"verwarten" richtig verwendet?

Hallo,

in einem Buch habe ich gelesen: „Ich blätterte in einer veralteten Vogue und verwartete die Mode“.

Heisst das: Mit der Lektüre von Artikeln über die Mode vertrieb ich mir die Zeit?

Ist diese Verwendung von „verwarten“ nicht ein bisschen kurios?

lg

Benoît aus Paris

Moin!

in einem Buch habe ich gelesen: „Ich blätterte in einer
veralteten Vogue und verwartete die Mode“.

Was für ein Buch war das bitte?

Heisst das: Mit der Lektüre von Artikeln über die Mode
vertrieb ich mir die Zeit?

Nein. Das Wort „verwarfen“ gibt es nicht.

Ist diese Verwendung von „verwarten“ nicht ein bisschen
kurios?

Das Wort selbst ist kurios.

Gruß, Fogari

Hallo Fogari,

Das Buch heisst „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ von Olga Grjasnowa (DTV-Ausgabe, S. 14. Die Autorin ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, und das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet, daher meine Überraschung.

lg

Benoît

Salut Benoît,

das ist offenbar ein ziemlich individuelles Stilmittel, vielleicht als bewusst altertümlich gewähltes persönliches Konstrukt.

„Verwarten“ gibt es heute noch für „erwarten“ in den schwäbischen und alemannischen Dialekten des Südwestens, ganz ähnlich auch („derwarten“) in den bairischen Dialekten Bayerns und Österreichs als eine Art „verstärkte“ Form des standarddeutschen „erwarten“. Aber außerhalb der Dialekte ist es nicht mehr gebräuchlich.

Der „Wahrig“ in der Ausgabe mit 260 000 Stichworten kennt das Verb nicht mehr, obwohl er im Vergleich zu anderen eher für oberdeutsches Vokabular offen ist; der Duden kennt es zwar noch als Beispiel für die Vorsilbe „ver-“, aber nicht mehr als eigenes Stichwort.

Das Stammverb „warten“ kann bei dieser wohl individuellen Konstruktion im Sinn von „attendre“, aber auch im Sinn von „servir“ verwendet sein. Die Vorsilbe „ver-“ macht aus „-warten“ damit nicht nur „die Zeit mit warten zubringen“, sondern auch „aufbewahren, in Bereitschaft halten“ und hier eventuell auch „etwas gründlich bedienen, sich mit etwas gründlich beschäftigen“.

Wenn der Autor gerne poetische Anklänge benutzt, könnte es auch als Abwandlung von „verwalten“ mit einem Anklang an „aufwarten“ („servir“, auch „présenter ses civilités“) gemeint sein.

In welche der angezeigten Richtungen man gehen kann, lässt sich vielleicht aus dem übrigen Wortschatz des Autors erschließen - ich fände es übrigens nicht sehr überraschend, wenn es Peter Handke wäre.

Schöne Grüße

MM

Hallo Benoît,

ist das Original auf Deutsch geschrieben und veröffentlicht, oder handelt es sich um eine Übersetzung? Falls auf Deutsch veröffentlicht: Weißt Du Biographisches von der Autorin, hat sie Kontakt zu russlanddeutscher Sprache, die teils Elemente aus im Mutterland nicht mehr gebräuchlichem Deutsch konserviert hat? Falls Übersetzung: Fällt sonst im Text auch eigentümliches individuelles Vokabular auf, das der Übersetzer eventuell versucht hat, im Deutschen analog nachzukonstruieren?

Schöne Grüße

MM

Hallo Aprilfisch,

vielen Dank für deine ausführlichen Erläuterungen zum Wort „verwarten“. Ich hatte auch im Wahrig nachgeschlagen und war auch nicht fündig geworden. Bei Google fand ich allerdings als Definition „mit Warten die Zeit zubringen“ - wobei „ich verwartete die Mode“ immer noch keinen Sinn ergibt.

Das Buch wurde im Original auf Deutsch geschrieben. Ich bin erst am Anfang. Bis jetzt ist das Standarddeutsch, weder sonderlich poetisch noch altertümelnd. Der zitierte Satz bezog sich auf die Heldin, die im Wartezimmer einer Klinik sitzt. Da die Sprache sonst unauffällig war, hat dieser Satz mich stutzig gemacht.

Das konnte ich bei Wikipedia über die Autorin finden:
Olga Grjasnowa wurde in Baku, Aserbaidschan, in einer russisch-jüdischen Familie geboren. 1996 übersiedelte die Familie als Kontingentflüchtlinge nach Hessen, wo Olga mit 11 Jahren Deutsch lernte und in Frankfurt am Main die Schule abschloss. Ab 2005 studierte sie zunächst Kunstgeschichte und Slawistik in Göttingen. Sie wechselte dann aber ans Deutsche Literaturinstitut Leipzig in den Studiengang „Literarisches Schreiben“, wo sie 2010 den Bachelor erwarb. Im Anschluss an Studienaufenthalte in Polen, Russland (Maxim-Gorki-Literaturinstitut) und Israel studierte sie Tanzwissenschaft[1] an der Freien Universität Berlin. hr 2012 erschienenes Romandebüt Der Russe ist einer, der Birken liebt erregte auf Anhieb Aufsehen und wurde in verschiedenen Feuilletons[2] gewürdigt.

lg

Benoît

Hallo,

Servus,

wie schon erwähnt wird im Alemannischen ‚verwarten‘ wie ‚erwarten‘ verwendet. Auch der Duden weiß dazu etwas:

http://www.duden.de/rechtschreibung/ver_

_4. drückt in Bildungen mit Verben aus, dass eine Sache durch etwas (ein Tun) beseitigt, verbraucht wird, nicht mehr besteht
Beispiel
verforschen, verfrühstücken, verwarten _

Ist diese Verwendung von „verwarten“ nicht ein bisschen
kurios?

Finde ich in dieser Konstellation auch.

lg

Benoît aus Paris

Lg,
Penegrin aus dem Ländle

Näher liegende Deutung
Hallo Benoît,

in Aserbaidschan und in Georgien gab es (relativ spät gegründete, ab etwa 1820) deutsche Kolonien, vor allem mit schwäbischem Ursprung. Diese „Kaukasiendeutschen“ wurden 1941 nach Kasachstan und Sibirien übergesiedelt, um sie von der erwarteten deutschen Front wegzunehmen. Wer mit angestammt Ortsansässigen verheiratet war, durfte bleiben - auf diese Weise sind einzelne Kaukasiendeutsche in Aserbaidschan und Georgien übrig geblieben, und es ist möglich, dass die Autorin mit deren etwas altertümlicher, vom Schwäbischen und vom Deutsch der Lutherbibel beeinflussten Sprache in Berührung gekommen ist. Ich habe einmal mit einer aus Kasachstan nach Deutschland gekommenen Nachfahrin von Kaukasiendeutschen gearbeitet - sie benutzte in dem Deutsch, das sie von ihren Eltern gelernt hatte, öfter Begriffe, die ich grade eben noch im passiven Wortschatz hatte.

Unabhängig davon eine Deutung, die mir jetzt näherliegend vorkommt als meine Versuche von gestern:

Die Vorsilbe „ver-“ kann auch eine abgemilderte Form von „zer-“ bezeichnen: verstreuen, verzetteln, verstören usw.

„Zeit verwarten“ könnte man damit, auch wenn es kein übliches Wort ist, als „Zeit durch warten nutzlos, inhaltslos vergehen lassen“ verstehen.

Eine poetische Zutat wäre dann, dass Mode in ihrer schnellen, willkürlichen und nutzlosen Veränderung als Sinnbild für einen kurzen, flüchtigen, schnell vorbeiziehenden Zeitabschnitt verstanden wird, dessen nur kurze Aktualität noch durch die alte Ausgabe von „Vogue“ unterstrichen wird, die bereits keine Existenzberechtigung mehr hat, weil der kurze Moment, für den sie gültig war, schon vorbei ist.

Wenn die beschriebene Person jetzt „Mode verwartet“, gibt sie der Mode mit ihrem Warten (dem Gegenteil von schnell, flüchtig vergehender Zeit) noch den Rest, unterstützt noch ihre schnelle Vergänglichkeit: „Mode verwarten“ als weniger offensive Form von „Mode zerwarten“ (das es als üblichen Begriff genauso wenig gibt).

Quintessenz: Das Verb „verwarten“ jedenfalls aus dem aktiven Wortschatz fernhalten, es bleibt individuell und ein wenig dunkel.

Schöne Grüße

MM

Moin, Benoît,

im nördlichen Ostallgäu kennt man verwarten im Sinne von abwarten.

Wie man allerdings Mode abwarten kann, ist mir schleierhaft - was die Dichterin an dieser Stelle sagen wollte, weiß wohl nur sie allein. Schreib doch mal an den Verlag, manchmal kriegt man Antwort.

Gruß Ralf

Hallo Ralf,

Wie man allerdings Mode abwarten kann, ist mir schleierhaft -
was die Dichterin an dieser Stelle sagen wollte, weiß wohl nur
sie allein. Schreib doch mal an den Verlag, manchmal kriegt
man Antwort.

Weiter unten wird etwas Kontext preisgegeben.

Da befindet sich die Heldin in einem Wartezimmer und vertreibt sich wohl die Zeit mit der Modezeitschrift …

MfG Peter(TOO)

Moin, Peter,

Weiter unten wird etwas Kontext preisgegeben.

hab ich gesehen - ich würde dennoch niemals Mode verwarten.

Gruß Ralf