'unsere Schuld'?

Hallo,
Fragen des Philologen an die "Schrift"gelehrten:
In der gebräuchlichen Fassung des „Vater unser“ heißt es „unsere Schuld“, und sie soll „vergeben“ werden.
Wenn ich aber die Stelle bei Matthäus ins Deutsche übersetze, komme ich auf „Erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen (haben)“.
Der lateinische Text zeigt den gleichen Befund: debita/Schulden usw.
Für mich liegt der Verdacht nahe, dass hier eine evtl. sozial umstürzlerische Forderung umgepolt wurde durch eine Interpretation hin zur individuellen moralischen Schuld.
Zumindest ist nicht von letzterer, dem Schuldig-geworden-sein, die Rede, sondern von dem, was man dem Nächsten schuldig ist.
Wie ist die Stelle also zu verstehen?
Zusatzfrage: Weil ich entgegen der landläufigen Meinung nicht der Ansicht bin, das der letzte theologische Schrei die Wahrheit mitteilt, sondern dass man diese oft eher in den Schriften der Patres Graeci et Latini findet (die von der Zeit Jesu und der Apostel lang nicht so weit entfernt waren, wie wir es sind), würden mich Interpretationen dieser Stelle bei ebendiesen sehr interessieren.
Interessieren würde mich auch die Möglichkeit, diese Vater-unser-Bitte in einem jüdischen Kontext zu sehen.
Es handelt sich ja nicht um irgendwas, sondern um die zentrale Aufforderung Jesu „So sollt IHR beten!“
Schöne Grüße!
Hannes

Verfehlungen und Schulden
Hi, Hannes,

du hast völlig Recht, die korrekte Übersetzung (jedenfalls nach den meisten Handschriften) lautet:
„Vergib uns unsere Schulden (bzw. Verschuldigungen), wie auch wir vergeben unseren Schuldnern“

Zunächst: Die Analogie zwischen Schulden machen, sich gegenüber dem Gesetz schuldig machen und sündigen findet sich explizit in Matthäus und Lukas. Der Ausdruck οφειλετης, opheiletes, und οφειλημα, opheilema, findet sich in Gleichnissen Mt 18.23ff (der unbarmherzige Gläubiger) und Lk 7.41ff (viel und weniger Schulden … anläßlich der Verwunderung, daß Jesus die „Sünderin“ im Haus des Pharisäers nicht erkannt habe).

Bei Joh. dagegen kommt der Ausdruck οφειλω nur vor im Sinne von „müssen“ in 13.14 „wenn ich, euer Lehrer, euch die Füße wasche, seid auch ihr schuldig (= müßt auch ihr), euch einander die Füße zu waschen“ und 19.7 „nach dem Gesetz ist er schuldig (= muß er) zu sterben“. Wogegen die Schuld vor dem Gesetz mit αιτια bezeichnet wird: „ich finde keine Schuld an ihm“.

Dann zur Quellenlage: Viele Teile des ‚Vater unser‘ sowohl in der langen Form Mt 6.9ff als auch in der kürzeren Lk 11.2ff haben ihre Quelle in der jüdischen Amida bzw. dem Kaddisch-Gebet. Iris hatte dazu schon mal etwas ausgeführt:
http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
Dort, in der Amida, wird der Gott auch angesprochen als der, der vergibt und verzeiht.

Einen direkten Bezug deines Zitates gibt es dann besonders noch zu Jesus Sirach (Ben Sira, Eccesiasticus) 28.2:
„Vergib das Unrecht (αφες αδικημα) deinem Nächsten, dann werden auf dein Bitten hin auch deine Sünden gelöst (αμαρτιαι λυθησονται)“

Das NT kennt zwei Ausdrücke für „Sünde“:

  1. αμαρτια, hamartia = die Verfehlung, und zwar die des Zieles, wie beim Bogenschießen, ganz analog dem hebr. חַטָאָה chata’a
  2. παραπτωμα, paraptoma = der Fall, das Daneben-Fallen

In den Zeilen, die du nun erwähnst, sowohl Mt 6.12, als auch Lk 11.4 finden sich in Handschriftenvarianten beide Ausdrücke neben dem Ausdruck „Schulden“, opheilema, in der ersten Halbzeile, wogegen in der zweiten immer der „Schuldner“, opheiletes, steht.

Nimmt man nun die Denkweisen des Mt und des Lk zusammen und berücksichtigt zugleich alle Wortvarianten, dann wäre die mißverständnisfreieste Übersetzung:

„Erlaß uns unsere Verfehlungen, wie auch wir erlassen unseren Schuldnern (die Schulden)“.

Dabei ist mit „Schulden“ aber nicht nur materielle Schuldigkeit gemeint, sondern, unter Berücksichtigung von Ecclesiasticus, auch das Unrecht, das einem widerfährt.

In der ersten Halbzeile kann das aber nicht gemeint sein, denn dem Gott gegenüber hat der Gläubige ja keine materiellen Schulden und er tut ihm auch kein Unrecht. Die Schulden, die der Gläubige aber bei Mitmenschen hat, wird ja der Gott kaum begleichen, ebenso wie der Mitmensch das Unrecht, daß der Gläubige ihm tut, der Mitmensch entschuld(ig)en muß. Es ist also die Kritik an dem Ausdruck opheilema durchaus angebracht.

Nebenbei bemerkt: Im Unterschid dazu weren in der Sprache des Joh.-Ev. „Sünden“ (durchgängig nur αμαρτια) übrigens nicht „erlassen/vergeben“ (αφιημι), sondern „aufgehoben“ (αιρω).

Gruß
Metapher

wenn du wissen möchtest, wie Jesus das ganze meinte, dann musst du einfach mal den Kontext betrachten…

Nr. 1:
Jesus sagte vor dem „Vater Unser“ nämlich, dass man nicht immer wieder dasselbe beten sollte (also auch nicht das „Vater Unser“) - Matthäus 6 Vers 5 und 7

Nr. 2:
Jesus erklärte in den Versen 14 und 15 nämlich diesen Part des „Vater Unsers“. Und wenn man das liest, muss man eigentlich gar nicht mehr drüber rätselns, was er eigentlich gemeint hat, oder gemeint haben könnte…

aber ich versteh das, manchmal verliert man sich so in Einzelheiten, dass man den großen Zusammenhang total aus dem Blick verliert.

Hallo Kathi,

Nr. 1:
Jesus sagte vor dem „Vater Unser“ nämlich, dass man nicht
immer wieder dasselbe beten sollte (also auch nicht das „Vater
Unser“) - Matthäus 6 Vers 5 und 7

Ich zitiere mal die Einheitsübersetzung. Dort lautet Mat 6,5:

Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten.

Dort steht also, dass man nicht mit dem Ziel betet, von anderen Menschen gesehen zu werden und dadurch als ach so gläubig dazustehen. Darüber, ob man immer wieder dasselbe betet oder jedesmal etwas anderes, steht dort erst einmal nichts.

Mat 6,7: Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen.

Hier steht (und wird im folgenden Vers begründet), dass man nicht viele Worte machen soll (das kann man gar nicht deutlicher ausdrücken, als es hier steht!). Ein Negativbeispiel wäre so etwas wie: „HERR, du weißt, dass ich im letzten Monat meinen Job verloren habe. Das liegt aber nur an der Finanzkrise - ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Dennoch bin ich jetzt mit meinen Mitteln am Ende. Deshalb bitte ich dich, mir wieder auf die Beine zu helfen, damit ich meine Miete bezahlen kann und nicht auf der Straße lande.“
So nicht. (Das steht eben in Mat 6,7.) Denn, so Mat 6,8: euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.

Wenn Gott also ohnehin alles weiß, wozu dann beten, könnte man sich jetzt fragen. Um dem zuvorzukommen, hat Jesus uns ein Gebet geliefert, das alle wichtigen Bitten in sich vereint. So betet man nicht mehr um das, was man auf Erden braucht, sondern darum, dass sich Gottes Plan bald erfülle, auf dass es allen Menschen wohl ergehe. Dieses Gebet ist explizit mit der Aufforderung eingeleitet: So sollt ihr beten. (Mat 6,9)
Die Verse Mat 6,5-9 sagen also genau das Gegenteil von Deiner Behauptung: Nicht lange eigene Bedürfnisse erklären, sondern nur das Vaterunser beten.

Liebe Grüße
Immo

P.S. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass ich das Vaterunser einfach mechanisch „herunterbeten“ soll, sondern ich muss das, was ich dort vortrage, auch wirklich meinen, wollen und im Augenblick des Gebetes vor Augen haben.

verfehlt
Nr. 1. ich verstehe nicht, warum du das mir schreibst. Denn ich sehe keinerlei Bezug zu meiner Antwort an Hannes.

Nr. 2. hast du die Frage von Hannes wohl mißverstanden.
In 6.14 ist fraglos von „Verfehlungen“ die Rede, denn hier haben alle Handschriften „paraptomata“ stehen. Und außerdem ist es fast das exakte Zitat aus Jesus Sirach. „paraptoma“ ist einer der beiden Ausdrücke neben „hamartia“, die das NT für „Verfehlung,Sünde“ hat.

In 6.12 aber haben die meisten Handschriften weder „hamartia“ noch „paraptoma“, sondern „opheilemata“ stehen. Und das heißt nicht „Verfehlung“, sondern „Schulden, Schuldigkeiten, Verschuldungen“. Das war der Ausgangspunkt für die Frage des Ursprungsposters.

aber ich versteh das, manchmal verliert man sich so in Einzelheiten, dass man den großen Zusammenhang total aus dem Blick verliert.

Mit solcherlei Einzelheiten haben sich unzählige Generationen von Fachleuten für alte Sprachen (wie Hannas ja auch) bechäftigt und beschäftgen müssen, damit du heute die Texte relativ sorglos auf Deutsch lesen kannst.

Gruß
Metapher

Hallo Immo,

Dieses Gebet ist
explizit mit der Aufforderung eingeleitet: So sollt
ihr beten.
(Mat 6,9)
Die Verse Mat 6,5-9 sagen also genau das Gegenteil von Deiner
Behauptung: Nicht lange eigene Bedürfnisse erklären, sondern
nur das Vaterunser beten.

was Du über das Gebet geschrieben hast ist so wohl meist richtig.
Nur über das „Vater Unser“ bestehen allgemeine Mißverständnisse,
obwohl der Kontext doch klare Aussagen dazu macht.
Es steht dort, wie Du richtig zitierst „SO sollt ihr beten“ aber
nicht „DAS sollt ihr beten“.
Nun kann man sich über das Verständnis von Übersetzungen streiten
aber nicht was Jesus zum richtigen beten vermitteln wollte.
„SO sollt ihr beten“ heißt eben „in diesem Sinne sollt ihr beten“,
und nicht den „Anleitungstext“ als Gebet nehmen.
Das VU ist eine Gebetsanleitung.
Die „Jünger“ haben Jesus nicht aufgefordert „Herr gib uns ein Gebet
welches wir allezeit daherplappern können“ sondern „Herr lehre uns
beten“.
Das hat Jesus dann gemacht.

P.S. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass ich das
Vaterunser einfach mechanisch „herunterbeten“ soll, sondern
ich muss das, was ich dort vortrage, auch wirklich meinen,
wollen und im Augenblick des Gebetes vor Augen haben.

Ja, dies wird immer vorgebracht, weil man im grunde weiß,
daß das wiederholte „Aufsagen“ des Belehrungtextes eigentlich
nicht im „Sinne des Erfinders“ ist.
Aber wir Menschen sind halt so schwer zu belehren.Auch Deine obige
Aussage:

Nicht lange eigene Bedürfnisse erklären, sondern
nur das Vaterunser beten.

ist so nicht richtig (im Sinne von Jesus)
Gruß VIKTOR

völlig offtopic
Und was hat das nun noch mit der Frage von Hannes zu tun?

Die erste Frage ist bereits beantwortet.

Die Frage, die noch offen ist, war die, was die Patres graeci und latini selbst zu dem Begriff „opheilemata“ im V.12 sagten. Diese Frage konnte ich ihm nicht beantworten und die einzigen beiden Expertinnen für diese Frage, Yseult und Taju, weilen aus bekannten Gründen nicht mehr unter uns.

Gruß
Metapher