Über Substanz, Negativität und gemietete Pärchen
Hi Candide.
Wenn Menschen zueinander in Ding- bzw. Warenbeziehungen stehen, führt das zur Entfremdung, was wiederum, allgemein gesagt, eine Pervertierung des Lebens bedeutet.
Es ist für mich schwierig, hier aus dem Stand das Verhältnis der Vernunft zur Verdinglichung festzuhalten.
Die Darstellung in meinem letzten Beitrag zusammengefasst lautet: Für Adorno führt der Weg von der (denkenden) Vernunft über den Begriff (das Allgemeine) zur Verdinglichung (Pseudo-Identifizierung des Nichtidentischen=Besonderen).
Ich würde hier v.a. den Begriff des „Lebens“ raushalten, denn das Denkmuster, das du hier vorbringst, „Vernunft pervertiert Leben“ ist bekanntlich eines der Haupttheoreme irrationalistischer/vitalistischer Strömungen in der Philosophie…
In den Minima Moralia gibt es Adornos Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Ich schrieb vom pervertierten Leben (natürlich beim Versuch, Adornos Position zu umschreiben, die nicht meine ist). Beide Verwendungen sind umgangssprachlich, nicht ontologisch.
Hier muss man Hegels Dialektik betrachten, die, für Adorno, eben jene Vernunft widerspiegelt, die die Dynamik der ökonomischen Vereinnahmung der Individuen und damit ihre Entfremdung vorantreibt.
Nur um einem Missverständnis vorzubeugen: weder Hegel noch Adorno lehnen aber natürlich das begriffliche Denken ab.
Natürlich n i c h t - das habe ich bei Hegel ganz klar ausgedrückt: dass für ihn das Prinzip des Denkens das Prinzip des S e i n s ist. Die Bewegung des Begriffs ist für Hegel gleichbedeutend mit dem Prozess der absoluten Selbsterkenntnis. Wie könnte er also den Begriff ablehnen?
Bei Adorno hat das Denken die kritische Funktion des In-Frage-Stellens, was ja schon aus dem Wort von der negativen Dialektik hervorgeht. Er lehnt nur Hegels Hochschätzung des Allgemeinen ab, nicht das Denken als solches.
Bei Hegel wird das insofern schon klar als die Passage, die du hier zitierst (ist Bd.7 denn die Phänomenologie?)…
„Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Theorie Werkausgabe in 20 Bänden, Suhrkamp.
Nun wäre aber ein Sammelsurium von Widersprüchen noch keine Totalität, wenn sie nicht in einem Punkt zentriert wäre, der alle Divergenzen als ein Gravitationszentrum zusammenhält.
Das ist genau das Denkmuster „expressiver Totalität“, durch das Althusser Hegel charakterisiert - in Gegensatz zur „strukturalen Totalität“ des späten Marx.
- Ich sehe da aber schon einen Unterschied zwischen der „Ware = Fetisch“ als Nabe der sozialen Totalität und dem Weltgeist als (vermeintlicher) Einheit, aus der die Strukturen der Welt hervorgehen.
Schließlich wird die kapitalistische Totalität nicht von der Ware erzeugt, sondern durch die Produktionsverhältnisse (oder, dahinter stehend, durch die instrumentale Vernunft). Die „Ware“ als Fetisch ist nur ein imaginärer Faktor mit realer Wirkung. Sie ist, wie ich schrieb, ein Gravitationszentrum, nicht aber die Schwerkraft selbst (= Produktionsverhältnisse).
- Hier sind wir an einem Punkt, der eine wichtige Frage aufwirft:
Denkt Hegel die Einheit oder die Entzweiung als Urprinzip ? Mit den Althusserschen Begriffen: ist die Totalität des Weltgeistes expressiv oder struktural?
Angeregt durch Zizek neige ich dazu, letzteres anzunehmen. Die Hegelsche absolute Idee bedeutet nicht, dass die Totalität eine einheitliche Substanz ist, weder zu Beginn noch am Ende der Geschichte. Ich will im Folgenden eine Lanze für Hegel brechen – gegen Adornos und Derridas Missverständnis seiner Lehre.
Zunächst der ein bisschen gekürzte Schluss der „Phänomenologie“ (Das absolute Wissen):
„Indem seine (des Weltgeistes, H.Tr.) Vollendung darin besteht, das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist dies Wissen sein In-sich-gehen, in welchem er sein Dasein verlässt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt. In seinem In-sich-gehen ist er in der Nacht seines Selbstbewusstseins versunken, sein verschwundenes Dasein aber ist in ihr aufbewahrt, und dies aufgehobene Dasein – das vorige, aber aus dem Wissen neugeborene – ist das neue Dasein, eine neue Welt und Geistesgestalt. In ihr hat er ebenso unbefangen von vornen bei ihrer Unmittelbarkeit anzufangen und sich von ihr auf wieder großzuziehen, als ob alles Vorhergehende für ihn verloren wäre und er aus der Erfahrung der früheren Geister nichts gelernt hätte (… ) Das Geisterreich, das auf diese Weise sich in dem Dasein gebildet, macht eine Aufeinanderfolge aus, worin einer den andern ablöste und jeder das Reich der Welt von dem vorhergehenden übernahm. Ihr Ziel ist die Offenbarung der Tiefe, und diese ist der absolute Begriff, diese Offenbarung ist hiermit das Aufheben seiner Tiefe oder seine Ausdehnung, die N e g a t i v i t ä t dieses insichseienden Ich, welche seine Entäußerung oder S u b s t a n z ist, – und seine Zeit, dass diese Entäußerung sich an ihr selbst entäußert und so in ihrer Ausdehnung ebenso in ihrer Tiefe, dem Selbst ist (…) beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur –
aus dem Kelche dieses Geisterreiches
schäumt ihm seine Unendlichkeit.“
Soweit Hegel. Die Begriffe, auf die es mir gleich ankommt, habe ich hervorgehoben (Negativität, Substanz).
Adorno und Derrida (sowie andere Franzosen) unterstellen Hegel, von absoluter Identität als dem absolut Wahren zu sprechen. Daraus leiten sie ab, dass sein Denken totalitäre Strukturen legitimiert.
Zizek hält dagegen (mit seiner gewohnten Frechheit), dass Hegel im Gegenteil noch viel mehr ein Philosoph der Differenz sei als die Poststrukturalisten selbst. Die nämlich zementieren lediglich das Identische, indem sie diesem (A) ein Nicht-A (das Nichtidentische, die Differenz) entgegensetzen. So bleibt das Nicht-A im symbolischen Rahmen von A (dem Identischen). Das A bleibt unüberwunden, denn es definiert Nicht-A als sein Anderes. Das Nicht-A ist nur bestimmbar über das A, also das, was es eigentlich negieren will. Der symbolische Rahmen, der Nicht-A hervorbringt, ist immer auch der gleiche, der A hervorbringt.
Erst Hegels doppelte Negation überwindet die gemeinsame Ebene von A und Nicht-A. Diese Bewegung führt nicht nur zu einem A1, sondern kraft der Negativität zu A2, usw. usf. Es gibt kein Stillstehen, weder bei der These noch der Antithese noch der (scheinbaren) Synthese.
Denn Hegels Weltgeist ist Subjekt, Substanz und Negativität zugleich, er ist ein Prozess, der nie zum Stillstand kommt, selbst nicht im Moment der absoluten Selbsterkenntnis (siehe Zitat aus der PhdG).
Der Weltgeist ist Subjekt, aber ein gespaltenes, er ist Substanz, aber eine gespaltene – und er ist Negativität, welche der Prozess der kontinuierlichen Spaltung ist. Hegel sagt: „Die Negativität i s t seine (des Geistes) Substanz.“
Hat es je ein poststrukturalistischeres Statement gegeben? Was Derrida als differance konzipiert, ist bei Hegel schon klar vorgezeichnet. Nur dass dieser nicht bei der einfachen Differenz stehen bleibt, sondern den Prozess komplexer denkt – als steten Wechsel von Spaltung und Vereinigung, Spaltung und Vereinigung.
Wobei die Spaltung (die Negativität) aber das ontologische Prinzip ist und die Vereinigung nur ein Schein, der ständig vergeht.
Nochmal Hegel: „… der absolute Begriff, diese Offenbarung ist hiermit das Aufheben seiner Tiefe oder seine Ausdehnung, die N e g a t i v i t ä t dieses insichseienden Ich, welche seine Entäußerung oder S u b s t a n z ist …“
Hier kann man klar erkennen, dass dieses Ich des Weltgeistes substanziell keine Einheit bildet, also keine homogene Identität hat oder ist, sondern Negativität „ist“: Die Negativität ist die Substanz des Weltgeistes.
Woraus – zwingend, würde ich sagen – folgt, dass Hegels Totalität keine expressive, also auf Einheit beruhende Totalität ist. Sie ist durch und durch struktural, aus Differenzen gebildet.
Ich behaupte halt, eben hier im Anschluss an Althusser und dessen Nachdenker, dass man die Funktionslogik der Gesellschaft nicht aus der Warenlogik ableiten kann, sondern dass sie Eigenkomplexität gegenüber der Sphäre des Ökonomischen besitzt.
Meine Althusser-Kenntnisse muss ich noch auffrischen (bis nächste Woche), ich wollte erst Adorno über die Bühne bringen und natürlich „meinen“ Hegel verstärkt ins Feld führen.
Ich höre gerade in Endlosschleife Pink Floyd, Set the Controls for the Heart of the Sun und überm Schreibtisch hängt ein Kunstposter von einem frühen Dalí.
Yep, diese Floyd-Scheibe („Ummagumma“ = Slang für GSV) habe ich früher kultisch verehrt. Ihr bestes Produkt, finde ich. Und Dali ist sowieso ein Renner (er war übrigens impotent und mietete junge Pärchen, um ihnen zuzuschauen. Mit Gala lief nichts).
Es gibt doch auch sowieso nichts bürgerlicheres als den Sadomasochismus.
Nun, prinzipiell wäre dazu zu sagen, dass SM eben das dialektische Andere des Bürgertums ist. Es ist seine Antithese, sein verdrängter Schatten, der Hyde des Dr. Jekyll.
Mehr dazu, wenn wir irgendwann in diesem Theater den Marquis de Sade aufarbeiten…
Gruß Horst
PS. Wie üblich erst Montag wieder.