Lieber Stefan Papp,
grundsätzlich wird eine Frage nach „dem“ Standardwerk der griechischen Mythologie immer auf die Qualität seiner Deutungsansätze abzielen. Diesbezüglich ist nicht das Alter eines Werkes entscheidend, sondern dessen wissenschaftliche/inhaltliche Gültigkeit.
Ich persönlich habe mich nie auf ein „Werk“ beschränkt, wenngleich meine Neigung stets zu Robert von Ranke-Graves ging. Von Ranke-Graves und Kerenyi haben gleichermaßen auch verschiedene Variationen einzelner Themen (z.B. diverse Schöpfungsmythen) behandelt und damit für einen hinreichenden Überblick gesorgt.
Andere zeitgenössische Betrachtungen hat es indes schon immer gegeben und sind teilweise sogar in vergangene Lyrik und Prosa eingedrungen (z.B. bei Goethe und wissenschaftlich seriöser in den Schriften Schillers; „Briefe an den Herzog von Augustenburg“). Die damit verbundene Deutung der klassischen Vorbilder unterliegt jedoch zwangsläufig ihrer Prägung durch den jeweiligen Zeitgeist, bzw. der beabsichtigten philosophischen Aussage. Von wissenschaftlich nachhaltig relevanten Deutungsansätzen kann also nur bedingt die Rede sein.
Unter dem Stichwort „Standardwerk“ möchte ich die folgenden Empfehlungen einreihen:
- Metzler Lexikon, „Literatur- und Kulturtheorie“, Herausgegeben von Ansgar Nünning (Verlag Metzler 1998)
- Elisabeth Frenzel, „Stoff-, Motiv- und Symbolforschung“ (Metzlerische Verlagsbuchhandlung 1963)
- Hans Kloft, „Mysterienkulte der Antike“ (C.H. Beck Verlag 1999)
In Verbindung mit von Ranke-Graves und Kerenyi bilden diese Publikationen noch heute die Grundlage für die Einführung in die Mythologie der Griechen. Auch „modernere“ Autoren wie Stefan Arens oder Herbert Jennings Rose („Griechische Mythologie - Ein Handbuch“, Beck’sche Reihe, 2. Auflage, 2007) haben sich dieser Quellen hinlänglich bedient.
Darüber hinaus wird man bei einer Vertiefung des Themas nicht um divergente Einzelbetrachtungen herumkommen. Alleine die Zuordnung von Deutungen der Person „Iphigenie“ bedarf einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Problematik von Rezeptionen klassischer Texte. So könnte eine intensivere Behandlung der „Iphigenie“ leicht über Erika Fischer-Lichte zu Peter Szondi und in das klassische Drama führen.
Wie Sie sehen, ist eine konkrete Beantwortung Ihrer Frage von Intention und Motivation abhängig, mit denen Sie sich der Mythologie widmen wollen.
Die Wege sind schier grenzenlos! Man sollte sie tunlichst nicht auf „überholte“ und „moderne“ Ansätze verkürzen.
Mit freundlichen Grüßen
Thorsten Lueg