Warum selbstbewußte Menschen achten?

Meiner Erfahrung nach geht das Selbstbewußtsein von Menschen immer auf Kosten anderer. Ich kenne keinen selbstbewußten Menschen, der die Grenzen anderer respektiert. Ich verstehe nicht, warum das von so vielen Menschen so hoch angesehen wird.
So wird etwa „starken Frauen“ nachgesagt, daß sie selbstbewußt seien. Ich fühle mich im Gespräch mit solchen Frauen vernachlässigt und nicht ernstgenommen. Warum finden andere dieses Verhalten toll? Ich kenne keinen Menschen, dem nachgesagt wird er sei selbstbewußt, der mich respektiert. Warum sollte ich also Selbstbewußtsein anderer toll finden und unterstützen anstatt es zu untergraben und den anderen im Gegenzug schlecht dastehen zu lassen?

Die Hauptfrage ist: Warum finden das viele so toll. Bitte keine Standardantworten, auf die ich selbst kommen kann wie „Die Welt ist schlecht“ oder Ratschläge wie „Einfach ignorieren“. Weil wir schon dabei sind, ich will keinen Rat, ich will wissen, warum das so ist.

Liebe/r Donatus,

anscheinend haben Du und ich unterschiedliche Definitionen für „selbstbewusst“.
Was Du beschreibst, würde ich als „dominierend“ bezeichnen, oder vielleicht als Imponiergehabe.

Selbstbewusst im Sinne von selbstsicher sind Menschen (egal ob Männer oder Frauen), die andere Menschen eben nicht dominieren müssen, sondern ihnen respektvoll begegnen können.
Allerdings fühlen sich solche Menschen auch nicht dazu verpflichtet, anderen nach dem Mund zu reden und ausschließlich deren Bedürfnisse zu erfüllen.

Ob Du Dich respektiert fühlst, liegt an Dir: Wenn Du Dich selbst respektierst, wirst Du auch so auftreten, dass Du entweder Respekt erfährst oder Dir respektloses Verhalten deutlich verbittest.

Einen anderen schlecht dastehen lassen ist immer ein Zeichen für „Das habe ich nötig“.
Stärke, die man daraus bezieht, andere klein zu machen, hat immer einen hohlen Boden.

Wer Führung sucht und sich über einen „starken“ Anführer definiert, statt selbst echte innere (respektvolle) Stärke zu entwickeln, findet Imponiergehabe natürlich toll :smile:

Ich hoffe, ich konnte Deine Frage beantworten, wobei es sich natürlich nur um meine Meinung handelt…

Viele Grüße,

A. L.

Hallo,
die Frage ist so ohne weiteres nicht ganz klar zu beantworten. Es gibt mehrere Aspekte: 1. Selbstbewußt-sein heißt nicht zwangläufig sozialverträglich/kooperativ/sozial kompetent zu sein (obwohl meiner Erfahrung nach ein Großteil der Menschen mit einem halbwegs guten Selbstwert das hinkriegt). 2. relativ häufig werden Menschen als selbstbewußt bezeichnet, die es nicht sind. z.B. gibt es Menschen, die man u.a. „Macher“ nennt. Die sind zwar nicht automatisch „nicht selbstbewußt“, allerdings ist bei ihnen das zentrale Kriterium Anpacken & Durchziehen ohne Rücksicht auf (größere) Verluste (- etwas überspitzt gesagt). 3. Es gibt genug Menschen mit geringem Selbstwert, die so tun als ob. Haben sich ein Schutzpanzer angelegt, um sich zu schützen und benehmen sich häufig „von oben herab“ bzw. Arrogant. (paßt eigentlich als zweiter Gedanke zu Punkt 2) 4. Es gibt Menschen, die sind selbstbewußt, aber nicht übermäßig empathisch. Die sind nicht „böse“, sondern gehen davon aus, daß jmd. anderes sich schon selbständig einbringen & seinen Standpunkt vertreten kann - „man muß also nicht besonders auf den anderen achten, der sagt schon, wenn was ist“. 5. die eigene Wahrnehmung. Es kann sein, daß das eigene „Radar“ ein bißchen zu fein eingestellt ist, man auf Dinge reagiert, die man überinterpretiert hat.
Das alles ist ziemlich einfach und kurz gesagt. Es gibt da im Detail noch deutlich mehr zu sagen, würde aber hier den Platz sprengen. Selbstbewußtsein-Selbstwert-Selbstkonzept-etc… ist ein etwas größeres Kapitel.
Noch als Anmerkung: „Warum selbstbewußte Menschen achten?“ Es ist nicht unbedingt verkehrt Menschen generell halbwegs freundlich gesinnt zu begegnen. Zum einen, weil Sie scheinbar das gegenteilige Verhalten nachvollziehbarerweise als unangenehm empfinden & vermutlich so jmd auch nicht sein wollen. Zum anderen: „nicht achten“ bedeutet in gewissem Maße „verachten“ - Vorsicht! „auf die Dauer der Zeit nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an.“ (Zitat: E. v. Hirschhausen) Als Vorschlag zur Güte: vielleicht nicht unbedingt „achten“, sondern „akzeptieren“ daß es auch solche „Trampel“ gibt, die vermutlich irgendwo auch notwendig sind (sonst wären sie ausgestorben, die Evolution ist da nicht so kleinlich bzw. sentimental)

Ich hoffe das hilft weiter. Bei weiteren Fragen - schreib ne mail.

mit besten Grüßen
Daniel

Hallo!

Es gibt hier wie bei allem Vor- und nachzeile sowie unterschiedliche Ausprägungen. Zu viel Selbstbewusstsein geht in Richtung Arroganz und wird dann auch nicht mehr geschätzt, vor allem wenn die Belange anderer beeinträchtigt werden. ein „gesundes“ Selbstbewusstsein" wird aber allgemein als gut angesehen, auch weil es offenbar „erfolgreich“ ist. Man kommt besser voran und kann auch Führungspositionen erreichen, wo selbstbewusstes Auftreten verlangt wird. Gleiches gilt in der Politik und in vielen anderen Berufszweigen. Es hat somit auch eine evolutionäre Bedeutung im sog. „struggle for life“.

Ihr W. Pollak

hallo donatus,
ja das ist eine interessante Frage. Ich denke du hast eine gute Beobachtung gemacht. Ich bin der Meinung, dass Leute, die sich auf Kosten Anderer selbstbewusst fuehlen wollen nicht selbstbewusst sind. Waeren sie mit sich zufrieden gaebe es keinen Grund das Gegenueber runter zumachen. Es ist ein bekanntes Phaenomen, dass sich Leute oft besser fuehlen, wenn sie auf ander herunter sehen koennen. Also ich denke was du da beschreibst, dieses im Gespraech uebergangen werden ist eher Unsicherheit im Sinne einer Ueberkompensation. Du kannst versuchen solch ein Verhalten offen anzusprechen, z.B. „ich fuehle mich irgendwie uebergangen in diesem Gespraech, kannst du dir vorstellen, woram das liegt?“.
Ist diese Antwort fuer dich ok? Sonst koennen wir gerne auch weiter diskutieren.
Liebe Gruesse.

Hallo donatus,
wie definierst du „selbstbewusst“ ?
Ich finde, man ist sich selbst bewusst, wie man rüberkommt und wie man sich anderen gegenüber verhält. Wen du dich von selbstbewussten frauen nicht geachtet und nicht für voll genommen fühlst, dann liegt es vllt. daran, dass diese gar nicht selbst bewusst sind, wie sie auftreten. ich finde, das wort „selbstbewusst“ passt hier nicht.
warum das viele so toll finden, selbstbewusst zu sein? na … es ist doch eine gute eigenschaft, sich selbst zu kennen und seine wirkung auf andere. das problem liegt meines erachtens eher darin, dass viele das wort „selbstbewusstein“ mit dominanz, arroganz oder ignoranz verwechseln.

Grüße,
Pascal

Hallo donatus.orth,

ich habe leider gerade keine Literatur zur Hand, die ihre Annahme stützen oder widerlegen würde, daher kann ich Ihnen leider auch nicht sagen, warum dies aus wissenschaftlicher Sicht so ist.

Was mir allerdings bei Ihrer Anfrage auffällt, ist das Problem der Definition des Selbstbewußtseins. Im Alltag wird der Begriff des selbstbewußten Menschen häufig auch Personen zugeschrieben, die eigentlich eher als selbstsüchtig oder egoistisch zu klassifizieren sind. Auf diese trifft ihre Beschreibung der Überschreitung fremder Grenzen durchaus zu.
Wenn wir also Selbstbewußtsein in einer positiven Konnotation des selbstsicheren Verhaltens sehen, müsste per definitionem die Beachtung der Grenzen anderer Personen darin enthalten sein. (siehe Pfinsch und Hingsten: Gruppentraining sozialer Kompetenzen)

Ich denke das Hauptproblem, das sie schildern liegt in dieser Begriffsvermengung begründet. Es wird als sozial wünschenswert angesehen, daß wir einen positiven Selbstwert haben und uns selbstsicher Verhalten, dieses wird zusammenfassend auch als Selbstbewußtsein bezeichnet. Im Alltag werden aber wie gesagt häufig auch Personen als selbstbewußt bezeichnet, die sich „gut“ durchsetzen können, egal ob sie dabei Grenzen anderer achten oder nicht.
Ich würde daher sagen, dass das Problem in der Verwendung von Heuristiken begründet liegt. Heuristiken sind so etwas wie Daumenregeln, die uns die kognitive (Denk-) Arbeit abnehmen, die aber häufig auch zu Fehlurteilen wie auch Vorurteilen führen können. Wir haben somit eine Heuristik „Selbstbewußtsein“, die sagt, daß dieses Verhalten gut ist. Da die Heuristik jedoch selten hinsichtlich ihrer Richtigkeit überprüft wird, erhalten auch fälschlich als Selbstbewußt klassifizierte Menschen, die eigentlich eher als selbstsüchtig gelten müssten, das Daumen-hoch-Siegel.

Sie sind gerade dabei diese Heuristik zu hinterfragen, wodurch Ihnen der Widerspruch zwischen den verschiedenen Selbstbewußtsein-Definitionen aufgefallen ist. (bzgl. weiterer Selbstbewußtsein-Definitionen verweise ich auf folgenden Artikel in Wikipedia, der dies in den ersten Abschnitten recht gut zusammenfässt http://de.wikipedia.org/wiki/Selbstbewusstsein)

Ich hoffe ich konnte Ihnen mit meiner Antwort neue Denkanstösse bzgl. ihrer Frage geben.

Vielleicht bietet sich bei Ihnen in der Nähe auch mal die Möglichkeit an einem Selbstsicherheitstraining teilzunehmen, um Selbstbewußtsein in Rahmen eines Grenzen-der-anderen-respektieren kennenzulernen, d.h. so wie es die ursprüngliche Definition des Begriffs eigentlich vorsieht.

MfG

Es tut mir leid, dass ich Ihre Frage erst jetzt gesehen habe.

Sie müssen sich das mit dem Selbstbewusstsein so vorstellen: Zwischen der Freiheit zweier Menschen geht eine Linie. Wenn man diese überschreitet, engt man die Freiheit des anderen ein. Man macht sich also auf Kosten anderer breit. Wenn in positiven Worten darüber gesprochen wird, dass jemand selbstbewusst ist, dann ist damit gemeint, dass der/die Selbstbewusste davon ausgeht, dass er/sie bis an diese Grenze herantreten darf. Das heisst, man lässt sich z.B. nicht ungerecht behandeln. Selbstbewusst sein, darf nie heissen, dass man dabei über diese Grenze geht und auf der Freiheit oder Integrität anderer herumtrampeln darf oder gar soll. Solche Menschen haben das mit dem Selbstbewusstsein falsch verstanden. Ich hoffe, Ihre Frage damit beantwortet zu haben.

Mit freundlichen Grüssen
Turnerin (Psychologin)