Sokratische Technik

Seid gegrüsst,Freunde der Menschenanalyse

Es gibt einen Kerngedanken, den ich zur Diskussion stelle:

Ist es möglich allein durch nachfragen auf die Ursache jedes Komplexes zu kommen? Und ist es ferner möglich allein durch die so gewonnene Einsicht einen Lösungsansatz zu finden?

Sokrates hat ja gesagt: Die Wahrheit ist in jedem Menschen, man muss nur darauf kommen. Stelle mir einen Psychologen vor der genau die Hebammenfunktion erfüllt, dem Patienten also nur den Weg angibt, sodass der Patient selber zur Erkenntnis gelangt. Ich glaube das ist nicht nur die einleuchtendste, sondern die schönste Methode Psychologie zu betreiben. Die Schönheit besteht darin, das man jedes Problem von einem unwissenden Standpunkt angeht,das heisst nur für sich genommen, ohne auf irgendwelche komplexen Modelle zurückzugreifen, sogar ohne fachtermini. Ich behaupte der Mensch ist fähig sich zu analysieren, denn welchen gegenstand der Welt sollte er schon besser kennen als sich selbst?

Praktisch habe ich diese Methode schon angewendet, bei mir und meinen Freunden, durchaus mit Erfolg, das heisst Gewinn tieferer Einsicht und
Lösungsansatz.

Zum Beispiel ist es verbreitet, das sich Menschen die falschen Ziele setzen, das heisst : nicht das machen, wozu sie am meisten talentiert sind und was ihnen Freuden macht. Viele erkennen das erst nach Jahren wenn der Moment kommt, an dem die Sinnfrage gestellt wird.
Allerdings kann man sich die Jahre sparen, in dem man sich die Sinnfragen von Anfang an stellt: Wieso mache ich das? Ist es das was mir Freude macht? Was sind meine Ziele? Wieso habe ich gerade diese Ziele? Bediene ich mich der richtigen Mittel zur Erreichung der Ziele?
Was wären andere Wege? etc.

Das ist nur ein Beispiel, doch die Methode kann man auf jeden Bereich anwenden, wenn man eine gewisse Unzufriesdenheit mit dem Leben bemerkt. Nur muss man diese Bereiche erst einmal herausfinden, aber auch das kann mit der Fragemethode erkannt werden.

Gibt es irgendwelche Mängel in der Methode?
Liefert sie ein vollständiges menschenbild?
Welche Methoden gibt es, die diese Mängel beheben?

Gruss und Cave Canem

Hallo,

Ist es möglich allein durch nachfragen auf die Ursache jedes
Komplexes zu kommen?

wenn es nicht unbedinge „allein durch“ und „jedes“ hieße, sondern „auch mit Hilfe von“ und „eines“, dann könnte man deine Frage durchaus bejahen.

Und ist es ferner möglich allein durch
die so gewonnene Einsicht einen Lösungsansatz zu finden?

Es kommt auf das Problem an.

Hebammenfunktion

Da gibt es durchaus interessante Ansätze, z. B. hier:
ISBN: 3621274960 Buch anschauen . Der Autor ist Psychologe.

Praktisch habe ich diese Methode schon angewendet, bei mir und
meinen Freunden, durchaus mit Erfolg, das heisst Gewinn
tieferer Einsicht und Lösungsansatz.

Wenn du die Sache nicht überstrapazierst und nicht zu waghalsig daran gehst, kann die Methode durchaus hilfreich sein. Bei echten Psychosen hingegen ist die Methode ungeeignet. Und das eigentliche Problem liegt darin, dass du als Laie normalerweise nicht in der Lage bist, diese Grenze richtig zu ziehen bzw. sie zu erkennen.

Gibt es irgendwelche Mängel in der Methode?

Ihre Grenzen sind auch gleichzeitig ihre Mängel.

Liefert sie ein vollständiges menschenbild?

Nein, aber das kann keine Methode liefern.

Welche Methoden gibt es, die diese Mängel beheben?

Je nachdem, was du beabsichtigst, kann man bestimmte Mängel beheben: So kannst du z. B. eine therapeutische Ausbildung abschließen und lernen, wie die Methode sich mit anderen verträgt. Du kannst dir auch durch Lesen einiges aneignen, aber dann musst du dich von therapeutisch relevanten und insbesondere von schweren Psychosen fernhalten bzw. dich selbst für unzuständig erklären. Das Wichtigste bei der Anwendung dieser Methode aber ist es, sich selbst nicht zu überschätzen.

Wenn du von dir sagen kannst, dass du diesen Punkt erfüllst, hast du zumindest einen ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht, nämlich dahingehend, dass du überhaupt in der Lage bist (was ohne kritische Distanz zur Methode gar nicht möglich ist), mit ihr verantwortungsvoll umzugehen. Und im Zweifel ist Vorsicht besser, denn man kann mit dieser Methode (wie auch mit jeder anderen) auch viel kaputtmachen, wenn man sie falsch oder an falscher Stelle oder in der falschen Situation etc. anwendet.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo,

Ist es möglich allein durch nachfragen auf die Ursache jedes
Komplexes zu kommen? Und ist es ferner möglich allein durch
die so gewonnene Einsicht einen Lösungsansatz zu finden?

manchmal ist es möglich, den Grundgedanken einer Reihe von dysfunktionalen Überzeugungen durch sokratischen Dialog zu identifizieren. Manchmal ist es dann möglich, durch diese Einsicht die dysfunktionalen Überzeugungen zu verändern. Das ist eine Möglichkeit, die in der kognitiven Therapie der Depression genutzt wird. So hatte ich letztes Jahr ein Aha-Erlebnis, als mir schlagartig ein Grundgedanke meiner dysfunktionalen Überzeugungen klar geworden ist.

Stelle mir einen Psychologen vor
der genau die Hebammenfunktion erfüllt, dem Patienten also nur
den Weg angibt, sodass der Patient selber zur Erkenntnis
gelangt.

Ich lege ein´s drauf: Ich stelle mir Therapeuten vor, die den Weg gemeinsam mit ihren Patientinnen und Patienten entwickeln.

Ist das eine Wunschvorstellung? Nein. In der Dialektisch-Behavioralen Therapie der Borderline Persönlichkeitsstörung ist das das Credo.

„Hier habe ich mich zum ersten Mal verstanden und angenommen gefühlt“.

Den Satz habe ich gestern von einer Patientin gehört.

Die Schönheit besteht darin, das man jedes Problem von einem
unwissenden Standpunkt angeht,

Die Schönheit besteht darin, daß Patientin und Therapeutin sich darin einig sind, daß sie beide Wissende und Experten sind, die sich gegenseitig ergänzen. Daher auch das „dialektisch“ im Namen dieser Therapie: Aus These und Antithese wird eine Synthese.

Ich behaupte der
Mensch ist fähig sich zu analysieren, denn welchen gegenstand
der Welt sollte er schon besser kennen als sich selbst?

Wenn jeder Mensch sich so gut kennen würde, wozu braucht es dann den sokratischen Dialog?

Grüße,

Oliver Walter

Seid gegrüsst,Freunde der Menschenanalyse

Sei ebenfalls gegrüßt, K.
Nun, Du liegst damit gleichsam im „mainstream“ fast jeder analytisch orientierten Psychotherapie-Ausbildung.
An den Psychoanalyse-Instituten wird oft und gern der Vergleich zu der offenen Fragetechnik des Sokrates gezogen.
Beiden, Sokrates wie Freud, war ja eben dieses Offen-sein, dieses Hinhören und ab und an mal fragend nachhelfen (Hebammentechnik) eigen.
Es grüßt Dich
Branden

wie kaputtmachen?
Hallo

Du redest davon, dass man mit dieser Methode den Menschen kaputtmachen kann. Doch das nachfragen ist ja nur Gewinn von Erkenntniss und verändert nichts am Subjekt. Genauso, wie ein Objekt nicht dadurch verändert wird, dass es erkannt und analysiert wird.

Gruss und Cave Canem

eben dadurch …
dass er den sokratischen Dialog, der auch ein sokratischer Monolog sein kann, durchführt lernt der Mensch sich kennen. Dieser Dialog ist sozusagen das Geistige Auge, der sechste Sinn.

Ferner ist es wirklich seltsam, dass es Dinge gibt, die der Mensch an sich nicht erfassen kann, so dass es dazu einen Spezialisten bedarf.
Ich habe gehört, dass sogar Psychoanalytiker sich selbst nicht analysieren können. Was ist da dran?

Gruss und Cave Canem

wobei Freud …
mit der Psychoanalyse deutlich weitergegangen ist als Sokrates.
In welchem Sinne weiter?

Gruss und Cave Canem

Ferner ist es wirklich seltsam, dass es Dinge gibt, die der
Mensch an sich nicht erfassen kann,

Wirklich?

Stellen wir uns vor, das Leben sei ein Film. Aus welcher Kameraperspektive sieht man die Geschehnisse?

Oder stellen wir uns vor, das Leben sei ein Roman. Ist man der allwissende Erzähler oder der Ich-Erzähler?

In der Psychologie gibt es einen Fachausdruck dafür, der auf die unterschiedlichen Perspektiven von Handelndem und Beobachter abzielt: der Actor-Observer-Bias. Damit ist gemeint, daß Handelnde und Beobachter jeweils andere Perspektiven einnehmen und deshalb die Wahrnehmung dessen, was geschieht, von unterschiedlichen Faktoren beeinflußt ist. In Bezug auf das eigene Verhalten ist man Handelnder, in Bezug auf das Verhalten anderer Beobachter. Als Handelnder kennt man einen Teil der Faktoren, die das eigene Verhalten bestimmen (z.B. seine Gedanken, seine Gefühle). Als Beobachter dagegen sieht man einen Teil der Faktoren, die das Verhalten der anderen bestimmen. Man selbst kennt jedoch nicht alle das Verhalten beeinflussenden Faktoren, denn man sieht sich selbst nie unbeteiligt von außen - und selbst wenn man das könnte, dann hätte man keinen Zugang zu der Innenperspektive (z.B. zu den Gedanken und Gefühlen). Andersherum hat man zwar als einziger Zugang zu seinen eigenen Gedanken und Gefühlen, aber die anderen sehen stärker, was das Verhalten von außen beeinflußt.

so dass es dazu einen Spezialisten bedarf.

In den seltensten Fällen braucht man hoffentlich einen Spezialisten. Jede® kann prinzipiell dazu beitragen, daß man einmal die Perspektive ändert.

Ich habe gehört, dass sogar Psychoanalytiker sich selbst nicht
analysieren können. Was ist da dran?

Einige der von der Psychoanalyse behaupteten unbewußten Prozesse, die bei einem Menschen stattfinden sollen, sind ihm selbst nicht bewußtseinsfähig, so daß man selbst nichts von ihnen wissen kann. Es wird mit Freuds Genialität erklärt, warum es gerade Freud durch angebliche Selbstanalyse z.B. seiner Träume gelungen sei, Zugang zu eigenen unbewußten Prozessen gefunden zu haben (-> Heroisierung des Gurus). Im Laufe der frühen psychoanalytischen Geschichte wurde dann die Lehranalyse eingeführt, u.a. deshalb, weil das behauptet wurde, was Du schreibst. Die Lehranalyse wurde zu einer Zeit eingeführt, in der sich bedeutende Schüler Freuds von ihm getrennt haben, weil sie theoretische Vorstellungen entwickelten, die Freud nicht tolerieren wollte. In der psychoanalytischen Bewegung gab es damals mehrere Beschlüsse, die die Einheit der psychoanalytischen Theorie (d.h. das, was Freud derzeit für richtig hielt) bewahren sollten. Darunter fiel auch der Beschluß, daß jeder, der sich Psychoanalytiker nennen wollte, sich einer Lehranalyse unterziehen mußte. Die Lehranalyse war (und ist) daher auch ein Mittel, die nachwachsende Generation auf Linie zu bringen.

Grüße,

Oliver Walter

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Das Risiko ist ziemlich groß.
Hallo,

der Irrtum steckt hier:

Gewinn von Erkenntniss … verändert nichts am Subjekt

denn ein Subjekt verändert sich (im Gegensatz zum Objekt, bei dem du das richtig benannt hast) schon durch Erkenntnis über sich selbst.
Sehr deutlich kann man das z. B. bei sozial nicht anerkannten Verhaltensformen sehen.

Stell dir z. B. jemanden vor, der an sich selbst entdeckt, dass er homosexuell ist. Er mag Schuldgefühle entwickeln oder sein Outing vorbereiten: ganz gleichgültig, was er tut, aber die Erkenntnis seiner selbst hat ihn als Subjekt (nicht als Objekt) verändert.

Natürlich ist ein solcher Fall besonders augenfällig, aber genau darum, weil andere Fälle vielleicht weniger gut sichtbar sind, ist bei diesen weniger auffälligen Situationen erst recht Vorsicht geboten, weil die Veränderung sozusagen „schleichend“ vor sich geht.

Im schlimmsten Fall könnte jemand der Meinung sein, er habe sein Leben verpfuscht - und wo so etwas enden kann, kannst du dir vielleicht selbst denken. Der Maieutiker würde in so einem Fall mitverantwortlich für Suizid werden können. Es würde aber auch schon reichen, wenn die Bewusstmachung zu dauerhaftem Unglücklichsein führen würde.

Manchmal ist es einfach besser, nicht alles über sich selbst zu wissen. Zu entscheiden, wann das der Fall ist und wann nicht, gehört zu den schwierigsten Entscheidungen im sokratischen Gespräch, weshalb gerade an dieser Stelle große Vorsicht geboten ist. Denn genau hier wären die Folgen eines Irrtums fatal.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

mit der Psychoanalyse deutlich weitergegangen ist als
Sokrates.
In welchem Sinne weiter?

Freud hat bestimmte, sich regelhaft entwickelnde Abläufe in der Kindheit und Prozesse zwischen zwei Personen näher untersucht. Er sah, dass „Übertragung“ von Kindheitsgefühlen und -vortellungen ubiquitär ist und immer zwischen zwei Personen stattfindet, insbesondere aber in der speziellen, ein Stück weit „künstlich“ gehaltenen Situation der Psychoanalyse, wo der Patient auf der Couch liegt (also entspannt und regredierend sein kann) und der Analytiker hinter ihm sitzt. In diesem „Setting“ kann eine besondere Form der Übertragung stattfinden: Der Patient überträgt einen Teil seiner frühen Erafhrungen und Gefühle auf den Analytiker, den er nicht ständig sieht und in dem er unbewußt eine Art patchwork-Gegenüber hat, welches sich aus den Eltern und anderen frühen Bezugspersonen zusammensetzt. In dieser speziellen Situation soll er sagen, was ihm so durch den Kopf geht; ebenso werden Träume besprochen.
Natürlich ließe sich hier schier endlos weiter ausführen, aber ich denke, dass wäre zunächst einmal eine Beschreibung der Fortführung des sokratischen Dialogs in der Gegenwart.
Es grüßt Dich
Branden

vermeintliche Sokratische Technik
Hallo,

deine Schlußempfehlung cave canem gibst du durchaus zurecht. Denn sehr leicht liegt die Rede von der „sokratischen Methode“ auf der Zunge, doch, worin sie eigentlich besteht und - vor allem - welchen Zweck sie hatte, davon ist dann meist nicht mehr die Rede. Es ist eine regelrechte intellektuelle Schickeria-Mode geworden, schlicht, wenn man allein die ungeheuere Bedeutung des Fragens für den Dialog erahnt hat, schon zu meinen, das habe etwas mit „Sokratischem Gespräch“ zu tun, oder, noch besser, man meine, allein, weil man Fragen stellt, bereits sokratische Technik anzuwenden.

Der von Thomas empfohlene Autor Stavemann
ISBN 3621274960 Buch anschauen
den auch ich empfehlen kann zu einer allgemeinverständlichen Einführung in dieses höchst komplexe Gebiet, bemängelt ebenfalls:

„Auch in der Literatur wird häufig lediglich auf die Anwendung der Methode verwiesen, ohne sie selbst explizit zu beschreiben oder darzustellen. Werden aber doch Beispiele angeführt, läßt sich auf Anhieb oft nicht erkennen, worin denn nun genau die sokratische Methode besteht. Zu sehr unterscheiden sich die Vorgehensweisen im Stil, insbesondere in der Direktivität, der Fragetechnik und bei der Enthaltsamkeit von Vorgaben durch den Therapeuten.“

Btw. auch gut:
Detlef Horster (1994): Das Sokratische Gespräch in Theorie und Praxis.
ISBN 3810011525 Buch anschauen

Sokrates hat eine bestimmte Komponente seiner Art der Gesprächsführung „Maieutik“ genannt. Als Sohn einer Hebamme war ihm diese Metapher sozusagen in die Wiege gelegt, ebenso, wie er auch aus der Tatsache, daß er selbst, wie sein Vater, Bildhauer war, metaphorischen Nutzen zog.

Übersehen wird aber bei der vermeintlichen „Anwendung“ der Methode, die nun wirklich keineswegs einfach im „Fragen“ besteht, welches Ziel er damit verfolgte. Es ging in der Philosophie damals um die Erforschung der Natur von „Begriffen“ und von „Wissen“: Woher haben wir die Begriffe? Was ist Wissen ? Und was ist Gewißheit?

Die von Platon teils (vermutlich) rekonstruierten und teils erfundenen sokratischen Dialoge, die Platon den Sokrates im Theaitetos auch reflektieren und kommentieren läßt, enthalten eine Menge spezieller Techniken. Dazu zählen die Verfahren der Periastik und Dialektik (nicht zu verwechseln mit der Dialektik bei Kant, Fichte und schon gar nicht mit der Hegels!!), der Elenktik, Ironie, Protreptik, ebenso wie die Formen der eristischen und sophistischen Schlüsse. Das sind alles Verfahren, die in der sokratischen Form des Fragens enthalten sind.

Aristoteles hat sie (z.B. in „Sophistische Widerlegungen“) weiterentwickelt und präzisiert, teils auch kritisiert, und erst in der Stoa wurde erkannt, daß sie auch der Analyse eigener Empfindungen dienlich sein kann. Leonard Nelson („Das sokratische Gespräch“ 1922, „Die sokratische Methode“ 1993) und Gustav Heckmann („Das sokratische Gespräch“ 1993") machten Ansätze für die Philosophie und Albert Ellis modifizierte einen gewissen Anteil der Methode für seine Rational-Emotive Therapie, indem er davon ausging, daß rational nicht rekontruierbare Grundannahmen im Denken der Auslöser für psychische Dispositionen bzw. Dysfunktionen seien.

Ist es möglich allein durch nachfragen auf die Ursache jedes
Komplexes zu kommen? Und ist es ferner möglich allein durch
die so gewonnene Einsicht einen Lösungsansatz zu finden?

Das kommt eben auf die spezielle Methode des „Nachfragens“ an. Wie ja schon von anderen erwähnt wurde, sind dem Probanden ja gerade bei sog. „Komplexen“ (die in der psychoanalytischen Auffassung auf unbewußten, un"verarbeiteten" Konflikten beruhen) die Ursachen rational nicht bewußt. Da hilft auch ein „Nachfragen“ nichts. Sehr wohl kann aber die Beobachtung der Reaktion auf Fragen den Verlauf der Gespräche in eine Richtung bringen, die nach und nach eine „Einsicht“ zu Folge haben. Aber wie schon von anderen erwähnt, wird das in vielen Therapieformen auch längst gemacht. Nur: Das hat dann mit den Verfahren des Sokrates bzw. Platon nur noch wenig zu tun.

Die originalen bzw. von Platon rekonstruierten und erfundenen Gespräche
des Sokrates hatten Erkenntnisziele, die für die Psychotherapie überhaupt nicht relevant sind. Sie setzten ferner voraus, daß sich der Gesprächspartner auf die „Vorlagen“ des Sokrates (bzw. des vermeintlich „sokratisch“ agierenden Therapeuten) überhaupt einläßt. Aber genau das ist bei neurotischen Störungen und insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen diverser Art gerade das Problem. Selbst bei den platonischen Dialogen findet man immer wieder Szenen, in denen das Gespräch ins Metagespräch übergeht (im Sinne von „Ha! Du willst mich austricksen!“).

Das psychische Geschehen ist viel zu komplex, als daß durch die simplifizierte Formel „Rede mal nur in Form des Fragens, dann kommt die Einsicht“ etwas zu gewinnen wäre. So läuft es nicht - und so hat auch Sokrates nicht argumentiert.

Sokrates hat ja gesagt: Die Wahrheit ist in jedem Menschen,
man muss nur darauf kommen. Stelle mir einen Psychologen vor
der genau die Hebammenfunktion erfüllt, dem Patienten also nur
den Weg angibt, sodass der Patient selber zur Erkenntnis
gelangt.

Die Theorie des Sokrates über theoretisches Wissen enthielt die These, daß dieses Wissen „an sich“ bereits vorhanden ist (das war der Ausgangspunkt für Platons Ideenlehre). Hier genügte also der provokante Anstoß (durch systematischen Zweifel z.B., oder durch vorgetäuschte Unwissenheit), um dieses Wissen zum _ ge wußten_ Wissen werden zu lassen. Das ist aber bei - um hier mal den psychoanalytischen Begriff zu verwenden - un be wußtem Wissen nicht der Fall. Die Bereitschaft, geboren zu werden bzw zu gebären, ist hier in der Regel gerade nicht vorhanden. Und um diese zu erzeugen, d.h. den „Widerstand“ zu umgehen, genügen die sokratischen Verfahren keineswegs …

Gruß

Metapher

Hallo liebe Leute

Auch wenn Metaphers langer Beitrag sehr gut ist und umfassend
scheint, finde ich, dass bisher etwas wichtiges uebersehen wurde.
Aber vielleicht irre ich mich da auch.

Ich meine folgendes: Die Fragerei von Sokrates ist doch nur
aufgesetzt. In Wahrheit hat Sokrates seine Meinung und geht nur zum
Schein gemeinsam mit dem Gespraechspartner auf Erkenntnissuche. Seine
Fragen sind meistens suggestiv und auch durch ihre Reihenfolge und
durch seine Reaktionen auf die Antworten lenkt er das Gespraech in
die von ihm gewuenschte Richtung.
Das Paradebeispiel ist fuer mich der Sklavenjunge, der einen
geometrische Lehrsatz entdeckt. In welchem Dialog Platons dies
vorkommt, habe ich nicht mehr im Gedaechtnis. Jedenfalls sitzt
Sokrates mit einem Freund irgendwo gemuetlich unter einem Olivenbaum,
jeder hat seinen ouzo und seinen oinos, so meine Fantasie, und der
Freund will nicht glauben, dass jeder Mensch schon alles wisse, er
dieses Wissen aber entdecken muesse. Er, Sokrates, helfe nur dabei.
Zum Beweis pfeift er einen jungen Sklaven heran, der von Geometrie
nichts versteht. Er laesst ihn ein Viereck oder so etwas in den Sand
malen und stellt eine Reihe von Fragen bis der Sklave eine allgemeine
Eigenschaft, einen Lehrsatz, entdeckt.
Sokrates hat nichts vorgesagt aber seine Fragen waren sehr suggestiv,
ich glaube meistens musste der Sklave nur zwischen ja und nein
waehlen. Was meint ihr: Haette Sokrates mit dem Jungen nicht auch die
Geometrie einer Kugeloberflaeche entdecken koennen?
Meine Antwort: Nein. Der Sklave konnte durch Sokrates’ Fragen nicht
mehr entdecken, als Sokrates schon vorher wusste.
Meine Vermutung: Auch in der Psychologie kann die Erkenntnis des
Patienten ueber sich selbst die des Psychologen ueber ihn kaum
uebersteigen, denn wenn der Psychologe nicht schon weiss, was Sache
ist, wird er nicht in der Lage sein, gezielte und suggestive Fragen
zu stellen, sondern er wird einfach auf’s Geratewohl fragen und sich
so eine Ansicht entwickeln, die er dann vielleicht mit der Maeeutik
auf den Patienten uebertragen kann, so dass dieser das Gefuehl hat,
er haette sich selbst entdeckt.

Gruss, Tychi

sokratische Dialoge
Hi Tychi,

Das Paradebeispiel ist fuer mich der Sklavenjunge, der einen
geometrische Lehrsatz entdeckt. In welchem Dialog Platons dies
vorkommt, habe ich nicht mehr im Gedaechtnis.

Diese Szene gibt es im Menon.
Es geht um die Frage, wie konstruiert man mit geometrischen Mitteln zu einem gegebenen Quadrat ein solches mit doppeltem Flächeninhalt. Man wußte, daß dessen Seitenlänge zu der des ersten in einem nicht rationalen Verhältnis steht.

Daß der Dialog mit dem Sklavenjungen getrickst war, und nicht ganz das zeigt, was er zeigen sollte, steht auch außer Zweifel. Wenn Sokrates die Lösung nicht selbst schon gewußt hätte, hätte er diese Fragen nicht so stellen können.

Meine Vermutung: Auch in der Psychologie kann die Erkenntnis des :stuck_out_tongue:atienten ueber sich selbst die des Psychologen ueber ihn kaum :uebersteigen, denn wenn der Psychologe nicht schon weiss, was Sache :ist, wird er nicht in der Lage sein, gezielte und suggestive Fragen zu :stellen, sondern er wird einfach auf’s Geratewohl fragen …

Auf Gratewohl wird auch der Psychoanalytiker sicher nicht fragen. Ansonsten stimme ich dir zu. Da gibt es erhebliche Bedenken. Über meine Kritik an der Dialog- und vor allem _Deutungs_technik in der Psychoanalyse hatten wir uns ja schon mal ausgetauscht

http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…

und auch hier

http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…

Die Methode des Sokrates geht gerade darauf, vermeintlich sicheres Wissen (insbesondere über Begriffe) durch gezielte (und Unwissenheit vortäuschende) Fragen zu erschüttern (was ihn das Leben gekostet hat). Aber der Zweck dieser Aktionen war der, den ich im Artikel unten erwähnte: Es ging um die Erforschung der Natur von Begriffen und Wissen überhaupt - und um seine Theorie darüber.

Gruß

Metapher

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Hallo Thomas,

Im schlimmsten Fall könnte jemand der Meinung sein, er habe
sein Leben verpfuscht - und wo so etwas enden kann, kannst du
dir vielleicht selbst denken. Der Maieutiker würde in so einem
Fall mitverantwortlich für Suizid werden können. Es würde aber
auch schon reichen, wenn die Bewusstmachung zu dauerhaftem
Unglücklichsein führen würde.

Manchmal ist es einfach besser, nicht alles über sich selbst
zu wissen.

Kannst Du das ein wenig klarer sagen?

Ich möchte auf Dein Beispiel bezug nehmen „das Leben verpfuscht haben“.

Unter „Bewußtmachung“ verstehe ich drei Schritte:

erstens eine Bestandsaufnahme dessen, was ist (und dazu kann das Eingeständnis gehören, im bisherigen Leben einen schweren Fehler gemacht zu haben),

zweitens ein wertfreies Akzeptieren dessen, was bei dieser Bestandsaufnahme herausgekommen ist, und

drittens das Entwickeln eines Ausblicks, einer klaren Sicht auf die Möglichkeiten, die es im Leben nun immer noch oder trotzdem oder auch gerade deshalb gibt.

Wenn jemand zum Schluß kommt, er habe sein Leben verpfuscht, so ist das keine nüchterne Lagebeurteilung, sondern ein wertendes Urteil (schlimmstenfalls mit der Konsequenz: darum ist das Leben nicht mehr lebenswert). Er steht immer noch im ersten Schritt und die Bewußtmachung ist nicht zu ihrem Ende gekommen.

Deshalb denke ich, das Problem besteht weniger darin, daß bestimmte Dinge nicht an das Tageslicht des Bewußtseins kommen sollten, sondern es besteht für den Therapeuten oder Maieutiker die Aufgabe, die betreffende Person behutsam über alle drei o. g. Schritte zu begleiten.

Daß diese Aufgabe mitunter sehr schwierig ist, kann ich mir vorstellen (z. B.: Thema Schuld). Wenn sie gelingt, denke ich aber, daß die Bewußtwerdung grundsätzlich in jedem Fall ein Gewinn ist.

Liebe Grüße,

I.

Hallo,

Manchmal ist es einfach besser, nicht alles über sich selbst
zu wissen.

Kannst Du das ein wenig klarer sagen?

Erkenntnis kann unter Umständen ziemlich desillusionierend sein. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht völlig in Ordnung, aber aus Alltagssicht nicht immer wünschenswert, weil Illusionen durchaus motivierend sein können bzw. fehlende Illusionen zu Stagnation führen können („es hat ja doch alles keinen Zweck“). Es macht ja auch den Reiz des Lebens aus, dass wir eben nicht alle gleich sind. Wären wir alle gleich, würde das Leben sehr schnell langweilig oder uninteressant werden. Wissenschaft nimmt darauf - zu Recht - keine Rücksicht, aber nicht jeder Mensch ist ein Wissenschaftler. Manche Menschen brauchen einen gewissen Spielraum, ich würde sogar behaupten, dass den alle Menschen benötigen. Selbstverständlich kann man prinzipiell alles auf dieselben Triebe, ja möglicherweise sogar auf Molekular- oder Atomebene zurückführen. Aber dieser Reduktionismus ist für das Wohlbefinden eines Menschen wenig hilfreich, eher sogar schädlich.

drei Schritte

Das Schema ist in Ordnung. Die entscheidende Schwierigkeit entsteht meiner Ansicht nach beim zweiten Punkt.

zweitens ein wertfreies Akzeptieren dessen, was bei dieser
Bestandsaufnahme herausgekommen ist, und

Die Wertfreiheit ist objektiv vielleicht wünschenswert, subjektiv aber ist sie kaum erreichbar und auch schädlich. Das Problem sind gerade die Werte, über die wir subjektiv selten genügend nachdenken. In der Regel übernehmen wir die Werte aus unserer unmittelbaren Umwelt, von den Eltern, von den Lehrern, von den Vorbildern. Wir denken aber selten darüber nach, ob unsere Werte „noch stimmen“.
Daher hast du ganz Recht, wenn du sagst:

Wenn jemand zum Schluß kommt, er habe sein Leben verpfuscht,
so ist das keine nüchterne Lagebeurteilung, sondern ein
wertendes Urteil (schlimmstenfalls mit der Konsequenz: darum
ist das Leben nicht mehr lebenswert). Er steht immer noch im
ersten Schritt und die Bewußtmachung ist nicht zu ihrem Ende
gekommen.

Nur ist die „nüchterne Lagebeurteilung“ nicht nur den meisten Menschen, sondern - so meine ich - allen Menschen (oder meinetwegen fast allen) unmöglich. Und wenn du schreibst:

Deshalb denke ich, das Problem besteht weniger darin, daß
bestimmte Dinge nicht an das Tageslicht des Bewußtseins kommen
sollten, sondern es besteht für den Therapeuten oder
Maieutiker die Aufgabe, die betreffende Person behutsam über
alle drei o. g. Schritte zu begleiten.

dann hast du natürlich auch Recht, und genau das zu zeigen war meine Absicht, dass nämlich jemand, der nicht ganz genau weiß, was er mit der Maieutik erreichen will und was er überhaupt erreichen kann, tunlichst die Finger von solchen Experimenten lassen sollte. In harmlosen Bereichen ist das unproblematisch, aber die Grenzen sind fließend und nicht leicht erkenn- bzw. einschätzbar.

Daß diese Aufgabe mitunter sehr schwierig ist, kann ich mir
vorstellen (z. B.: Thema Schuld). Wenn sie gelingt,
denke ich aber, daß die Bewußtwerdung grundsätzlich in jedem
Fall ein Gewinn ist.

Ich bin ganz deiner Meinung, würde aber die Formulierung kritisieren. Richtig ist, dass die Bewusstwerdung ein Gewinn ist, wenn sie gelingt. Das aber bedeutet eben auch, dass sie es nicht"grundsätzlich" und auch nicht"in jedem Fall" ist.

Herzliche Grüße

Thomas Miller