Thomas von Aquins Ausstieg aus der Theologie?

Hi.

Eine häufig anzutreffende Anekdote in Thomas-von-Aquin-Darstellungen ist folgende, hier aus Maximilian Forschner, Thomas von Aquin, 22:

„Thomas … arbeitet unermüdlich am dritten Teil der Summa theologiae und verfasst weitere Aristoteles- und Bibelkommentare. Da versagen plötzlich die Kräfte. Am 5. Dezember 1273, nach einem Zusammenbruch (die Überlieferung spricht von einer mystischen Erfahrung) während einer Messfeier, soll er seinem Mitarbeiter Reginald von Piperno gesagt haben: ´Alles, was ich geschrieben habe, erscheint mir wie Stroh, verglichen mit dem, was ich geschaut habe und was mir offenbart worden ist´.“ (Klammerzusatz vom Autor)

Danach verfasste Thomas keine einzige Zeile mehr, weder an der Summa noch sonst wo. Was steckt hinter jener Erfahrung? Hat jemand genauere Infos darüber, z.B. aus der oben erwähnten „Überlieferung“?

Gruß

Hallo Horst,

die Anekdote findest Du in Ystoria sancti Thome de Aquino von Guillaume de Tocco, geschrieben zwischen 1318 und 1323. [C. LE BRUN GOUANVIC, Ystoria sancti Thome de Aquino de Guillaume de Tocco (1323). Studies and Texts, 127: Pontifical Institute of Medieval Studies, Toronto, 1996) 129-135.] Das genaue Zitat lautet: Omnia quae scripsi videntur mihi palee: Alles was ich schrieb erscheint mir wie Heu.

Guillaume de Tocco war der Hauptverantwortliche für den Kanonisierungsprozess und präsentierte eine erste Version der legenda 1318 Johannes XXII.

Heiligenlegenden gehen immer auf mündliche Überlieferungen zurück. (Im Übrigen, wie für einen Seligen- oder Heiligenprozess zuerst eine lokale Verehrungstradition bestehen muss. Die Geschichten, die damit einhergehen und man sich erzählt, werden dann - im Mittelalter zumindest - zusammengefasst und am Kanonisierungsprozess selbst für den zu Kanonisierenden vorgetragen. Von hier kommt übrigens der Ausdruck advocatus diaboli => das wäre dann der Anwalt der gegen die Heiligsprechung argumentiert.).

Bibelkommentare schrieb er allerdings während er die Tertia Pars schrieb, keine mehr. Oder besser sagen wir, es besteht in der Forschung Unklarheit darüber. Einige behaupten er habe noch an einem Kommentar zum Hohelied gearbeitet, um sich bei den Mönchen zu bedanken, bis zu seinem Todestag. Einige bestreiten das, da die Zisterzienser in Fossanova diesen Umstand ihrerseits nicht beschreiben.
An Aristoteleskommentaren arbeitete er allerdings sehr wohl, und zwar ausschliesslich an Kommentaren des naturwissenscahftlichen’ Werks Aristoteles’ (cf. im Mittelaler unter dem Titel Parva naturalia zusammengefasst). Daneben schrieb er noch weitere Kommentare auch zwischen 1272 und 1273 (also dem Zeitraum in dem er den dritten Teil der Summa verfasste: De substantiis separatis, sowie die Expositio libri posteriorum
Unfertig blieben: Sententia supra Metaphysica, De caelo et mundo, De generatione et corruptione.
Ausserdem wird die Verfassung des De motu cordis (vollständig) und eine weitere Fassung des Compendium theologiae (Pars: De Spe) in diese Zeit verlegt. Die Predigten über de Dekalog, über das Credo und Pater fallen auch in diese beiden Jahre.

Was nun hinter dieser Erfahrung steckt? Die Frage erscheint mir überflüssig, da es sich um - wie Du schon korrekt sagst - eine Anekdote handelt. Nicht mehr und nicht weniger. Um eine Episode, wie sie wahrscheinlilch Reginald selbst erzählt hat, die letztendlich aber keinerlei Aussagewert über den Dritten Teil der Summa hat.
Dieser ‚unvollendete‘ Teil konnte im Übrigen anhand von Notizen und dem Sentenzenkommentar vervollständigt werden.

Liebe Grüsse
Y.-

Besten Dank, schöne Frau.