vermeintliche Sokratische Technik
Hallo,
deine Schlußempfehlung cave canem gibst du durchaus zurecht. Denn sehr leicht liegt die Rede von der „sokratischen Methode“ auf der Zunge, doch, worin sie eigentlich besteht und - vor allem - welchen Zweck sie hatte, davon ist dann meist nicht mehr die Rede. Es ist eine regelrechte intellektuelle Schickeria-Mode geworden, schlicht, wenn man allein die ungeheuere Bedeutung des Fragens für den Dialog erahnt hat, schon zu meinen, das habe etwas mit „Sokratischem Gespräch“ zu tun, oder, noch besser, man meine, allein, weil man Fragen stellt, bereits sokratische Technik anzuwenden.
Der von Thomas empfohlene Autor Stavemann
ISBN 3621274960 Buch anschauen
den auch ich empfehlen kann zu einer allgemeinverständlichen Einführung in dieses höchst komplexe Gebiet, bemängelt ebenfalls:
„Auch in der Literatur wird häufig lediglich auf die Anwendung der Methode verwiesen, ohne sie selbst explizit zu beschreiben oder darzustellen. Werden aber doch Beispiele angeführt, läßt sich auf Anhieb oft nicht erkennen, worin denn nun genau die sokratische Methode besteht. Zu sehr unterscheiden sich die Vorgehensweisen im Stil, insbesondere in der Direktivität, der Fragetechnik und bei der Enthaltsamkeit von Vorgaben durch den Therapeuten.“
Btw. auch gut:
Detlef Horster (1994): Das Sokratische Gespräch in Theorie und Praxis.
ISBN 3810011525 Buch anschauen
Sokrates hat eine bestimmte Komponente seiner Art der Gesprächsführung „Maieutik“ genannt. Als Sohn einer Hebamme war ihm diese Metapher sozusagen in die Wiege gelegt, ebenso, wie er auch aus der Tatsache, daß er selbst, wie sein Vater, Bildhauer war, metaphorischen Nutzen zog.
Übersehen wird aber bei der vermeintlichen „Anwendung“ der Methode, die nun wirklich keineswegs einfach im „Fragen“ besteht, welches Ziel er damit verfolgte. Es ging in der Philosophie damals um die Erforschung der Natur von „Begriffen“ und von „Wissen“: Woher haben wir die Begriffe? Was ist Wissen ? Und was ist Gewißheit?
Die von Platon teils (vermutlich) rekonstruierten und teils erfundenen sokratischen Dialoge, die Platon den Sokrates im Theaitetos auch reflektieren und kommentieren läßt, enthalten eine Menge spezieller Techniken. Dazu zählen die Verfahren der Periastik und Dialektik (nicht zu verwechseln mit der Dialektik bei Kant, Fichte und schon gar nicht mit der Hegels!!), der Elenktik, Ironie, Protreptik, ebenso wie die Formen der eristischen und sophistischen Schlüsse. Das sind alles Verfahren, die in der sokratischen Form des Fragens enthalten sind.
Aristoteles hat sie (z.B. in „Sophistische Widerlegungen“) weiterentwickelt und präzisiert, teils auch kritisiert, und erst in der Stoa wurde erkannt, daß sie auch der Analyse eigener Empfindungen dienlich sein kann. Leonard Nelson („Das sokratische Gespräch“ 1922, „Die sokratische Methode“ 1993) und Gustav Heckmann („Das sokratische Gespräch“ 1993") machten Ansätze für die Philosophie und Albert Ellis modifizierte einen gewissen Anteil der Methode für seine Rational-Emotive Therapie, indem er davon ausging, daß rational nicht rekontruierbare Grundannahmen im Denken der Auslöser für psychische Dispositionen bzw. Dysfunktionen seien.
Ist es möglich allein durch nachfragen auf die Ursache jedes
Komplexes zu kommen? Und ist es ferner möglich allein durch
die so gewonnene Einsicht einen Lösungsansatz zu finden?
Das kommt eben auf die spezielle Methode des „Nachfragens“ an. Wie ja schon von anderen erwähnt wurde, sind dem Probanden ja gerade bei sog. „Komplexen“ (die in der psychoanalytischen Auffassung auf unbewußten, un"verarbeiteten" Konflikten beruhen) die Ursachen rational nicht bewußt. Da hilft auch ein „Nachfragen“ nichts. Sehr wohl kann aber die Beobachtung der Reaktion auf Fragen den Verlauf der Gespräche in eine Richtung bringen, die nach und nach eine „Einsicht“ zu Folge haben. Aber wie schon von anderen erwähnt, wird das in vielen Therapieformen auch längst gemacht. Nur: Das hat dann mit den Verfahren des Sokrates bzw. Platon nur noch wenig zu tun.
Die originalen bzw. von Platon rekonstruierten und erfundenen Gespräche
des Sokrates hatten Erkenntnisziele, die für die Psychotherapie überhaupt nicht relevant sind. Sie setzten ferner voraus, daß sich der Gesprächspartner auf die „Vorlagen“ des Sokrates (bzw. des vermeintlich „sokratisch“ agierenden Therapeuten) überhaupt einläßt. Aber genau das ist bei neurotischen Störungen und insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen diverser Art gerade das Problem. Selbst bei den platonischen Dialogen findet man immer wieder Szenen, in denen das Gespräch ins Metagespräch übergeht (im Sinne von „Ha! Du willst mich austricksen!“).
Das psychische Geschehen ist viel zu komplex, als daß durch die simplifizierte Formel „Rede mal nur in Form des Fragens, dann kommt die Einsicht“ etwas zu gewinnen wäre. So läuft es nicht - und so hat auch Sokrates nicht argumentiert.
Sokrates hat ja gesagt: Die Wahrheit ist in jedem Menschen,
man muss nur darauf kommen. Stelle mir einen Psychologen vor
der genau die Hebammenfunktion erfüllt, dem Patienten also nur
den Weg angibt, sodass der Patient selber zur Erkenntnis
gelangt.
Die Theorie des Sokrates über theoretisches Wissen enthielt die These, daß dieses Wissen „an sich“ bereits vorhanden ist (das war der Ausgangspunkt für Platons Ideenlehre). Hier genügte also der provokante Anstoß (durch systematischen Zweifel z.B., oder durch vorgetäuschte Unwissenheit), um dieses Wissen zum _ ge wußten_ Wissen werden zu lassen. Das ist aber bei - um hier mal den psychoanalytischen Begriff zu verwenden - un be wußtem Wissen nicht der Fall. Die Bereitschaft, geboren zu werden bzw zu gebären, ist hier in der Regel gerade nicht vorhanden. Und um diese zu erzeugen, d.h. den „Widerstand“ zu umgehen, genügen die sokratischen Verfahren keineswegs …
Gruß
Metapher