r*tualisierter Umgang mit Tabus
Hi Michael
Ist Dir eine plausible Erklärung bekannt, warum nur vollständig ausgeschriebene Wörter als „Trigger“ wirken sollen?
Das ist klar, daß der semantische Gehalt des Wortes durch die Zerstörung nicht zerstört wird. Dann könnte man sich ja den Gebrauch des Wortes ganz sparen.
Die Erklärung findet sich schnell, wenn du einen Betroffenen, der diese Form des Schreibens verwendet, danach fragst. Ich bin jedoch im Zweifel, ob es richtig ist, ein im Chat geschriebenes Wort wie „Täter“ als Trigger zu interpretieren, das in der Form „T*ter“ entschärft wird. Kein *pfer s*xueller G*walt, das Zeitung liest, wird beim Lesen getriggert werden - das haben mir Betroffene vielfach bestätigt.
Meine Erklärung dieser Erscheinung ist keine physiologische und keine psychologische, sondern eine religionswissenschaftliche: Der Umgang mit einem Tabu muß rituell geregelt werden, sonst macht man sich eines Sakrilegs schuldig. Durch die Zerstörung des Wortes wird es enttabuisiert, sodaß der nicht-rituelle, also pro-fane Gebrauch des Wortes kein Sakrileg mehr ist.
Das mag überraschen, deshalb noch etwas zum Hintergrund: mythologisch resp. ritualtheoretisch betrachtet begegnet das Heilige (Fane) dem Profanen in zweierlei Wertigkeiten: als Anziehendes, Seligmachendes (Faszinosum) und als Abstoßendes, als Schrecken (Tremendum).
Die Form des Umgangs mit dem Bösen, Verbrechen, Unheil, Unglück, mit dem Grauen und dem Schrecken hat daher in allen Kulturen (und zu allen Zeiten von denen wir historisch etwas wissen) dieselbe Form wie der Umgang mit dem Göttlichen: Z.B. man nennt das Böse genauso wie das Göttliche nicht mit Namen, sondern nur unter besonderen geregelten Umständen (Ritual) und nur mit einer besonderen Legitimation (persona sacra). Das genau heißt „Tabu“. Wenn man es dennoch tut, begeht man eines der schlimmsten Verbrechen (Tabubruch, Entweihung) und die Ängste, die einem Tabubruch einhergehen, gehören zu den tiefstgreifendsten, die man auch in der Psychologie kennt. Sexueller Umgang mit Kindern ist natürlich selbst einer dieser Tabubrüche.
Wenn man nun ein Wort, das ein mit Grauen verbundenes Tabu benennt, zerstört, dann bleibt das Thema erhalten, aber das Tabu wird nicht mehr verletzt. (Ähnlich: Mephistopheles läßt im „Faust“ das auf dem Boden gechriebene Pentagramm von einer Maus anknabbern, so daß er jetzt den Raum verlassen kann.)
Das Vorbild für diese „*“-Schreibtradition ist übrigens die Sitte unter jüdischen Religionsanhängern, das Wort „G’tt“ zerstört zu schreiben.
Das alles ist ein Hinweis dafür, daß auch heute, wie schon immer, der Sprache sehr bedeutsame magische Funktionen zukommen. Es gibt mehrere davon, und sie alle spielen sogar eine wichtige Rolle in psychotherapeutischen Settings - leider haben Therapeuten in der Regel kein Wissen darüber …
Gruß
Metapher