Tschaikowskys Tod

Hallo Musik-Kenner,

gestern abend kam auf 3Sat der Film „Tschaikowskij - Genie und Wahnsinn“ von Ken Russell, 1970.
Darin wird vorsichtig die Theorie angedeutet, Tschaikowskys Mäzenin Nadjeshda von Meck habe die Zahlung der Leibrente an ihn eingestellt, nachdem sie von seiner Homosexualität erfahren hatte. Ich denke, das kann man als kreatives Lückenfüllen eines Filmautors durchgehen lassen; die wahre Motivation Nadjeshdas kam ja nie heraus.

Das bringt mich aber auf meine eigentliche Frage.

Auch die Umstände von Tschaikowskys Tod sind ja nie wirklich aufgeklärt worden. Ich kenne da mindestens drei Varianten:

  1. Tschaikowsky sei an der Cholera gestorben, die damals grassierte (unwahrscheinlich, zum fraglichen Zeitpunkt ist in St. Petersburg keine Cholera-Epidemie nachweisbar).

  2. Es war ein verdeckter Selbstmord, da Tschaikowsky unabgekochtes Wasser getrunken habe, um sich zu infizieren (schon wahrscheinlicher, T. litt zeitlebens an Depressionen und hatte auch schon mindestens einen Suizidversuch unternommen).
    Diese These wird wohl in erster Linie von Alexander Poznansky vertreten (ISBN: 3254083733 Buch anschauen).
    Zusammenfassung: http://www.maurice-abravanel.com/tchakovsky_s_death…

  3. Tschaikowsky sei von ehemaligen Mitstudenten der Juristenschule wegen seiner Homosexualität vor ein Ehrengericht gestellt und dann gezwungen worden, sich mit Arsen zu vergiften.
    Diese These wird von David Brown dargestellt (ISBN: 3254002113 Buch anschauen); sie diente auch als Grundlage für einen Roman (ISBN: 378570982X Buch anschauen).
    Zusammenfassung: http://www.infopt.demon.co.uk/tchaikov.htm

Kennt jemand den aktuellen Stand dieser Diskussion?
Ist seit den beiden Buchveröffentlichung (1993) noch irgendetwas neues ans Tageslicht gekommen, um die Umstände von Tschaikowskys Tod zu erhellen?

Schöne Grüße
Wolfgang

Hallo Wolfgang,

wenn ich auch eine Aversion gegen dies Thema habe, stimme ich dir zu, daß es ein schwer lösbares Rätsel ist und bleiben wird.

gestern abend kam auf 3Sat der Film „Tschaikowskij - Genie und
Wahnsinn“ von Ken Russell, 1970.

Ein nettes Melodram, hat wenig mit der wahren Figur zu tun, wie immer…

Darin wird vorsichtig die Theorie angedeutet, Tschaikowskys
Mäzenin Nadjeshda von Meck habe die Zahlung der Leibrente an
ihn eingestellt, nachdem sie von seiner Homosexualität
erfahren hatte. Ich denke, das kann man als kreatives
Lückenfüllen eines Filmautors durchgehen lassen; die wahre
Motivation Nadjeshdas kam ja nie heraus.

Es ging mit ihren Finanzen bergab. Ist es kein Grund?

Auch die Umstände von Tschaikowskys Tod sind ja nie wirklich
aufgeklärt worden. Ich kenne da mindestens drei Varianten:

  1. Tschaikowsky sei an der Cholera gestorben, die damals
    grassierte (unwahrscheinlich, zum fraglichen Zeitpunkt ist in
    St. Petersburg keine Cholera-Epidemie nachweisbar).

Auch heute sterben Menschen unaufgeklärt. Wir wissen halt (noch) nicht alles. Die Psyche ist auch zu berücksichtigen. Vgl. Mozarts Tod.

  1. Es war ein verdeckter Selbstmord, da Tschaikowsky
    unabgekochtes Wasser getrunken habe, um sich zu infizieren
    (schon wahrscheinlicher, T. litt zeitlebens an Depressionen
    und hatte auch schon mindestens einen Suizidversuch
    unternommen).
    Diese These wird wohl in erster Linie von Alexander Poznansky
    vertreten (ISBN: 3254083733 Buch anschauen).
    Zusammenfassung:
    http://www.maurice-abravanel.com/tchakovsky_s_death…

Guter Link, trotzdem keine Cholera nachweislich, steht auch in diesem Link klar.

  1. Tschaikowsky sei von ehemaligen Mitstudenten der
    Juristenschule wegen seiner Homosexualität vor ein
    Ehrengericht gestellt und dann gezwungen worden, sich mit
    Arsen zu vergiften.
    Diese These wird von David Brown dargestellt (ISBN:
    3254002113 Buch anschauen); sie diente auch als Grundlage für einen Roman
    (ISBN: 378570982X Buch anschauen).
    Zusammenfassung: http://www.infopt.demon.co.uk/tchaikov.htm

Die Arsen-Vergiftung wird auch zurückgewiesen, es läuft halt anders ab. Die Legenden von Orlowa wurden in der Wissenschaft nie ernsthaft betrachtet. Browns Unterstützung blieb die Unterstützung der Gerüchten.

Wenn schon ein Tschaikowski-Roman, dann ein von Nina Berberowa, die anderen incl. von Klaus Mann sind als wissenschaftlich fundiert nicht überzeugend.

Kennt jemand den aktuellen Stand dieser Diskussion?

Es gibt keine wissenschaftliche Diskussion.

Ist seit den beiden Buchveröffentlichung (1993) noch
irgendetwas neues ans Tageslicht gekommen, um die Umstände von
Tschaikowskys Tod zu erhellen?

Sehr empfehlenswert sind Tschaikowskys Tagebücher (http://www.vek.de/tagebuch.htm). Wer lesen kann, findet da alles zu dem Menschen Tschaikowsky…

Viel interessanter halte ich die Problematik seiner Sechsten Symphonie in diesem Zusammenhang. Es ist eine Symphonie des Todes und offensichtlich des eigenen Todes. Sie zu interpretieren, Tagebücher zu lesen und den Tod des Komponisten als eine Folge seines inneren Konfliktes zu sehen ist mir genug. Ich brauche keine Legenden, um seine Tragik zu verstehen.

Liebe Grüße

Hallo peet,

erstmal ganz herzlichen Dank für die ausführliche Antwort.

gestern abend kam auf 3Sat der Film „Tschaikowskij - Genie und
Wahnsinn“ von Ken Russell, 1970.

Ein nettes Melodram, hat wenig mit der wahren Figur zu tun,
wie immer…

Ich mag Ken Russell ja sehr, weil er es oft schafft, jenseits von biographischer Detailtreue mit seiner Bildersprache wirklich etwas über die Musik und die Menschen zum Ausdruck zu bringen. Schade, dass sein Mahler-Film so selten gezeigt wird. Der Tschaikowsky-Film ist allerdings wirklich recht melodramatisch geraten.

die wahre
Motivation Nadjeshdas kam ja nie heraus.

Es ging mit ihren Finanzen bergab. Ist es kein Grund?

Eben nicht, das war der Grund, den Nadeshda angab, aber er war nur vorgschoben!

„Als Tschaikowski in Moskau erfuhr, von wirklichen Vermögensverlusten seiner Freundin könne nicht die Rede sein, da Nadeshda Filaretowna noch im Besitz ihres großen Richtums sei, traf ihn diese Nachricht wie ein Schlag. Also hatte Frau von Meck den angeblichen Vermögensverlust nur als Vorwand benutzt, um die Beziehungen abzubrechen? …
Der Schleier über den Gründen dieses plötzlichen, seltsamen Bruches ist nie gelüftet worden. Es lag keineswegs in Nadeshda Filaretownas Charakter, den Vermögensverlust als Vorwand für eine Trennung von ihrem Freund zu benutzen; sie war viel zu offen und zu stolz, zu solchen Mitteln zu greifen. Es wäre möglich, daß Pachulski [der Schwiedersohn] glaubte, im eigenen und im Interesse der Familie zu handeln, wenn er weiteren Geldsendungen seiner Schwiegermutter an Tschaikowski vorbeugte, indem er jede Verbindung zwischen ihr und ihrem Freund verhinderte; seine Rolle in dieser Angelegenheit ist jedenfalls etwas undurchsichtig.“

(Ena von Baer u. Hans Pezold (Hrsg.): Teure Freundin. Peter Tschaikowskis Briefwechsel mit Nadeshda von Meck. Leipzig: Paul List 1964. pp. 559, 562)

Es gibt keine wissenschaftliche Diskussion.

Diskussion wohl schon, Brown und Poznansky sind sich seinerzeit wohl heftig in die Haare gekommen. Ob die Diskussion wissenschaftlich ist, steht auf einem anderen Blatt :wink:

Sehr empfehlenswert sind Tschaikowskys Tagebücher
(http://www.vek.de/tagebuch.htm). Wer lesen kann, findet da
alles zu dem Menschen Tschaikowsky…

Vielen Dank für den Tipp und den Link!

Viel interessanter halte ich die Problematik seiner Sechsten
Symphonie in diesem Zusammenhang. Es ist eine Symphonie des
Todes und offensichtlich des eigenen Todes. Sie zu
interpretieren, Tagebücher zu lesen und den Tod des
Komponisten als eine Folge seines inneren Konfliktes zu sehen
ist mir genug.

Da stimme ich uneingeschränkt zu!

Ich brauche keine Legenden, um seine Tragik zu verstehen.

Da es die Legenden nunmal gibt, interessiert es mich eben, wieviel davon sich durch Fakten belegen läßt.

Liebe Grüße
Wolfgang

Noch ein paar Worte :smile:

die wahre
Motivation Nadjeshdas kam ja nie heraus.

Es ging mit ihren Finanzen bergab. Ist es kein Grund?

Eben nicht, das war der Grund, den Nadeshda angab, aber er war
nur vorgschoben!

„Als Tschaikowski in Moskau erfuhr, von wirklichen
Vermögensverlusten seiner Freundin könne nicht die Rede sein,
da Nadeshda Filaretowna noch im Besitz ihres großen Richtums
sei, traf ihn diese Nachricht wie ein Schlag. Also hatte Frau
von Meck den angeblichen Vermögensverlust nur als Vorwand
benutzt, um die Beziehungen abzubrechen? …
Der Schleier über den Gründen dieses plötzlichen, seltsamen
Bruches ist nie gelüftet worden. Es lag keineswegs in Nadeshda
Filaretownas Charakter, den Vermögensverlust als Vorwand für
eine Trennung von ihrem Freund zu benutzen; sie war viel zu
offen und zu stolz, zu solchen Mitteln zu greifen. Es wäre
möglich, daß Pachulski [der Schwiedersohn] glaubte, im eigenen
und im Interesse der Familie zu handeln, wenn er weiteren
Geldsendungen seiner Schwiegermutter an Tschaikowski
vorbeugte, indem er jede Verbindung zwischen ihr und ihrem
Freund verhinderte; seine Rolle in dieser Angelegenheit ist
jedenfalls etwas undurchsichtig.“

(Ena von Baer u. Hans Pezold (Hrsg.): Teure Freundin. Peter
Tschaikowskis Briefwechsel mit Nadeshda von Meck. Leipzig:
Paul List 1964. pp. 559, 562)

Das ist eine bereichtigte und korrekte Ergänzung von dir. Im Grunde aber bestätigt sie nur den Hintergrund noch einmal. Frau von Meck durfte nicht mehr über ihre Finanzen selbst verwalten, so oder so wurde sie auf diese Weise keine Mäzenin mehr.

Ich brauche keine Legenden, um seine Tragik zu verstehen.

Da es die Legenden nunmal gibt, interessiert es mich eben,
wieviel davon sich durch Fakten belegen läßt.

Das habe ich auch so verstanden, das ist völlig in Ordnung. Wir prüfen Legenden auf den Wahrheitsgehalt und berücksichtigen dabei auch, wer wie und was darüber schreibt, und wozu auch! :smile:

Liebe Grüße