Ich bin eine Frau … und ich rasieren mir die Beine.
Das sollte erstmal keinen wirklich zum Erstaunen bringen denn, nebenbei gesagt, das tun so etwa 95% aller Frauen.
Als ich mir gestern dabei ins Bein geschnitten habe und heute die Spuren mit Wundpuder behandeln musste (habe mich halt wirklich blöd angestellt), brachte mich das dazu, über das vermeintlich Normale bzw. Unnormale in unserer Gesellschaft ein wenig nachzugrübeln.
Und je mehr ich von meinem blutigen Bein auf den Zustand dieser Gesellschaft schloss, desto unnormaler und verdrehter kam sie mir vor.
Doch stopp, greifen wir nicht vorweg, sondern gehen noch einen Schritt zurück … dorthin, wo die Wirren des menschlichen Zusammenlebens noch nicht ganz so deutlich zum Ausdruck kommen…
Ich war dabei zu überlegen, wie man das Pflaster am besten befestigt, so dass es auch ein Judo-Trainig übersteht ohne zu verrutschen … als meine Mitbewohnerin lachend vorschlug, ich solle bei etwaigen Fragen danach doch angeben, ich hätte mich am Bein „gestossen“. „Zumindest, wenn ein Mann dich danach fragt“.
„Aber“, so dachte ich, „warum soll ich nicht einfach die Wahrheit sagen, nämlich, dass ich mich beim Rasieren geschnitten habe…auch wenn es ein Mann wissen will?“
Denn, so sei gesagt (womit die Spannung erheblich abgedämpft wird), der Schnitt befindet sich nicht an irgendwelchen delikaten Stellen, die für die Öffentlichkeit tabu sind, sondern schlichtweg unten am Knöchel, an einer der neutralsten Stellen des menschlichen Körpers.
Denn, Männer sind ja freundliche und mitfühlende Wesen. Sie könnten mich mitleidig anschauen und fragen, ob ich dabei auch noch gestürzt sei, woran genau ich mich denn gestossen hätte, wie es denn passiert wäre, dass ich gefallen, gestolpert oder was auch immer sei…
Und ich würde es keinem Mann verübeln, wenn er mich nicht für ganz helle hielte, bekäme er eine Antwort der Art „ähhhhh, also so genau weiss ich das auch nicht, die Kante war halt einfach da, hat sich aus dem Nichts materialisiert, kommt halt manchmal vor, so eine plötzliche Anballung von interstellarer Materie … äh ja, äh so … erklären kann ich das auch nicht…“
Nun, wenn ich ihm dagegen die unvorstellbar peinliche und geradezu exibitionistische Wahrheit ins Gesicht schleudern würde … " …och, hab mich halt beim Rasieren geschnitten, hab mich blöd angestellt" … dann würde er wahrscheinlich nur sagen „aha, kann vorkommen, kenn ich“ und den nächsten Judo-Wurf ansetzten. So viel zum Thema „Dramatik“.
Aber mein Gehirn gab keine Ruhe, sondern wollte den Exkurs noch ein wenig ausweiten.
„Warum“, so dachte ich „ist es überhaupt peinlich, sich zu rasieren, als Frau?“
Männer tun es jeden Morgen, Frauen an den Beinen, im Sommer, vielleicht jeden zweiten Tag, sehr undramatisch, sehr schnell erledigt, kein Grund zur Aufregung. Kein Grund?
Wenn es 95% aller Frauen tun, und jeder Mensch, der in Sexualkunde nicht geschlafen hat, eigentlich wissen sollte, dass geschlechtsreife Wesen keine seidig-glatten Beine haben, wie sie uns in der Werbung allenthalben präsentiert werden … warum soll man es dann verheimlichen und sich etwa noch dafür schämen, als ob etwas nicht in Ordnung wäre?
Ich beziehe das jetzt nicht nur auf das Rasieren von Beinen und auf Frauen als solche.
Vielmehr spreche ich von der teilweise ideotischen Scham, den Bildern der Werbung in Fernsehen und Hochglanzmagazinen nicht zu entsprechen.
Frauen in der Werbung haben keine Haare an den Beinen … also täte ich gut daran, meine als Missbildung zu betrachten und auf Teufel-komm-raus das Rasieren verheimlichen zu wollen.
Tue ich aber nicht.
Männer sind nämlich klug. In solchen Sachen sogar erheblich klüger als Frauen. Machen sich nicht in die Hose, wenn sie dem Typen aus der Marboro-Werbung nicht so ganz ähnlich sehen.
Stehen nicht stundenlang vorm Spiegel und beweinen ihr Schicksal, das ihnen keine schrank-breiten Schultern beschert hat. Wälzen sich nicht in Scham und Selbstmitleid, weil noch keine Model-Agentur lechzend die Hand nach ihnen ausgestreckt hat, weil sie eben aussehen wie …wie… naja, wie ein normaler Mensch halt eben aussieht, zum Kuckuck.
Was also sollte uns zur Definition von „Normal“ gereichen?
Meiner Meinung nach eine gewisse Reinlichkeit, der Wunsch, nicht zehn Meilen gegen den Wind zu stinken … naja, ich übertreibe sehr, aber ich denke, es kann nichts schaden, wenn man sich hin und wieder sehr klar vor Augen hält, dass die Idealbilder, die uns von jeder Wand her anlachen, in den Bereich der Wunschträume gehören.
Nur dorthin, und dass sie ebenso wenig mit der Realität zu tun haben wie ein Furz mit einem Tornado.
Wenn man sich weigert zu erzählen, wie viele Lover man schon hatte, mal eben so als Party-Gag, als ob kein Herzblut und Seelenschmerz daran hinge, dann gilt man als prüde, oder bestenfalls als verschlossen.
Wenn man keinen Spass daran hat, andere Seelen um den Finger zu wickeln und sie nach einem ONS in den Wind zu komplimentieren, dann ist wohl irgendwas mit der Weiblichkeit (bzw. Männlichkeit) nicht in Ordnung, bestenfalls gilt man halt als menschenscheu und nicht ganz up to date.
Über alles kann man scheinbar reden, über die intimsten Dinge, als wäre es ein Snack oder Schokoladenpudding grad mal so zwischendurch … aber zuzugeben, dass man ein scheiss-normaler Mensch ist, der sich die Haare an den Beinen rasiert … das grenzt an „Erregung öffentlichen Ärgernisses“.
Mir drängt sich der Gedanke auf, dass hier was nicht stimmt.
Es ist kein Problem, und schon gar nicht peinlich (?) in aller Öffentlichkeit darüber zu reden, welche Stellung man im Bett bevorzugt. Hat ja auch nichts mit Privatsphäre zu tun oder so, ist ja auch nicht irgendwie intim oder so.
Aber zu zuzugeben, dass man am Samstag nicht auf die coolste Party geht, sondern grübelnd zu Hause sitzt und sich ziemlich verlassen fühlt … das ist scheinbar peinlich.
Dass man Haare an den Beinen hat ist peinlich. Ein Damenbart ist noch viel peinlicher. Cellulite ist furchtbar peinlich. Der ganze Körper ist eigentlich permanent peinlich, denn so aussehen, wie es doch eigentlich „„normal““ ist … das tut man ja sowieso nie.
Nun denke ich mir in meiner jugendlichen Einfalt und Beschränktheit aber, dass es hundert mal mehr Leute gibt, die Cellulite, eine Glatze oder Haare an den Beinen haben als coole Typen, nach denen an jeder Strassenecke ein Wesen des anderen Geschlechts die Hand ausstreckt, die auf jeder Party gern gesehen sind, und die weder an Sylvester, noch am Samstagabend, noch irgendwann anders allein sind.
Ich denke mir, dass es das Normalste der Welt ist , Cellulite, eine Glatze oder Haare an den Beinen zu haben und einsame Stunden im Leben zu haben, in denen man sich von Gott, der Welt und der kleinsten Liebe verlassen fühlt.
Und ich frage mich, warum man sich dafür schämen soll, dass man in etwa so ist wie 80% der Menschheit, nämlich völlig normal.
Ich frage mich, warum es „normal“ ist, das Innerste nach aussen zu kehren, so dass es jeder ungebetene Depp sehen kann, und warum es unnormal oder peinlich ist wenn eine Frau sagt: „och, hab mich halt beim Rasieren geschnitten, hab mich blöd angestellt.“
Ein Hoch auf unsere aufgeklärte Gesellschaft, die Hemmungen erfolgreich (???) beseitigt hat, und in der man ungestraft über alles sprechen kann !
(Nur die Normalität sollte man besser nicht erwähnen … das könnte „peinlich“ werden…)
Gruss an Euch alle, Bettina