Verstorbenen glorifizieren

Liebe Wissende.

Ich hoffe, dieses Brett ist für meine Frage das richtige.

Vor 10 Tagen verstarb mein Onkel (85) plötzlich an einem Herzinfarkt und hinterließ seine Frau, meine Tante (87). Sie haben keine Kinder.

Mein Onkel war zeitlebens ein eher unzufriedener, mäkeliger und streitlustiger Mensch und immer nur das Negative sehend. Meine Tante war das Gegenteil: positiv und dem Leben zugewandt. In letzter Zeit nicht mehr.

In den letzten Jahren hat mein Onkel allen gegenüber nur über Beschwerden, Beeinträchtigungen und über das Leben überhaupt geklagt, meine Tante war psychisch „am Boden“ und hat mir gegenüber mehrfach erwähnt, dass sie sich von ‚diesem Ekel, der ihr das Leben so schwer macht‘ am liebsten trennen würde, wenn sie nicht schon so alt wäre und manchmal denke sie darüber nach, sich das Leben zu nehmen.

Jetzt ist der Onkel noch keine 2 Wochen verstorben und meine Tante ist voll der Trauer über ihren wunderbaren, liebevollen Mann. Dass er hin und wieder nicht gut drauf war, ist seiner schweren Krankheit geschuldet, die sie leider nicht erkannt hat. Sagt sie.

Jetzt meine aufrichtige Frage:
Was will man bewälltigen, wenn man einen Tyrann nach seinem Tod zum liebevollen Ehemann erklärt?

Schon bei der Aussegnung mussten wir über die Worte des Pfarrers stutzen: Er hat über einen heldenartigen Gutmensch ohne Fehl und Tadel gesprochen, der - objektiv - nicht annähernd einem lebenden Wesen und schon gar nicht meinem schwierigen Onkel glich.

Vielen Dank für Ihre Antwort!

Maralena

Hallo Maralena,

Jetzt ist der Onkel noch keine 2 Wochen verstorben und meine
Tante ist voll der Trauer über ihren wunderbaren, liebevollen
Mann. Dass er hin und wieder nicht gut drauf war, ist seiner
schweren Krankheit geschuldet, die sie leider nicht erkannt
hat. Sagt sie.

Jetzt meine aufrichtige Frage:
Was will man bewälltigen, wenn man einen Tyrann nach seinem
Tod zum liebevollen Ehemann erklärt?

Wenn das Leben jetzt besser wäre, hätte deine Tante Jahrzehnte ihres Lebens vergeudet, weil sie deinen Onkel nicht verlassen hat.

Sie rechtfertigt so ihre (Nicht-)Entscheidung vor sich selbst.

MfG Peter(TOO)

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Hallo, Maralena.

Mir scheint, dass es vielen Menschen eigen ist, ihre verstorbenen Verwandten zu glorifizieren. Auf solche Weise versucht man das Schuldgefühl an reale oder eingebildete dem Verstorbenen jemals zugefügte Kränkungen zu bewältgen. Das Schuldgefühl verschärft sich nach dem Tode, weil man dann schon nichts verbessern kann.
Demnach soll es nichts damit zu tun haben, was für ein Mensch der Verstorbene wirklich war.

Mit vielen Grüßen,
Trage

Moin,

das ist ein völlig normales Verhalten und sogar schon humoristisch aufgearbeitet worden.

**Es scheint so

Es scheint so, daß auf dem Planeten,
den wir so gern mit Füßen treten
und ihn dadurch total verderben –
daß hier also nur Gute sterben !

Denn: las man je im Inserat,
daß ein Verblichner Böses tat,
daß er voll Neid war und verdorben,
und daß er nun mit Recht gestorben ?

Es kann hier keinen Zweifel geben:
die Schlechten bleiben alle leben !**

(aus „Das grosse Heinz Erhardt Buch“,
erschienen im Fackelträger Verlag, 1970
)

Gandalf

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de mortuis nihil nisi bene
Wohl wahr, Gegenteiliges findet sich eher selten - erst recht öffentlich: http://www.todesanzeigensammlung.de/Hassanzeigen.htm

~//~

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Hi,

Deine Tante hat vermutlich sehr lange mit Deinem Onkel, ihrem Mann, gelebt. Und vermutlich hat sie ihn geheiratet, weil sie ihn sih ausgesucht hat - mit allen seinen Ecken und Kanten. Vermutlich hat sie an ihm Seiten gemocht, die andere nicht zu sehen bekamen, und Eigenschaften geliebt, die andere eher auf die Palme gebracht haben. Und hat dafür Seiten ertragen, die sie selber nicht ausstehen konnte - weil für sie das Gesamtpaket stimmte.
Sicher war auch für sie das Zusammenleben in den letzten Jahren schwierig, sie scheint das ja selbst so formuliert zu haben. Aberes scheint ihr möglich gewesen zu sein, sich zu arrangieren - schon alleine, weil sie selbt vermutlich genug Beschwerden und Beeinträchtigungen hat, über die sie sich beschweren kann / könnte.

Was die Sicht auf den Menschen nach seinem Tod angeht: da ist doch dann plötzlich alles anders. Da reden wir nicht von einem Streit, der irgendwann zuende ist, einer Krankheit, die geheilt werden kann, einem Umzug, der rückgängig gemacht werden kann. Es ist Schluß, Ende, der Mensch ist weg. Man denkt nicht mehr nur an die gegenwärtigen oder vor Kurzem geschehenen Kränkungen und Niggeligkeiten, man betrachtet das ganze Leben. - und es ist niemand nur schlecht gelaunt (mehr scheint es ja bei deinem Onkel nicht gewesen zu sein, das Wort Tyrann hast Du verwendet, als du die Gerdamtsituation inkl. Tante bewertet hast, die Tante magst du persönlich offensichtlich viel mehr. Der Tote kann sich nicht mehr wehren, und in so einer Situation hört eben jeder Streit auf. Streiten ohne Gegenüber macht keinen Spaß, und es ist unfair, weil er sich nicht mehr wehren kann. Und natürlich sinnlos. man kann ihn ja nicht mehr ändern. Und es ist ja auch irrelevant.
Um nach dem Tod eines Menschen nicht milde® zu werden, muss es sich bei dem Verstorbenen schon um einen Gewaltverbrecher oder beim Hinterbliebenen um sehr verbitterte Menschen handeln. Letztere sollten sich aber doch im Sinne ihrer eigenen Gesundheit GEdanken um ihre Einstellung machen, finde ich.

die Franzi

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