Goldhagen, Kollektivschuld, Propaganda
Hallo smalbop,
Wenn schon nicht jedes geschichtliche Ereignis absolut ist, würdest
du ihm dann wenigstens den Status einer Singularität zugestehen?
Bzw. unter welchen Voraussetzungen?
Singularität ist ein Etikett, das dann auf die Flasche kommt, wenn Vergleiche hinken. Dies ist auf eine gewisse Weise bei jedem geschichtlichen Ereignis der Fall, da jedoch nicht in jedem Fall der Vergleich stört, bekommt das Wort seine Anwendung, falls jemand den Eindruck hat, der Vergleich hinke in störender Weise. Wenn also etwa jemand sagt, das einzige schwarze Schaf in der Herde sei eben schwarz und gehöre somit nicht dazu, dann bezeichnet er das Schaf als singulär, weil z. B. die schwarze Wolle gesondert zu scheren ist; wenn das Gegenüber kommt und ruft, das schwarze Schaf müsse doch das gleiche Gras fressen wie die weissen, dann legt er Wert darauf, dies sei keine Singulariät.
Ein Ereignis bezeichne ich somit als singulär, wenn es relativ unvergleichlich ist innerhalb des Gedankenaustausches, bzw. wenn ich ihm bestimmte einzelne Merkmale des Vergleichens entziehe. Erst wenn ich ihm alle entziehen würde, wäre das Ereignis absolut.
In gewissem Sinn ist jeder Fall ein Einzelfall. Solange der Mensch aber glaubt, durch die Sprache sich annähern oder eben vergleichen zu können (per Analogie oder Namensnennung usw.), solange hat auch jede Sache eine kleinere oder grössere Beschreiblichkeit - und sei sie im Extremfall auch nur durch „unbeschreiblich“ wiederzugeben.
Die ganze Fragestellung, ob es überhaupt erlaubt und zulässig ist,
den Holocaust als einen Völkermord unter vielen zu sehen, ist
weniger von wissenschaftlichen Motiven getrieben als vielmehr von
solchen des Moralismus
Das ist zu bestätigen, allerdings lege ich Wert darauf, festzusetzen, was hier unter „Moralismus“ zu verstehen ist. Ich denke das ist wohl ein Gemisch von Moral, Politik, Diskurs und Menschenverstand. - Vielleicht ist hier ein kleines Timeout im Sinne des „Redens über das Reden“ angebracht. Wir befinden uns im Geschichtsbrett. Es ist kaum zu bezweifeln, dass dieses sowohl Elemente der Geschichtsphilosophie (Wissenschaftstheorie usw.) und der Geschichtswissenschaft als auch Elemente der Politik und des einfachen Diskurses enthält. „Moralismus“ hat hier zwar seinen Platz, aber er ist grundsätzlich zu kennzeichnen, ebenso wie die anderen Elemente von Zeit zu Zeit gekennzeichnet werden müssen, dann schreibt man nämlich ein bisschen weniger aneinander vorbei. Bleibt die Anmerkung, dass es manchmal im Leben richtig ist, aneinander vorbeizuschreiben, damit man einander nicht „verabsolutiert“.
Dass andere auch Verbrechen begehen, ändert meine Verbrechen nicht
ein bisschen
aber es ändert die Konsequenzen, die Du daraus ziehst
Kommt sie denn
Ich kann sie nicht finden, d. h. keinerlei eigentliche Absolutheit (in meinem Sinn) feststellen, solange die betrachtete Sache in Kategorien der Moral passt. Streng genommen kommt sie erst, wenn die Sache buchstäblich „jenseits von Gut und Böse“ ist. Also etwa wenn es um Gott geht. Einen Grenzfall haben wir, wenn es um den Tod geht, also auch hier in unserem Fall zum Teil, weil es hier zum Teil auch um den Tod geht. Ich setze aber die Grenze mit ganz bestimmtem Grund nicht diesseits des Todes, sondern jenseits des Todes.
Es ist völlig egal, wer Täter und wer Opfer ist und auf welche Weise
ein Völkermord begangen wird
Sag das zu einem Menschen, der gerade mitten im friedlichsten Dasein von einer Horde Hunnen überfallen wird und sich jetzt angeblich nicht gegen sie verteidigen soll, weil „Krieg“ ja „Völkermord“ sei.
Die Krux ist, dass jeder, auch der aggressivste Angreifer, sich irgendwo und irgendwie legitim auf das Selbstbehauptungsrecht stützen kann und unter irgend einem Blickwinkel (der r e l a t i v auf die Angelegenheit gerichtet wird) nichts als seine Existenz verteidigt.
Natürlich kann man hier einwenden, es gehe dann nicht gegen das Volk der Hunnen, sondern nur gegen die Kompanie, die gerade über den nächsten Hügel steigt. Aber eine andere Kompanie kommt nach, ist es da a b s o l u t verwerflich, auch vor dieser einen Wall aufzuwerfen?
notwendige Voraussetzung für die Tatmotivation
genau daran ist herumzuanalysieren. Wenn ich also „rechte“, d. h. die Motive abwäge, kann etwas relativ zu meinen Prämissen herauskommen: die Motive waren relativ schwerwiegend oder vernachlässigbar, relativ berechtigt oder unberechtigt und relativ präsent oder unterschwellig.
Dabei ist die Propaganda zwar nicht allmächtig, jedoch in bestimmtem Kontext durchaus tonangebend, und das auch ohne eigentliche Gehirnwäsche, weil sie Bedürfnissen Ausdruck verleiht.
Goldhagen ist ein geistiger Brandstifter
klingt nicht „absolut“ unangemessen, ist mir aber noch zu wenig detailliert. Hatte nicht Deutschland gewisse Dinge erlebt und gehört, die in andern Ländern so nicht abliefen? Waren hier nicht auch Dinge im Spiel, die ins 19. Jahrhundert (zum beginnenden Antisemitismus) zurückreichen? Gab es nicht einige Ereignisse, die zusammengenommen ein gemeinsames Schicksal Deutschlands in Bezug auf die Juden zur Besonderheit mit eigener Qualität machen, mit einer Qualität, die es sinnvoll erscheinen lässt, den Deutschen eine Besonderheit in Bezug auf die Juden zu unterstellen? Zustandegekommen durch viele Ereignisse wie Ausländerproblematik (jüdische Flüchtlinge aus Polen in den 20ern), jahrhundertelangen Antijudaismus bei Christen, Rolle der Banken vor und während 1. Weltkrieg, antisemitische Politik vor 1900 und Säkularisierung inkl. Erfolgen der Evolutionslehre?
Wenn ein Deutsches „Antisemitismusgen“ herausgefunden werden kann, kann es auch entschlüsselt werden. Nicht gesagt ist damit, ob es als Begriff brauchbar ist und wieviel es aussagt, bzw. was daraus für die Moral folgt. Mag es verwerflich sein, wenn ich meinen Feind umbringe. Mag es verwerflich sein, wenn ich jemanden aufgrund der Herkunft benachteilige. Beides zugleich ist ja immer noch ein Schritt mehr: also wenn ich jemanden benachteilige und dann auch noch zu meinem Todfeind mache, dann habe ich mehr als einen Schritt gemacht.
Meines Erachtens muss Goldhagen also genau unterscheiden (was er ja streckenweise auch tut): die Deutschen zu welchem Zeitpunkt? Wann haben sie das Gen? Und wie wird es aktiviert (schrittweise)? Woher ist es gekommen? Was rechtfertigt seinen Namen?
Gruss
Mike