Hierzu eins meiner Lieblingsessays (Original Sebastian Haffner „Rechts und links“ in: Der Monat, 1980. Ich habe das im Nachdruck: Sebastian Haffner „Rechts und links“ in: „Im Schatten der Geschichte - Historisch-politische Variationen“ 1985 S. 231 - 234). Ich hoffe aufgrund des Quellennachweis ist dies kein Verstoß gegen die Urheberrechte. *g*:
"Rechts und links politisch zu definieren, habe ich längst aufgegeben. Es ist ja nicht zu übersehen, daß Rechte und Linke ihren politischen Standort in diesem Jahrhundert vertauscht haben, in Europa jedenfalls. Alles, was vor hundert Jahren links war - Republik, Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Toleranz, Pressefreiheit, Gewerbefreiheit, Freihandel -, ist heute rechts. Was damals rechts war - Autorkratie, Autorität, Disziplin, Zensur, Staatswirtschaft, geschlossene Grenzen -, ist jetzt links. Manche Leute haben denn auch versucht, die Etiketten „rechts“ und „links“ entsprechend umzukleben, aber das ist nicht gelungen. Kommunisten sind immer noch links, Konservative rechts - auch wenn die Konservativen von heute die Liberalen von gestern sind und die Kommunisten die neuen Zaren stellen. Und irgendwo stimmt das auch.
Du bist am Ende - was du bist.
Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken -
Du bleibst doch immer, was du bist.
Linke bleiben erkennbar Linke, Rechte Rechte, auch wenn sie ihren politischen Standort vertauschen - und auch wenn sie unter sich aufs wildeste streiten, wozu übrigens die Linken mehr neigen als die Rechten.
Lange Zeit habe ich geglaubt, links und rechts wenn schon nicht politisch, so doch populär-philosophisch unterscheiden zu können: links gleich optimistisch, rechts gleich pessimistisch. In wie vielen Unterhaltungen habe ich nicht doziert: „Der linke Glaubensartikel lautet: Der Mensch ist gut. Rechts ist, wer statt dessen an die Erbsünde glaubt - oder sagen wir: an die menschliche Unvollkommenheit. Kinks ist, von Veränderung eher Verbesserung zu erwarten, rechts: eher Verschlechterung. Links ist der Fortschritt, von rechts tönt es: Das alte Wahre, halt es fest!“
Klingt immer noch einleuchtend, nicht wahr? Aber neuerdings scheint auch diese Unterscheidung nicht mehr zu stimmen. Links ist heute nicht mehr nur rot, sondern ebensooft grün: Zivilisationspessimismus, Fortschrittsangst, „Zurück zur Natur“ - auch das ist heute links, nicht etwa rechts. Die Leute, die gegen Atomkraftwerke, gegen neue Autobahnen und neue Flugplätze - also gegen den technischen Fortschritt - demonstrieren, sind deutlich ganz überwiegend linke Leute, und bei der linken Intelligenz ist heute ein Menschenbild Mode, so schwarz in schwarz gemalt, daß die schwärzeste Erbsündenlehre dagegen wie der ruchloseste Optimismus wirkt: der Mensch nicht nur ein Mangelwesen, sondern eine Fehlkonstruktion, die Menschheit der Hautkrebs des Erdballs, auf dem besten Wege, nicht nur sich, sondern alles Leben zugrunde zu richten. Überall unter Linken hört man heute nicht mehr, wie noch gestern, ein einstimmiges „Vorwärts!“, sondern ebenso laut, fast schon lauter, ein verzweifeltes: „Zurück! Zurück! Um Gottes willen zurück!“ Das hätte man früher Reaktion genannt. Aber es sind immer noch erkennbar dieselben Linken, die heute „Zurück!“ rufen.
Was definiert sie dann aber als Linke - und die Rechten als Rechte? Ist es einfach ein Temperamentunterschied? Sind links die Typen, die sich gern entrüsten - und rechts die geborenen Phlegmatiker? Aufs Ganze gesehen, möchte es manchmal so scheinen; aber im Einzelfall bricht auch diese Unterscheidung zusammen.
Versuchen wir es deshalb jetzt einmal mit einem ganz anderen Ansatzpunkt: Woher kommen denn eigentlich die Bezeichnungen „rechts“ und „links“? Ich habe oft gelesen - einer schreibt’s wohl vom andern ab -, sie kämen daher, daß in der französischen Kammer zur Zeit Louis Philippes die Republikaner links vom Präsidenten gesessen hätten und die Monarchisten rechts, aber das hat mich nie überzeugt. Wer interessierte sich schon für die Sitzordnung in der französischen Kammer des Bürgerkriegskönigtunms? Weit eher, sollte man denken, hätten sich die Revolutionsparlamente von 1789/94 auch außerhalb Frankreichs dem allgemeinen Bewußtsein einprägen können, aber dort gab es kein rechts und links, sondern ein oben und unten den „Berg“ und die „Ebene“ oder, polemisch, den „Sumpf“; es sind nicht diese Begriffe, die sich eingebürgert haben.
Ich kann es nicht beweisen, aber ich glaube, wenn heute links und rechts Bezeichnungen sind, die auf der ganzen Welt jeder versteht, obwohl sie keiner definieren kann, dann rührt das nicht von irgendwelchen Zufälligkeiten parlamentarischer Sitzordnungen in einem einzelnen Land und einer einzelnen, relativ uninteressanten Epoche her, sondern es muß elementare Gründe haben, und solche Gründe liegen ja eigentlich auf der Hand, genauer: auf den Händen.
Der Mensch hat bekanntlich zwei Hände, eine rechte und eine linke, und diese zwei Hände sind verschieden: Die rechte ist die Arbeitshand, man braucht sie zum Schreiben, zum Essen, zum Zufassen, auch zum Schlagen, kurz zu allem, was Aktivität, Kraft und Geschicklichkeit erfordert. Sie ist die Hand für die Praxis. Die linke ist sozusagen nur eine theoretische Hand, weniger beschäftigt und weniger geschickt, und wenn man sie verliert, ist es das kleinere Unglück. Aber ganz überflüssig ist sie auch nicht; zur Not kann und muß sie die rechte ablösen oder ersetzen, und vor allem braucht man sie, immer und immer wieder, zum Gegenhalt.
Wenn man sich das vergegenwärtigt, wird dann nicht auf einmal alles klar? Zum Beispiel, daß die Rechte in fast allen Ländern öfter und länger regiert als die Linke? Das die eigentliche Heimat der Linken die Opposition ist und ihre (nützliche) Funktion der Widerspruch? Auch das eigentümlich Erfolglose - „Linkische“ - das aller linken Politik erfahrungsgemäß anhaftet, erklärt sich plötzlich. Sogar an Helmut Schelskys „Die Arbeit tun die anderen“ könnte man denken, den Titel seiner berühmten Polemik gegen die linke Intelligenzija. Die praktische Arbeit tat ja wirklich normalerweise die rechte Hand.
Nur darf man natürlich nicht vergessen, daß es auch Linkshänder gibt."