Was hat uns Brecht heute noch zu sagen?

Liebe Literaturkenner,
nachdem ich einiges von Brecht gelesen habe bleibt ein zwispältiges Gefühl in mir zurück: Auf der einen Seite wirkt manches antiquiert, z. B. ist das Vorspiel vom „Kaukasischen Kreidekreis“ wie in einem Aufsatz treffend formuliert wirklich „Sowjetkitsch“, die ideale kommunistische Gesellschaft, die dort vorgestellt wird, wirkt im Jahr 2006 einfach nur noch lächerlich. Auch mit seiner Vorstellung vom epischen Theater kann ich nicht viel anfangen.

Auf der anderen Seite enthält z. B. „Das Leben des Galilei“ viele hochinteressante Gedanken und Diskussionen, Brechts Sprache ist beeindruckend einfach, klar und ausdrucksstark, seine Theaterstücke enthalten sehr wirkungsvolle Szenen.

Seine politische Haltung zum 17. Juni, bei dem er die DDR-Regierung direkt unterstützte und die Aufständischen als „von Faschisten irregeleitet“ bezeichnet, ist ein trauriges Kapitel, welches aber nicht direkt mit seinem Wert seiner Werke zu tun haben muss.

Also: Einer der größten Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte
oder einer, der zur Zeit des kapitalistisch-kommunistischen Kampfes der Gesellschaftssysteme völlig überschätzt wurde und uns heute nichts mehr zu sagen hat? Was denkt ihr über Brecht?
Gruß!
Christian

Die meisten Genies haben zwei Gesichter
Lieber Christian

Die Bedeutung von Bertolt Brecht als literarische Jahrhundertgestalt
ist unumstritten. Seine Stücke haben die Schauspielhäuser weltweit
verwandelt.

Die meisten Genies haben zwei Gesichter. Es ist dein Problem, ob du
beide, das Genie Brecht und den Menschen Brecht, akzeptieren kannst
oder nur das Genie.

Gruss
Rolf

Hallo Christian

Ja, man kann sich fragen, ob der gute Bert uns noch was zu sagen hat. Das Schwierige am Ganzen ist ja immer, dass, wenn man liest, man selbst irgendwo „betroffen“ ist und es in dem Sinne eine objektive Interpretation nie geben kann. Insofern kann ich wieder mal nur für mich PERSÖNLICH sprechen. Ich bin in meinem Deutschstudium nicht selten um Brecht herumgekommen… und wie es nicht allzu schwer zu erraten ist, gehört dieser Mann bei mir ganz bestimmt nicht in die Favoritenliste meiner beliebtesten Autoren.

Das liegt vielleicht daran, dass ich niemals einen Zugang zu kommunistischen Ideen gefunden habe. So sind mir auch diejenigen Bücher am liebsten, deren Sinn und Kernaussage er später praktisch um 180° gedreht hat. „Mann ist Mann“ ist so ein Beispiel. Bevor er die Hilfsbereitschaft des Protagonisten ins Lächerliche zog, meinte er dieses „alles tun für die Gesellschaft ohne sich um eigene Bedürfnisse zu kümmern“ nämlich völlig ernst, bis ihm in späteren Jahren selbst aufging, dass das keine Zukunft haben wird.

Ein anderes Buch, was mir gefallen hat, aber nicht unbedingt in dieselbe Richtung geht ist „Der gute Mensch von Sezuan“.

An der Dreigroschenoper dagegen habe ich mir 5 mal die Zähne ausgebissen, habe mich mehrmals aufgerafft eine Theateraufführung anzusehen davon - und kann immer noch nichts damit anfangen.

Es ist, als ob ich den Zugang dazu nicht fände. Brecht „sagt mir nichts“. Manchmal ist es mir irgendwo auch zu banal, zu weit entfernt von meinen persönlichen Ansichten und ich habe generell Mühe mit Leuten, die sich selbst als Genie betrachten.

Ich finde, dass Brecht in der heutigen Zeit stark überbewertet wird - doch wer weiss, die Zukunft wird zeigen, was man in 50, 100 oder gar 200 Jahren in der Schule lesen wird…

Die Biografie Brechts allerdings ist durchaus einer Vertiefung wert, es ist erstaunlich, wievieles er in seine Werke praktisch 1:1 übertragen hat. Und nicht vergessen… laut einigen Biografen war es gar nicht er, der manche Werke verfasst hat, sondern eher eine unter seinen vielen Frauen…

Just my 2 cents…

Semiramis