Visuelle Wahrnehmungsstörungen

Hallo Ihr Wissenden,

bei meiner fast 9-jährigen Tochter wurden visuelle Wahrnehmungsstörungen festgestellt. Das ist so ein Schlagwort - aber was genau versteht man eigentlich darunter, wie kann man helfen und wodurch entstehen sie?
Meine Tochter steht nun auf der Warteliste für eine Ergotherapie. Ist das das 1. Mittel der Wahl? Was kann man sonst noch tun?

Danke schon mal,
Sarah

Hallo Sarah!

Um im Hinblick auf die „visuellen Wahrnehmungsstörungen“ genauere Erklärungen geben zu können, solltest Du noch ein paar Details angeben.
Insbesondere solltest Du am besten darstellen, inwieweit sich die „Störungen“ äußern, wer die wann und wie häufig feststellt, ob sie von Deiner Tochter als solche geäußert werden oder sich einfach im Verhalten zeigen; ob weitere Auffälligkeiten aufgetreten sind. Ich nehme an, daß kein medizinischer Krankheitsfaktor vorliegt (Ergotherapie wird angeraten)?

Ansonsten ist das reine Schlagwort leider zu unspezifisch, um Deine Frage beantworten zu können.

Grüße,
Der Captain

Hallo Captain!

Du hast recht: Unter „visuellen Wahrnehmungsstörungen“ kann man wirklich alles verstehen, was mit der visuellen Wahrnehmung zu tun hat und gestört sein könnte. Allerdings wird auch Ergotherapie bei wirklich allem an den Mann oder die Frau gebracht, gleichgültig, ob sie indiziert ist oder nicht. Ich fragte mich schon des öfteren, woran das liegt - möglicherweise, um die Betroffenen hinzuhalten, weil nichts anderes verfügbar ist? Oder weil man nichts anderes weiß?

Gruß,

Oliver

Vision
Kontrast
Manchmal ist die Welt schon nach
Apfelsaft weniger bunt, zumindest
lassen die Farbringe nach, falls
der Auslöser Hypoglykämie war.

Helligkeit
Wenn sie Beunruhigendes eher sieht,
als Entspannendes, klimatisiert
Magnesium euern Biotop.

Tiefenschärfe
Hanfkekse würde ich vermeiden, um
die als Auslöser auszuschließen.
Auch wenn sie dann weniger assoziiert.

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Hallo Captain,

ok, ich werde mal versuchen die Situation gemäß Deiner Fragen etwas genauer darzustellen.

Im Herbst 2001 wechselte meine Tochter von der 2. in die 3. Klasse. Mit diesem Wechsel kam ein neuer Klassenlehrer. Die alte Lehrerin war in meinen Augen eine „Kuschelpädagogin“, das Klassenzimmer glich eher einem Wohnzimmer mit Entspannungsecken, Getränken etc. Der neue Lehrer nun ist nicht nur Schuldirektor, sondern eher klassisch vom alten Schlag, sprich Frontalunterricht etc. Uns gefällt der neue Lehrer eigentlich besser, weil bei der alten Lehrerin immer alles so wischiwaschi war. Außerdem kamen mit dem Eintritt in die 3. Klasse natürlich die Noten.
Alsbald fing unsere Tochter an 5en und 6en mit nach Hause zu bringen. Und zwar fächerübergreifend. Sie hat sich einfach völlig verweigert; auch mündlich war sie abwesend. Weder Strafen noch Belohnungen oder Motivation gleich welcher Art halfen. Irgendwann sind wir nervös geworden und haben sicher an der falschen Stelle Druck ausgeübt. Dann kam der Anruf des Lehrers, von wegen er würde sich große Sorgen machen, da das Kind authistische Züge zeigen würde. Authistisch??? Wir waren fassungslos, denn zuhause war sie wie immer, fröhlich und ausgelassen und niemand konnte dieses Adjektiv mit ihr in Verbindung bringen. Wir fingen an uns Sorgen zu machen, ob in der Schule etwas vorgefallen sei, entschieden uns dann zu professioneller Hilfe und suchten einen Kinderpsychologen auf. Nach diversen Sitzungen und Tests kam nun vorgestern das große Gespräch. Irgendwie hatten wir auch nicht mit konkreten Ergebnissen gerechnet. Zumal sich nach Weihnachten die Situation urplötzlich entspannte und die ersten wirklich guten Noten kamen. Sie beteiligt sich rege am Unterricht und der Lehrer wundert sich. Wir eigentlich nicht so sehr, denn uns war klar, dass unsere Tochter nicht zu dumm für den Stoff ist.
Der IQ-Test hat nun ergeben, dass sie in vielen Bereichen weit über dem Durchschnitt liegt, während sie bei einigen Bereichen darunter ist. Diese Bereiche hängen mit der visuellen Wahrnehmung zusammen. Der Psychologe hat ca. 1 Stunde auf uns eingeredet und uns mit Ergebnissen bombadiert. Ich weiß nun nicht mehr im Einzelnen, was genau die Bereiche denn waren. Zwischenzeitlich hatten wir unsere Tochter auf Dyskalkulie testen lassen und es ist eine leichtere Form der Rechenschwäche herausgekommen.
Nun sollte noch ein sogenannter Frostig-Test gemacht werden, aber wir haben das abgelehnt. Noch mehr Tests! Es reicht! Also Ergotherapie.

So, ich hoffe ich habe nichts vergessen.

Viele Grüße
Sarah

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  1. Hypothese: vorübergehendes Anpassungsproblem
    Hallo Sara-Mae!

Ich will einmal versuchen, meine Gedanken zur Situation Deiner Tochter mitzuteilen.

Es sollte wohl nicht verwundern, daß ein Wechsel eines Lehrers / Lehrerin für SchülerInnen eine Umstellung bedeutet. Weil sich im Fall Deiner Tochter die Lehrmethoden der beiden Lehrkräfte sehr unterscheiden, kann diese Umstellung auch einmal zu größeren Problemen führen. So würde ich jedenfalls den Leistungsabfall Deiner Tochter bewerten, nachdem die Lehrkraft wechselte und die Betonung anschließend mehr auf Leistung lag und jetzt immer noch liegt. Der Wechsel fand im Herbst letzten Jahres statt und schon nach Weihnachten - nach einem Vierteljahr - hat sich Deine Tochter anscheinend angepaßt und bringt gute Leistungen. Dies spricht doch dafür, daß es sich um ein vorübergehendes Anpassungsproblem handelte.

Daß mit den „autistischen Zügen“ finde ich ein starkes Stück. Ich glaube nicht, daß der Lehrer sich bewußt ist, was „autistische Züge“ wirklich sind. Hört sich halt gut an - so ein Fremdwort. Daß Deine Tochter einen Leistungsabfall (wenn überhaupt: Möglicherweise war vorher die Leistung einfach nicht notwendig, so daß Deine Tochter sie auch nicht erbringen mußte) zeigte und sich mündlich nicht beteiligte, deutet doch nicht auf „autistische Züge“ hin: Sprechen kann sie doch, oder? Und geistig behindert ist sie auch nicht! Freunde hat sie wahrscheinlich auch und schwerwiegende Entwicklungsstörungen haben vor dem 3. Lebensjahr wahrscheinlich auch nicht eingesetzt. Wenn es anders wäre, dann könnte man von „autistischen“ Zügen sprechen. Aber sonst sollte man es nicht, auch nicht wenn man es nur im übertragenden Sinn meint. Siehst Du, der Lehrer hat Euch gleich so verunsichert, daß ihr mit dem Kind zum Psychologen mußtet. Dabei handelte es sich höchstwahrscheinlich nur um ein vorübergehendes Problem. Hoffentlich hat Deine Tochter wegen des ganzen „Autismus“-Getues keinen Knacks weg.

Zum Intelligenztest: Intelligenztests gibt es viele. Und viele Intelligenztests haben Untertests, die verschiedenes messen. Wenn man nicht genau weiß, was für Tests gemacht wurden und wie die Ergebnisse aussehen, in was für einer „Atmosphäre“ sie stattfanden usw., kann man absolut NICHTS darüber sagen. Wahrscheinlich wurden der HAWIK-III (Hamburg Wechsler Intelligenztest für Kinder) oder die K-ABC (Kaufman Assessment Battery for Children) gemacht. Daß der Psychologe meinte, die meisten Untertestergebnisse sind überdurchschnittlich, ist überaus ermutigend für Deine Tochter. Was mit den Wahrnehmungs"störungen" ist, kann nur der Psychologe sagen, der den Test gemacht und interpretiert hat. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Einstufung einiger Untertestergebnisse, die dem Bereich Wahrnehmung zugeordnet werden können. Diese Zuordnungen sind von Psychologe zu Psychologe leicht unterschiedlich (ans Handbuch halten sich die meisten oft nicht). Ohne die genauen Ergebnissen kann man aber nichts darüber sagen.

Und daß mit der Ergotherapie - naja, ich weiß nicht. Wenn es sich bei dem „Vorfall“ mit Deiner Tochter nur um ein vorübergehendes Anpassungsproblem handelte, dann weiß ich nicht, was Ergotherapie soll. Ich weiß sowieso nicht, was das soll, ein Kind bei einer Leistungsschwäche innerhalb eines Quartals gleich zum Psychofall abzustempeln (und dann noch von „autistischen Zügen“ zu sprechen, ist die Höhe). Vielleicht hätte es auch getan, einfach mehr mit dem Kind zu üben, fleißig Hausaufgaben zu machen und sanft und unterstützend darauf hinzuwirken, daß das Anpassungsproblem vorübergeht (vielleicht hätte der Lehrer auch etwas sensitiver für die Umstellungsschwierigkeiten seiner schutzbefohlenen SchülerInnen sein sollen - würde mich nicht wundern, wenn andere Kinder auch Probleme hatten).

Meine Vermutung ist einfach: Deine Tochter fühlte sich in der Schule unwohl aufgrund des Lehrerwechsels und anstatt auf seiten des Lehrers auch einmal nachzudenken, was er dafür tun könnte, daß es Deiner Tochter besser gefällt, hat er das Problem ganz einfach nur bei ihr gesehen und nicht auch im Lehrerwechsel (also z.T. auch bei sich).

Grüße,

Oliver

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schließe mich an
Hallo Sarah!

Ich kann mich den ausführlichen Antworten von Oliver Walter nur anschließen - und ergänzen, daß ich Deine Entscheidung, keine weiteren Testverfahren anwenden zu lassen nur begrüße. Wenn sich bislang keine gravierenden Symptome zeigten, die auf eine andere Störung oder geistige Behinderung hinwiesen (und dies hätte der betreuende Psychologe sicherlich dargestellt), so ist die zeitliche Paarung von Lehrerumstellung und Leistungsabfall wohl als wahrscheinlichste Ursache zu bewerten und eine weitergehende Testung könne sich als sinnlose Belastungssituation mit der Gefahr der Stigmatisierung für das Kind darstellen.
Wie bereits Oliver Walter darstellte, sind sicherlich einige wahrnehmungsabhängige Untertestverfahren der verwandten Tests auffällig gewesen, allerdings ist hier eine genaere Abklärung und sicherlich ein psychologischer Detailreichtum sowie eine Darstellung der Anamnese und die Begutachtung des Kindes notwendig, um Spekulationen über diese angegebene Wahrnehmungsschwäche anzustellen - so daß ich hier dazu keine Stellung nehmen kann und möchte. Ob die Ergotherapie in der Ausbildung und Förderung der angeblich gestörten visuellen Wahrnehmung dabei allerdings eine Unterstützung sein kann, ist mir unbekannt. Persönlich gehe ich allerdings nicht davon aus, daß ohne Leidensdruck des Kindes und ohne dadurch ausgelöste Belastungen in den Lebensbereichen des Kindes (soziale Kontakte, Schule etc.) und vor allem in Anbetracht des nun wieder gewohnt guten schulischen Leistungsniveaus eine therapeutische Behandlung nicht notwendig sein sollte - allerdings ist dies nur eine persönliche Meinung ohne einen Anspruch auf Richtigkeit und ohne den Charakter eines Ratschlags an Dich. Wie gesagt: der Fachmann vor Ort ist die einzige Beurteilungsquelle, die Dir derzeit zur Verfügung steht und kann nicht durch das Internet ersetzt werden, wie Du ja weisst.

Davon abgesehen kann ich der Reaktion des „alarmierten“ Lehrers keine Toleranz entgegenbringen - es scheint mir eine hilflose Laiendiagnostik zu sein, die bei einer mangelnden Erfahrung mit pädagogischen Grundsätzen nicht selten zu verzeichnen ist - ein stigmatisierendes Fremdwort (Autismus) ist da natürlich schnell bei der Hand.

Grüße,
Der Captain

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Wenn der Neue gleichzeitig Direktor ist, hat er weniger Zeit als seine Vorgängerin. Retuschiert er die Zeitnot durch verstärkten Druck, ist es vernünftig weil energiesparend, wenn sich deine Tochter auf das besinnt, was ihr wichtig ist, statt der Frustration nachzugeben und sich zu verbiegen, um seinem Standard zu entsprechen. Auch wenn er Direktor ist, ist er in der Gruppe, also in ihrer Klasse, nur einer von vielen und nicht mehr. Wenn er sich selbst überhöht, hat deine Tochter initial gar keine andere Chance als Leistungsverweigerung. Der Leistungsabfall ist auch ein Maß für die pädagogische Sensibilität der Erwachsenen. Wenn ihr die Struktur

Erwachsener = ok
Kind = nicht ok

aber invasiv auslebt, provoziert ihr Autismus. Ich würde dem Lehrer Sorgfaltspflichtverletzung vorwerfen, wenn es meine Tochter wäre. Aber das heißt natürlich auch Dranbleiben, dem Mann auf die Finger Schaun, Hospitieren, Elternrat Frequentieren - das bindet Zeit und Energie. Manchmal ist die Schule allerdings nur so viel wert wie die Freundschaften, die dein Kind dort knüpfen kann. Sieht sie ihre Freunde noch, oder nehmen die sie auch nicht mehr wahr?

Danke Euch!
Durch Eure Antworten habt Ihr uns in unserem Glauben unterstützt, dass das Problem nicht in unserer Tochter liegt, sondern eher in den Umständen und sicher auch zum großen Teil an dem Lehrer.
Aus diesem Grund haben wir uns auch gegen weitere Tests entschieden und vertrauen einfach in unser Kind. Sie wird ihren Weg gehen und wir werden sie dabei nach besten Wissen und Gewissen unterstützen. Man läßt sich so leicht verunsichern und dabei merkt man vielleicht gar nicht, dass man seinem Kind schadet anstatt ihm zu helfen.
Hinsichtlich der Ergotherapie werden wir nach Ostern mit unserer Kinderärztin Rücksprache halten, der wir sehr vertrauen. Sollte sie auch nur leise am Sinn dieser Maßnahme zweifeln, lassen wir auch das.

Danke Euch nochmal!
Viele Grüße und frohe Ostern,
Sarah