Näher liegende Deutung
Hallo Benoît,
in Aserbaidschan und in Georgien gab es (relativ spät gegründete, ab etwa 1820) deutsche Kolonien, vor allem mit schwäbischem Ursprung. Diese „Kaukasiendeutschen“ wurden 1941 nach Kasachstan und Sibirien übergesiedelt, um sie von der erwarteten deutschen Front wegzunehmen. Wer mit angestammt Ortsansässigen verheiratet war, durfte bleiben - auf diese Weise sind einzelne Kaukasiendeutsche in Aserbaidschan und Georgien übrig geblieben, und es ist möglich, dass die Autorin mit deren etwas altertümlicher, vom Schwäbischen und vom Deutsch der Lutherbibel beeinflussten Sprache in Berührung gekommen ist. Ich habe einmal mit einer aus Kasachstan nach Deutschland gekommenen Nachfahrin von Kaukasiendeutschen gearbeitet - sie benutzte in dem Deutsch, das sie von ihren Eltern gelernt hatte, öfter Begriffe, die ich grade eben noch im passiven Wortschatz hatte.
Unabhängig davon eine Deutung, die mir jetzt näherliegend vorkommt als meine Versuche von gestern:
Die Vorsilbe „ver-“ kann auch eine abgemilderte Form von „zer-“ bezeichnen: verstreuen, verzetteln, verstören usw.
„Zeit verwarten“ könnte man damit, auch wenn es kein übliches Wort ist, als „Zeit durch warten nutzlos, inhaltslos vergehen lassen“ verstehen.
Eine poetische Zutat wäre dann, dass Mode in ihrer schnellen, willkürlichen und nutzlosen Veränderung als Sinnbild für einen kurzen, flüchtigen, schnell vorbeiziehenden Zeitabschnitt verstanden wird, dessen nur kurze Aktualität noch durch die alte Ausgabe von „Vogue“ unterstrichen wird, die bereits keine Existenzberechtigung mehr hat, weil der kurze Moment, für den sie gültig war, schon vorbei ist.
Wenn die beschriebene Person jetzt „Mode verwartet“, gibt sie der Mode mit ihrem Warten (dem Gegenteil von schnell, flüchtig vergehender Zeit) noch den Rest, unterstützt noch ihre schnelle Vergänglichkeit: „Mode verwarten“ als weniger offensive Form von „Mode zerwarten“ (das es als üblichen Begriff genauso wenig gibt).
Quintessenz: Das Verb „verwarten“ jedenfalls aus dem aktiven Wortschatz fernhalten, es bleibt individuell und ein wenig dunkel.
Schöne Grüße
MM