nicht auch diese ontologisch als Bestandteil unseres Daseins bzw. der Existenzstruktur denken? Ist es wirklich notwendig, sie als etwas „Ontisches“ anzusehen?

Das Problem liegt vielleicht darin, dass du den Entscheidern
die Entscheidung abnehmen willst? Die Prohairesis gehört aber
mindestens seit der Nicomachischen Ethik zu den
Grundkonstanten aller Ethik überhaupt! Und das heißt
eigentlich - dass man schon immer notwendig im Zwiespalt
gelassen sein muss , um zu garantieren, dass die Wahl
der „Richtigen“ nicht vorgegen wird.

Die Prohairesis will ich auf keinen Fall in Zweifel ziehen. Es geht mir jedoch darum, zwischen “ontologischen“ Phänomenen wie Vertrauen, Liebe und Aufrichtigkeit und konkretem „ontischen“ Verhalten, in dem sie sich auswirken, zu unterschieden. Die Prohairesis würde sich auf Letzteres beziehen, das immer diskutabel bleibt - die spontanen und „ontologischen“ Daseinsphänomene bedürften im Gegensatz zum konkreten Verhalten aber keiner Rechtfertigung.

Der fundamentale Charakter des Daseins als Seinkönnen wäre durch die Inhaltlichkeit dieser Existenzialien m.E. nicht vernachlässigt. Sie sind ja nichts Vorliegendes oder Vorhandenes, zu dem das Dasein auf eine „uneigentliche“ Weise Zuflucht nehmen könnte (um seine Existenz zu „sichern“). Auch in der „ontologischen“ Spontaneität des Vertrauens müßte sich der Mensch unaufhörlich auf die „ontischen“ Daseinsmöglichkeiten hin entscheiden.
Es geht also im Prinzip darum, ob die Existenzanalyse unbedingt „ethisch neutral“ sein muß bzw. ob das Ethische nicht mit zum Sein des Daseins gehören könnte.

Insofern kann ich deine
letzte Frage

Entspricht der
Erfahrung des Nichts die formale Leere seiner Existenzanalyse?

nicht ganz deuten.

„Dem angerufenen Selbst wird ‚nichts‘ zu-gerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigenen Seinkönnen“ (S&Z 173). — Es scheint mir, daß das Dasein quasi mit dem „Nichts“ konfrontiert wird – das Gewissen fordert keine Inhaltlichkeit, sondern das Formale des Seinkönnens (ein Ausharren des „Nichts“?).
Wenn die Ausgangserfahrung der Existenzanalyse negativ ist (Angst, Langeweile),
könnte ja sein, daß die Erfahrung des Nichts einen Schatten auf die ganze analytische Arbeit wirft. So wäre die Formalität des Seinkönnens eine Spiegelung des „Nichts“ – jegliches Sich-Verlassen auf etwas Inhaltliches käme einem „Verrat am Nichts“ und einem Sich-sichern-wollen gleich.
Die Möglichkeit eines „eigentlichen“ Sich-Verlassens auf die „ontologische“ Inhaltlichkeit der Liebe oder des Vertrauens würde aber die Grunderfahrung des Nichts in Frage stellen bzw. komplementieren. Vielleicht wäre die Existenzanalyse nicht formal, wenn ihre Ausgangserfahrung „Getragensein“/ „Beschenkt-worden-sein“ wäre (Liebe, Vertrauen)?.

Mit freundlichem Gruß,
JC

Hallo,

Gibt es nur formale Existenzialien, oder auch einige,
die inhaltlich sind? Könnte es nicht sein, daß neben den
formalen Existenzialien z.B. des In-Seins, der „Sorge“, des
Seinkönnens und des „formalen“ Gewissensrufes auch
inhaltsvolle Existenzialien gibt wie z.B. Liebe, Vertrauen und
Barmherzigkeit bzw. ein „inhaltlicher“ Gewissensruf der
Nächstenliebe?

ich denke, da wirst du z. B. fündig bei den christlich fundierten Existenzialisten (Blondel, Marcel, Scheler).

Könnte man nicht auch diese ontologisch als Bestandteil
unseres Daseins bzw. der Existenzstruktur denken? Ist es
wirklich notwendig, sie als etwas „Ontisches“ anzusehen?

Das Problem ist, dass es sich da, wo es inhaltlich wird, grundlos festlegt bzw. den Grund als gesetzt, als nicht befragbar annimmt und damit zumindest in die Nähe von dogmatischem, also nicht mehr kritischem (i. w. S.) Denken gerät.

die spontanen und „ontologischen“
Daseinsphänomene bedürften im Gegensatz zum konkreten
Verhalten aber keiner Rechtfertigung.

Die fehlende Rechtfertigung ist auch ein fehlender Grund.

Der fundamentale Charakter des Daseins als Seinkönnen wäre
durch die Inhaltlichkeit dieser Existenzialien m.E. nicht
vernachlässigt.

Ist das wirklich so? Würde nicht durch die inhaltliche Festlegung das Seinkönnen zu einem Seinsollen?

Es geht also im Prinzip darum, ob die Existenzanalyse
unbedingt „ethisch neutral“ sein muß bzw. ob das Ethische
nicht mit zum Sein des Daseins gehören könnte.

Ich bin auch der Auffassung, dass Existenzanalyse ethisch nicht neutral sein muss, allerdings würde ich die zugehörige Ebene formal tiefer suchen wollen. Das Mit-Sein ist formal doch ausreichend und braucht eigentlich keine weitere inhaltliche Füllung. Und die Struktur des Mit-Seins könnte man evt. noch weiter formalisieren, denke ich. Wie allerdings diese Struktur im Einzelnen auszusehen hätte, darüber müsste man lange nachdenken. Die von dir angeführten Kategorien Liebe, Vertrauen und Barmherzigkeit z. B. wären ganz unterschiedlich einzuordnen.

Insofern kann ich deine
letzte Frage

Entspricht der
Erfahrung des Nichts die formale Leere seiner Existenzanalyse?

nicht ganz deuten.

Es scheint mir, daß das Dasein
quasi mit dem „Nichts“ konfrontiert wird – das Gewissen
fordert keine Inhaltlichkeit, sondern das Formale des
Seinkönnens (ein Ausharren des „Nichts“?).

Aushalten?

Wenn die Ausgangserfahrung der Existenzanalyse negativ ist
(Angst, Langeweile),
könnte ja sein, daß die Erfahrung des Nichts einen Schatten
auf die ganze analytische Arbeit wirft. So wäre die Formalität
des Seinkönnens eine Spiegelung des „Nichts“ – jegliches
Sich-Verlassen auf etwas Inhaltliches käme einem „Verrat am
Nichts“ und einem Sich-sichern-wollen gleich.

Ich denke, dass damit das Nichts „ontisiert“ würde, also einen Seinsstatus bekäme, der nicht haltbar ist, weil damit so etwas wie ein profaner Satan erzeugt würde, vor dem man sich fürchten könne, aber der keine wirkliche Angst (im Heideggerschen Sinn) erzeugen würde.

Die Möglichkeit eines „eigentlichen“ Sich-Verlassens auf die
„ontologische“ Inhaltlichkeit der Liebe oder des Vertrauens
würde aber die Grunderfahrung des Nichts in Frage stellen bzw.
komplementieren.

Ich denke, es würde die grundliegende Möglichkeit überdecken, nicht aber in Frage stellen. Vielmehr wäre es so, dass die Frage danach gar nicht mehr gestellt würde. Damit würde eine wesentliche (!) Eigenschaft der ExistenzANALYSE wegfallen, nämlich das Fragen.

Spannende Überlegungen, die du dir da machst!

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas und nochmals herzlichen Dank für deine Antwort!!

ich denke, da wirst du z. B. fündig bei den christlich fundierten Existenzialisten (Blondel, :Marcel, Scheler).

Danke für den Tipp! Blondel und Marcel werde ich mir mal ansehen. Ob nun Schelers (oder auch Hartmanns) Wertethik christlich fundiert ist – ?

Ist es wirklich notwendig, sie als etwas „Ontisches“ anzusehen?

Das Problem ist, dass es sich da, wo es inhaltlich wird, grundlos festlegt bzw. den Grund als :gesetzt, als nicht befragbar annimmt und damit zumindest in die Nähe von dogmatischem, :also nicht mehr kritischem (i. w. S.) Denken gerät.

Bin mir dennoch nicht sicher, ob die Inhaltlichkeit notwendigerweise zum Dogmatismus führen muß. Man sollte aber auf jeden Fall annehmen, daß die Inhaltlichkeit zweierlei ist: Etwas „ontisch“ Vorgegebenes (z.B. eine Norm) und etwas „Ontologisches“, worüber der Mensch nicht verfügen kann – weil es eben mit zur Möglichkeitsbedingung des Daseins gehört (z.B. das Vertrauen oder auch das Mit-Sein). So wäre das Inhaltliche nicht eine willkürliche Setzung des Menschen, sondern die rätselhafte „Faktizität“ seines Seins. Diese wäre keiner Rechtfertigung fähig – ohne deshalb „dogmatisch“ zu werden. Die einzige „Begründung“ wäre: Sie ermöglicht den Daseinsvollzug (ähnlich wie die Formen der Anschauung / die Kategorien des Verstandes nach Kant die Gegenstandserkenntnis ermöglichen).

die spontanen und „ontologischen“
Daseinsphänomene bedürften im Gegensatz zum konkreten
Verhalten aber keiner Rechtfertigung.

Die fehlende Rechtfertigung ist auch ein fehlender Grund.

weil sie eben zur Möglichkeitsbedingung des Daseins gehören und nicht in einem Entschluß herbeizuführen sind (man kann sich unmöglich dazu entschließen, zu lieben oder zu vertrauen – die Liebe und das Vertrauen „überkommen“ einen). Der Rechtfertigung bedarf etwas, das disponibel ist – das konkrete Verhalten bzw. eine konkrete Vorstellung/Norm. Die Entscheidung darf nicht dogmatisch sein.

Der fundamentale Charakter des Daseins als Seinkönnen wäre
durch die Inhaltlichkeit dieser Existenzialien m.E. nich vernachlässigt.

Ist das wirklich so? Würde nicht durch die inhaltliche Festlegung das Seinkönnen zu einem :Seinsollen?

Dieses Seinsollen wäre ja eine innere Bestimmung des Daseins bzw. des Seinkönnens.
Das Seinkönnen wäre nicht durch eine fremde Inhaltlichkeit beeinträchtigt, sondern eine ihm eigene Inhaltlichkeit würde es zu einem eigentlichen Sich-selbst-sein-können aufrufen.

Ich bin auch der Auffassung, dass Existenzanalyse ethisch nicht neutral sein muss, allerdings :würde ich die zugehörige Ebene formal tiefer suchen wollen. Das Mit-Sein ist formal doch :ausreichend und braucht eigentlich keine weitere inhaltliche Füllung. Und die Struktur des :Mit-Seins könnte man evt. noch weiter formalisieren, denke ich. Wie allerdings diese :Struktur im Einzelnen auszusehen hätte, darüber müsste man lange nachdenken. Die von dir :angeführten Kategorien Liebe, Vertrauen und Barmherzigkeit z. B. wären ganz :unterschiedlich einzuordnen.

Einverstanden. Es wäre in der Tat sinnvoll, zum Ausgangspunkt einer „ethisch qualifizieren“ Existenzanalyse die formale Struktur des Mitseins zu nehmen. – Ist die menschliche Existenz (resp. die Existenzanalyse) aber wesenhaft ethisch, ist sie m.E. immer schon auch „inhaltlich“.
Die formale Struktur des Mitseins (z.B. Interdependenz) implizierte im Grunde die Aufforderung zur liebenden Fürsorge. (Den naturalistischen Fehlschluß würde man hier m.E. nicht begehen, weil dieser ein anderes – wissenschaftlich reduziertes/naturalistisches – Verständnis vom Sein zur Voraussetzung hat). Wenn ich dich – mit Blick auf deine Einwände gegen die Inhaltlichkeit der Existenzialien – richtig verstehe, dann würdest du wohl eine ethische Aufwertung der Existenzanalyse für möglich halten, nicht aber das von mir Intendierte – daß das Ethische mit zum Sein des Daseins gehört.

Ich denke, dass damit das Nichts „ontisiert“ würde, also einen Seinsstatus bekäme, der nicht :haltbar ist, weil damit so etwas wie ein profaner Satan erzeugt würde, vor dem man sich :fürchten könne, aber der keine wirkliche Angst (im Heideggerschen Sinn) erzeugen würde.

Diese Konsequenz wäre bestimmt zu vermeiden. Mein Ausdruck „Verrat am Nichts“ war in der Tat unangemessen – besser vielleicht: Verrat am Selbst-Sein als einem Seinkönnen. Die Existenz verfehlt natürlich nicht ein „Nichts“, sonder sich selber.

Die Möglichkeit eines „eigentlichen“ Sich-Verlassens auf die
„ontologische“ Inhaltlichkeit der Liebe oder des Vertrauens
würde aber die Grunderfahrung des Nichts in Frage stellen bzw.
komplementieren.

Ich denke, es würde die grundliegende Möglichkeit überdecken, nicht aber in Frage stellen. :Vielmehr wäre es so, dass die Frage danach gar nicht mehr gestellt würde. Damit würde eine :wesentliche (!) Eigenschaft der ExistenzANALYSE wegfallen, nämlich das Fragen.

Das Sich-Verlassen auf die ontologische Inhaltlichkeit würde ja die „Unsicherheit“ des Daseins nicht gänzlich aufheben. Die Erfahrung des Nichts bzw. die „totale Unsicherheit“ des Daseins wäre nur teilweise überwunden – sie würde sich immer und wieder beängstigend und anfechtend melden und den Menschen in seiner ontologischen Inhaltlichkeit in Frage stellen. Aber ebenso wichtig: die „ontologische“ Inhaltlichkeit ist ja gerade auch selbst ein Anlaß zum Fragen. Sie ist und bleibt rätselhaft. Die Unsicherheit bleibt, weil der Mensch keine Macht hat, über sie zu verfügen oder sie zu „erklären“ – er kann sich nur wundern und fragen.

Mit herzlichen Grüßen,
JC

Hallo,

Ob nun Schelers (oder auch Hartmanns) Wertethik
christlich fundiert ist – ?

ich denke, doch, Schelers Kölner Lehrstuhl war meiner Erinnerung nach (ich habe vor vielen Jahren einmal die Berufungsakten und Briefwechsel aus dem Umfeld aus dem Universitätsarchiv gelesen) inoffiziell ein Lehrstuhl für christliche Philosophie. Wenn du möchtest, schaue ich einmal nach, ob ich da noch Unterlagen finde, die das bestätigen. Ich meine mich zu erinnern, dass da der damalige Oberbürgermeister von Köln
Konrad Adenauer die Fäden mitgezogen hat, um einen katholischen Festpunkt nach Köln zu holen. Allerdings kann ich nicht versprechen, dass ich etwas finde, und ich kann aus Zeitgründen auch nicht sofort suchen. Aber mir scheint das ganz offensichtlich zu sein.

So wäre das Inhaltliche
nicht eine willkürliche Setzung des Menschen, sondern die
rätselhafte „Faktizität“ seines Seins. Diese wäre keiner
Rechtfertigung fähig – ohne deshalb „dogmatisch“ zu werden.
Die einzige „Begründung“ wäre: Sie ermöglicht den
Daseinsvollzug (ähnlich wie die Formen der Anschauung / die
Kategorien des Verstandes nach Kant die Gegenstandserkenntnis
ermöglichen).

Darüber müsste ich länger nachdenken. Es klingt interessant, erzeugt aber in mir einen gewissen Widerwillen, vermutlich aufgrund der induktiven Struktur des Arguments.

Das Seinkönnen wäre nicht durch eine fremde Inhaltlichkeit
beeinträchtigt, sondern eine ihm eigene Inhaltlichkeit würde
es zu einem eigentlichen Sich-selbst-sein-können aufrufen.

Das müsste man durch eine parallele Meta-Argumentation ausschließen, was mir nicht einfach erscheint.

Die formale Struktur des Mitseins (z.B. Interdependenz)
implizierte im Grunde die Aufforderung zur liebenden Fürsorge.

Diese Implikation so zu behaupten, scheint mir leichtfertig zu sein, man müsste einen Grund für sie angeben können, der nicht dogmatisch gewendet werden kann. Schwierig.

(Den naturalistischen Fehlschluß würde man hier m.E. nicht
begehen, weil dieser ein anderes – wissenschaftlich
reduziertes/naturalistisches – Verständnis vom Sein zur
Voraussetzung hat).

Schon richtig, aber man muss ihn immer im Blick haben. :smile:

Wenn ich dich – mit Blick auf deine
Einwände gegen die Inhaltlichkeit der Existenzialien – richtig
verstehe, dann würdest du wohl eine ethische Aufwertung der
Existenzanalyse für möglich halten, nicht aber das von mir
Intendierte – daß das Ethische mit zum Sein des Daseins gehört.

So meinte ich es.

Die Existenz verfehlt natürlich nicht ein „Nichts“, sonder sich
selber.

So klingt es diskutabel.

Das Sich-Verlassen auf die ontologische Inhaltlichkeit würde
ja die „Unsicherheit“ des Daseins nicht gänzlich aufheben. Die
Erfahrung des Nichts bzw. die „totale Unsicherheit“ des
Daseins wäre nur teilweise überwunden – sie würde sich immer
und wieder beängstigend und anfechtend melden und den Menschen
in seiner ontologischen Inhaltlichkeit in Frage stellen. Aber
ebenso wichtig: die „ontologische“ Inhaltlichkeit ist ja
gerade auch selbst ein Anlaß zum Fragen. Sie ist und bleibt
rätselhaft. Die Unsicherheit bleibt, weil der Mensch keine
Macht hat, über sie zu verfügen oder sie zu „erklären“ – er
kann sich nur wundern und fragen.

Auch hier: Das ist ziemlich schwierig befriedigend zu begründen, wenn es denn nicht in einer allzu seichten Metaphysik enden soll. Aber ich finde deinen Ansatz interessant.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas,
über deine Antworten werde ich nachdenken, vielen Dank!
Nur noch das Folgende:

ich denke, doch, Schelers Kölner Lehrstuhl war meiner Erinnerung nach (ich habe vor vielen :Jahren einmal die Berufungsakten und Briefwechsel aus dem Umfeld aus dem :Universitätsarchiv gelesen) inoffiziell ein Lehrstuhl für christliche Philosophie. Wenn du :möchtest, schaue ich einmal nach, ob ich da noch Unterlagen finde, die das bestätigen.

Vielen Dank, mach dir aber bitte diesbezüglich keine Mühe – wenn du dazu mal etwas gelesen hast, ist es wahrscheinlich auch so gewesen. Schelers christliche bzw. katholische Orientierung war mir auch durchaus bekannt – ich weiß nur nicht, ob dieser Sachverhalt unbedingt eine methodische Relevanz für seine Phänomenologie haben muß (für die „emotionale“ Wertschau bzw. für das intentionale Fühlen). Wenn auch der christliche Ausgangspunkt für Scheler den Forschungsbereich hermeneutisch erschließt (so wird letztendlich der „Wert“ der Liebe von Scheler m.W. als die philosophische Interpretation der christlichen Nächstenliebe angesehen), verfährt seine phänomenologische Methode sola ratione – und will auch so diskutiert bzw. evtl. widerlegt werden. Die Hypothese wäre also „christlich“, die Methode aber „philosophisch“: In diesem Sinne könnte man Schelers Philosophie in der Tat als eine „christliche Philosophie“ bezeichnen. Wenn Heidegger Scheler als die „stärkste philosophische Kraft“ nicht nur in Europa, sondern in der „gegenwärtigen Philosophie“ überhaupt würdigt, hat er wohl die „Philosophie“ und nicht die „christliche“ im Blick.

Die formale Struktur des Mitseins (z.B. Interdependenz)
implizierte im Grunde die Aufforderung zur liebenden Fürsorge.

Diese Implikation so zu behaupten, scheint mir leichtfertig zu sein, man müsste einen Grund :für sie angeben können, der nicht dogmatisch gewendet werden kann. Schwierig.

Diese Behauptung müßte natürlich argumentativ und im Zuge einer phänomenologischen Untersuchung entfaltet werden. Eine mögliche Richtung wäre vielleicht: Man sollte die formale Struktur des Mitseins als Interdependenz aufzeigen: Mitsein bedeutet, dem Mitmenschen ausgeliefert zu sein. Wegen der Zeitlichkeit unseres Daseins ist der dem Mitmenschen durch den Mißbrauch der „ontologischen“ Abhängigkeit zugefügte Schaden irreparabel. Diesem Sachverhalt bzw. dieser Situation wäre nun allein die liebende Fürsorge bzw. die Nächstenliebe gewachsen. Also würde die Grundsituation des Daseins als Mitsein die Forderung der Nächstenliebe implizieren. Dieser Forderung könnte der Mensch nur entgehen, wenn er sich zu seinem Dasein als Mitsein „theoretisch“ und distanziert (z.B. naturalisierend) verhält – sozusagen in einem „abkünftigen“ Modus.

Mit herzlichem Gruß,
JC