anstrengender und ätzender Schmerz
Hallo Oliver und Mitlesende,
für mich als Sprachkritiker ist „Schmerz“ zunächst mal ein Wort, was wie alle Worte, für persönliche und damit unterschiedliche Empfindungen in unterschiedlichen Anlässen und Zusammenhängen benutzt wird. Demnach geht meine nächste Frage dahin, wieviel und was diese Empfindungen in solchen Zusammenhängen gemeinsam haben können. Und für diese Mannigfaltigkeit ist mir die Lexikondefinition für Schmerz als:
unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller
oder potentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit
Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird"
etwas zu dünne.
Das betreffende Sinnes- und Gefühlserlebnis kann in sehr unter-schiedlicher Weise (bis hin zu gar nicht) „unangenehm“ sein. Was ist z.B. mit dem Phänomen des „nachlassenden Schmerzes“, oder dem „Heilungsschmerz“ was sich ja angenehmer anfühlen kann, als grad’ gar nichts zu merken. (Der Volksmund: „Schön, wenn der Schmerz nachlässt“ ist mir da dichter an der Erfahrung als das schlaue Lexikon). Es soll sogar vorkommen, dass Schmerz in ununterscheidbarer Tateinheit mit sinnlicher Lust (Volksmund: Liebe machen bis der Arzt kommt …) auftritt.
Schmerz kann eine (potentielle) Schädigung signalisieren, oder eben auch deren Linderung oder Meisterung. Ein schmerzhafter Muskelkater, verbunden mit der Erfahrung, eine persönliche Leistungsgrenze erweitert zu haben, kann Anlass zu Zufriedenheit und Stolz sein.
Umgekehrt teilt sich nicht jede (potentielle) Schädigung als Schmerz mit. Unter extremer Anspannung überlagert manchmal ein Schock, dasjenige was eigentlich wehtun müsste; und wenn es vor-bei ist, tut es manchmal erst dann weh, nachdem es vorbei ist.
Ich glaube, ein und die selbe Verletzung wird sich unterschied-lich anfühlen, je nachdem ob ich den Eindruck habe, verbluten zu müssen oder kompetent verarztet zu werden. Das wäre meine Brücke zur „psychischen Dimension“ von Schmerz.
Ich würde lieber erstmal „neutral“ herangehen und sagen: Schmerz ist eine hefige Stimulation, die sich Priorität im Empfinden verschafft. Wenn Schmerz angesagt ist, dann ist erstmal nichts mehr sonst angesagt. Andererseits ist nicht jede „gebieterische Stimulation“ Schmerz. Elende Übelkeit z.B. kann auch jedes andere Empfinden überlagern, dennoch würden wir das Gefühl vor dem Übergeben nicht als Schmerz bezeichnen. Eine heftige Stimulation kann sich so anfühlen, dass sie sofort aufhören soll, oder so, dass erst das „vollbracht“ werden soll, was sie begleitet. Der Schmerz bei einer Geburt dürfte z.B. einhergehen mit dem Wunsch, dass die Geburt sich nunmehr endlich vollziehen möge, nicht aber damit, dass sie gefälligst abgebrochen werden möge.
Wenn Schmerz eine Anstrengung begleitet, dann wollen wir, dass die Anstrengung gelingt und nicht einfach, dass sie aufhören möge. (Wenn ich mich abmühe jemanden, auch unter eigenen Anstrengungsschmerzen, aus einem Brunnen zu zerren, dann will ich ja, dass mir das gelinge und nicht einfach, dass der Schmerz gefälligst aufhören möge). Ein „Anstrengungsschmerz“ kann geradezu als heroisch-erhebend empfunden werden; so sehe ich das jedenfalls, wenn ich mir vor Augen führe, wie ein Gewichtheber doch dann anders aussieht, wenn er ein Gewicht hebt, als wie er aussieht, wenn im das Ding auf die Füsse fällt.
Will ich dasjenige, was der Schmerz da begleitet? (Heilung, Geburt, Rekord, Rettung Leistung, Meisterung etc.) oder passt mir die ganze Chose nicht (d.h. bin ich Opfer eines Unfalls, von Willkür oder Missbrauch)? Diese Unterscheidung scheint mir schon wichtig zu sein. Meaning follows perception, meine ich. Und meine perception folgt meinem involvement. Bin ich an etwas beteiligt, an dem ich beteiligt sein will? Ist der „Schmerz“ ein Preis für etwas, was ich will, vielleicht sogar der Beleg dafür, dass ich es wirklich will und ernsthaft unternehme? Auf Schmerz-zeugnisse wie archaischem Narbenschmuck oder ein schmuckes Ver-wundetenabzeichen lege ich persönlich zwar keinen wert, aber aussehen wie ein Sonnyboy, dessen Lebensleistung sich im Memo-rieren von Papas Kontonummer erschöpft, möchte ich auch nicht.
(Tue ich auch nicht… 
Trennungsschmerz (oder auch das Gefühl unglücklicher Liebe) zeigt mir den Verlust oder die Unmöglichkeit einer Verbindung an, in deren Aufgehobenheit ich mich bereits (oder noch) wohlig wähne. Ich habe sowas eigentlich immer eher als ein „Elend“ empfunden, es aber auch lieber „Scherz“ genannt, weil es sich heroischer anhört. (Ein Elend wäre nämlich allein mein Problem, beim Schmerz dagegen gibt es qua Semantik „VerursacherInnen“)
Zur Bezeichnung Trauer neige ich in Verlustfällen, die nicht auf Willensakte zurückgehen; klassischerweise Tod, incl. der Niederlage einer geliebten „Sache“ (Ideologie z.B.). Abweisung oder Aufkündigung einer Verbindung dagegen erlebe ich als ein „Hundeelend“ verbunden mit Gefühlen von Kränkung, „Ungerechtigkeit“ und dem ätzenden Verdacht des Versagens oder zu einer finsteren Verdammnis zum Unglück.
Ein völliges Durcheinander von Trauer und Elend dürfte der Suizid eines nahestehenden Menschen auslösen (Analogie: das Fehlverhalten (Verbrechen oder Kapitulation) einer geliebten Sache; hier dann oft auch mit Wut gemixt).
(Super-GAU demnach: AmokSuizid oder der Mord eines Elternteils an einem Elternteil)
Den Begriff „Gewebsschädigung“ würde ich hier in einem weiteren Sinne anwenden: Inklusive des „erlebten Gewebes“ einer intimen oder hingebungsvollen Verbindung. Wenn das Gewebe zerreist, tut es weh, wenn es sich als „verdorben“ erweist, ist es „bitter“. Niederlagen und Enttäuschungen sind eher „bitter“ als bloss schmerzhaft. Siege können schmerzhaft sein; schmecken aber doch „süss“, (wenn sie sich nicht gerade als Phyrrussiege entpuppen).
„Schmerz“ ist so ein Zauberwort, finde ich, hinter dem ein ganzes Universum an emotionaler Semantik weggesperrt ist. Wenn dann noch das Wort „Ursache“ hinzugenommen wird, wird es, wie ich finde, oft ganz absurd und gefährlich, weil dann gar nicht mehr geguckt werden kann, ob nicht vielleicht eine Anstrengung im Spiel ist, die sich (incl. Schmerz) lohnt. Irren kann man sich immer, aber ein Entschluss, mit den Ursachen von Schmerz sich auch gleich jede Anstrengungsbereitschaft zu schenken, um halt Schmerz zu vermeiden, dürfte eine ziemlich zuverlässige Einschwenkung in Richtung Daseinsbeendigung darstellen. Doch bevor es soweit ist, tut’s in der Regel noch mal weh. Und das ist auch gut so; schließlich hat das Gewebe unseres Daseins auch ein Recht auf Schädigungsalarm.
Ist etwas länger geworden, als ich dachte; ist dafür ja auch das Philosophiebrett 
Sprachkritische Indianergrüsse,
Thomas