Was bedeutet Selbstbezüglickeit des Wissens?

Was bedeutet Selbst- und Fremdbezüglichkeit des Wissens?
Beispiel:
Selbst- und Fremdbezüglichkeit des Wissens:

  • Wissen über eigene Zustände
  • Wissen über Zustände anderer Aktoren (d.h. Personen)
  • Wissen über das Wissen anderer Aktoren

(aus meinen Vorlesungsfolien zur Evolutorischen Ökonomik entnommen)

in dem Zusammenhang: Was bedeutet „Selbstreferentialität aller Vermutungen über die Vermutungen anderer Menschen über die eigenen Vermutungen“? (Quelle: Carsten Herrmann-Pillath)

Ich verstehe einfach nicht den Begriff der Selbst- und Fremdbezüglichkeit im Wissenskontext.
Kann mir das bitte jmd. erklären?

Eigenartigerweise hat seit zwei Tagen kein User hier geantwortet, deshalb will ich es einmal versuchen, in der Hoffnung, dass sich noch weitere Poster dazugesellen.

Fremdbezügliches Wissen ist ein Wissen der MACHT anderer. Bei Tieren ist es das Wissen der MACHT. Zum Beispiel weiß meine Katze instinktiv, dass sie allen Mäusen, Eidechsen und auch Hasen in unserem Garten überlegen ist, das kann meine Katze instinktiv Fühlen als SELBSTBEWUSSTSEIN. Wie sie dann aus diesem Gefühl der Evidenz ihrer Überlegenheit einzelne Strategien anwendet, um Mäuse, Eidechsen und Hasen zu töten und zu fressen, ist ein weiteres Wissen ihrer MACHT. Wenn ich jetzt eine Maus wäre, wäre diese MACHT einer Katze ein „fremdbezügliches Wissen“.

Dasselbe Prinzip „Wissen ist Macht“ ergibt sich auch innerhalb einer Gruppe von Tieren. Um dies zu verdeutlichen und als „vergleichende Verhaltensforschung“ auch auf menschliche Gemeinschaften zu übertragen, lehrt man in der Wissenschaft des Managements beispielsweise die „Hackordnung“. Das mächtigste Huhn sitzt auf der höchsten Stange im Hühnerstall und hackt auf ein schwächeres Huhn darunter und dieses wiederum auf ein noch schwächeres bis hinunter zur untersten Stange des schwächsten Huhns. Eine gewisse Rangordnung der MACHT ist auch in einem Wolfsrudel oder bei Löwen, Elefanten und Affen usw. beobachtbar, wobei für die schwächeren Tiere die stärksten ein „fremdbezügliches Wissen“ haben.

Dasselbe Prinzip der MACHT ist auch bei uns Menschen der Fall, wenn man sich mal die Urmenschen in einer Gruppe vorstellt. Auch hier dominieren die stärksten alle schwächeren Menschen, wobei irgendwann der „Homo sapiens“ entstand und mit ihm das Prinzip „Wissen ist Macht“, das dann seit Urzeiten immer weiter entwickelt wurde. „Fremdbezügliches Wissen“ entstand dann vor allem durch zwei Hauptbereiche menschlicher Selbstorganisation: Durch die Sippen- und Stammesführer und durch die Medizinmänner. In weiterer Entwicklung des Prinzips „Wissen ist Macht“ entstanden daraus Könige, Fürsten und Politiker sowie Religionen, Priester und Kirchen. Diese MACHT wäre unter „fremdbezügliches Wissen“ einzuordnen. Das gilt auch für die MACHT von Unternehmen, staatliche Institutionen, Parteien und künstlerisches Wissen wie Musik, Literatur, Medien usw.

„Selbstbezügliches Wissen“ ist dagegen das, was schon die Sophisten im alten Griechenland lehrten, wobei erst mit Sokrates ein wirklich ganzheitliches „selbstbezügliches Wissen“ in unserer westlichen Kultur entstand.

Nachtrag
Auch Arbeitnehmer haben ein so genanntes fremdbezügliches Wissen, um damit zu überleben. Sie eignen sich Sachwissen an, das sie einem Unternehmen für Geld verkaufen, damit dieses Unternehmen dann Gewinne erwirtschaftet. Selbstbezügliches Wissen wäre dagegen, wenn man sich im Sinne des Sokrates selbst erkennt. Deshalb wird Sokrates auch zurecht als politischer Philosoph angesehen, bei dem das Wissen selbstbezüglich wurde.

Vielen Dank für die umfangreiche Antwort!

Also habe ich das nun richtig verstanden, dass sich fremdbezügliches Wissen auf fremde Sachen/Sachverhalte bezieht, während sich selbstbezügliches Wissen auf mich selbst bezieht? Selbstbezüglichkeit = auf mich selbst bezogen
Fremdbezüglichkeit = auf fremdes bezogen

Ambivalenz des Wissens
Im Philosophischen Lexikon zum Beispiel von Meyer findet sich weder der eine noch der andere Begriff. Unter Wissen verzeichnet das Meyers Philosophie-Lexikon: „Ein Modus des Für-wahr-Haltens. Wissen zeichnet sich sowohl durch einen hohen Grad an subjektiver Überzeugung aus als auch durch die Verfügbarkeit einer nachprüfbaren Begründung.“

Das sagt wenig aus zu dem hier angesprochenen Thema, das offenbar äußerst komplex zu sein scheint. Wenn Schüler und Studenten zum Beispiel vorgeschriebene Prüfungsaufgaben mit dem Nachweis ihres Wissens durchführen: ist das dann selbstbezügliches Wissen oder fremdbezügliches? Einerseits lernen die Schüler und Studenten dieses Wissen ja für die vorgeschriebenen Prüfungsaufgaben von Lehrern und Dozenten, andererseits dafür, um gute Noten zu schreiben und dadurch später einmal eine bessere Wettbewerbschance auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen.

Wenn zum Beispiel ein Architekt ein Haus baut: Ist das nun ein fremdbezügliches Wissen oder ein selbstbezügliches Wissen? Immerhin verdient er ja mit diesem Wissen seinen Lebensunterhalt und somit ist dieses fremdbezügliche Wissen also auch zugleich selbstbezüglich.

Auch wenn Unternehgmen mit ihrem Wissen „reich“ werden, ist dann ihr Wissen nur selbstbezüglich oder vielmehr auch fremdbezüglich, weil sie ohne Kunden nicht „reich“ werden können???

Das Thema Wissen ist also von Ambivalenz durchdrungen, denn reines selbstbezügliches Wissen findet man selbst bei Sokrates nicht, weil er ja auch sein Wissen an andere weiter lehrte. Reines selbstbezügliches Wissen hätte vielleicht nur ein Einsiedler. Ich denke zum Beispiel an den amerikanischen Philosophen Henry Thoreau, mit seinem berühmten Buch „Walden“. Aber selbst er war nicht nur selbstbezüglich in seinem Wissen, das ich mir als Leser als ein frendbezügliches Wissen aneignen kann, für mein eigenes, selbstbezügliches Wissen. So wurde der amerikanische Philosoph Henry Thoreau zum Beispiel zum großen Vorbild für den indischen Politiker Gandhi. Und dessen selbstbezügliches Wissen wiederum wurde zum fremdbezüglichen Wissen des Volkes in Indien, das sich von der englischen Unterdrückung mit diesem Wissen friedlich befreite.

Diese wenigen Beispiel können vielleicht verdeutlichen, wie komplex dieses Thema ist und wie die Ambivalenz des Wissens im wirklichen Leben funktioniert.