Ein Baby kann doch nicht vermeintlich totgebissen werden, odrr? Sollte sich das vermeintlich aber auf die Ratte beziehen, dann gehört hier doch ein vermutlich hin. Oder sind inzwischen Meinung und Vermutung gleichgestellt?
Fundstelle: DER SPIEGEL 30/2023.
Dieser Gebrauch des vermeintlich an Stellen, wo ein vermutlich / angeblich / vorgeblich angebracht wäre, begegnet mir immer häufiger. Wie kommt’s?
Unsaubere Formulierungen aus Nachlässigkeit oder Zeitdruck. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass das zunimmt. Wobei mir in dem Kontext noch eine Meldung von Sat.1 von vor vielen Jahren einfällt: „Ein Mann wurde von einem umgestürzten Baum erschlagen.“
Ich kenne es so:
Vermeintlich - man nahm irrtümlich an, dass die Ratte das Baby totgebissen hat
Vermutlich - man hat die Vermutung, den begründeten Verdacht, dass die Ratte das Baby totgebissen hat
Ein Synonym zu „vermeintlich“ wäre „scheinbar“, ein Synonym zu „vermutlich“ dagegen „anscheinend“.
Hach, die Blüten nehmen kein Ende mehr: „Aiwanger ist nicht haltbar“, heute in der Augsburger Allgemeinen. Also auf, wetzet die Messer, wir schmeißen ihn in die Pfanne, bevor er ganz verdirbt.
Das bestätigt auf das Schönste meine Abneigung gegen die Sucht, überall ein -bar dranzupappen.
wenn man das mal irrtümlich angenommen hat, dann hat man in der Zwischenzeit hoffentlich den Irrtum bemerkt, also gewiss kein Grund, davon zu berichten. Eine Vermutung lebt wenigstens so lang, bis man es besser weiß, deshalb manchmal ewig.
Bei anscheinend und scheinbar streikt mein Sprachempfinden, ganz abgesehen davon, dass Fritz Ruppricht verkündet hat: „Es gibt kein Sprachempfinden!“. Und ich ergänze: Sprache besteht zu 90% aus Gewohnheit.
Der Tod kann aber vermeintlich durch den Rattenbiss eingetreten sein. Dann ist das Baby vermeintlich von einer Ratte totgebissen worden, es handelte sich aber mit annähernder Sicherheit um einen Fall von plötzlichem Kindstod, und die zu Unrecht beschuldigte Ratte hat den frischen Leichnam des Säuglings an einer leicht zugänglichen und gut zu beißenden Stelle am Hals angefressen.
Das sehe ich anders. Es kann sehr wohl Sinn machen, den damaligen Wissensstand wiederzugeben. Wenn der obige Satz korrekt war, dachte man damals, das Baby wäre von einer Ratte getötet worden und später stellte sich das als Irrtum heraus. Genauso, wie Kolumbus vermeintlich den Seeweg nach Indien entdeckt hatte.
Je nachdem, wie man den Satz liest bzw. betont, kann der so, wie er da steht, auch bedeuten, dass man sich nicht sicher ist, ob das Baby von einer Ratte oder einem Löwen totgebissen wurde.
Ixh lese dauernd in einem True-Crime-Forum „wohlmöglich“.
Z.B.in Sätzen wie „wohlmöglich wollte er sich aus dem Staub machen“
Kann mir bitte jemand erklären, woher das kommt?
Eine weitere sprachliche Liederlichkeit, die sich wie so viele in den letzten Jahren eingeschlichen hat: womöglich, wohl möglich…wer soll schon wissen, was da richtig ist.