Was kommt zuerst? Sozial- oder Selbstkompetenz?

Welche Kompetenz entwickelt sich vor der jeweils anderen? Nach Roth müssten die Sozial- und Sachkompetenz Voraussetzung für die Entwicklung der Selbstkompetenz sein. Ich bin nun allerdings verunsichert, da etliche Autoren die Selbstkompetenz als Voraussetzung für die Sozialkompetenz sehen.

Danke
Beate

Zwei Pole eines Prozesses
Hi.

Welche Kompetenz entwickelt sich vor der jeweils anderen? Nach
Roth müssten die Sozial- und Sachkompetenz Voraussetzung für
die Entwicklung der Selbstkompetenz sein. Ich bin nun
allerdings verunsichert, da etliche Autoren die
Selbstkompetenz als Voraussetzung für die Sozialkompetenz
sehen.

Beide Kompetenzen sind dialektische Pole ein- und desselben Entwicklungsprozesses. Also kann keine der anderen vorausgehen.

Chan

Hallo Chan,

danke für deine rasche Rückmeldug. Kannst diesen spezifischen Entwicklungsprozess (namentlich) definieren?

Danke dir
Beate

Hallo,

ich würde die Selbstkompetenz vor der Sozialkompetenz sehen. Kleinkinder sind sehr viel früher in der Lage, Dinge zu tun, bei denen sie ihre Selbstwirksamkeit erleben können als sie zu einem sozialen Miteinander fähig sind.

Der kindliche Egozentrismus (nach Piaget die Phase der Präoperationalen Intelligenz) ist geprägt von der Sichtweise, dass die Welt um das Kind herum genauso denkt und fühlt, wie es selbst. Indem es durch eine Aktion eine Reaktion des Gegenübers auslöst, erlebt es seine Selbstwirksamkeit gleichzeitig als Allmächtigkeit.

Ein soziales Miteinander, bei dem das Kind versteht, dass andere Menschen anders denken und Fühlen (Empathiefähigkeit) und bei dem es diese Erkenntnis auch in seinem Handeln umsetzen kann, entsteht erst später.

Schöne Grüße
Jule

Hallo Beate,

ich fürchte, Fragen dieser Art sind in den Sozialwissenschaften nur unter Bezugnahme auf konkrete Autoren / Ansätze / Theorien zu beantworten. Das liegt daran, dass die Begriffe ganz unterschiedlich definiert werden können und tatsächlich auch definiert werden. Wenn man nun beispielsweise die Frage auf Heinrich Roths Pädagogische Anthropologie bezieht, dann muss die Antwort wohl „Sozial vor Selbst“ heißen: „Selbstkompetenz ist ohne Sach- und Sozialkompetenz kein sinnvoll erfüllter Begriff. Es kann keine Entwicklung zur Selbstkompetenz geben ohne Entwicklung zur Sach- und Sozialkompetenz.“ (Roth, 1971, S. 180)

Wobei dann noch anzumerken ist, dass das wohl nicht bedeuten muss, dass sich die Sozialkompetenz erst vollständig entwickelt haben muss, bevor die Entwicklung der Sozialkompetenz beginnen kann.

Beste Grüße
Prokrustes

Sozial- oder Selbstkompetenz
Lieber Prokrustes,

erstmal danke für dieses Zitat - genau das habe ich gesucht - bin momentan im Ausland und komme leider nicht an das Buch, welches ich benötige!

Um die Aussage von Roth (siehe unten) vor meinem Professor belegen/begründen zu können, bräuchte ich noch die Begründung Roths, warum er dieser Meinung ist. Ich bin mit Roths Werken zu allem Überfluss nicht sonderlich vertraut und traue mich daher keine Aussage darüber zu tätigen. Wenn du dich mit seiner Philospohie etwas besser auskennst, wäre ich dir sehr dankbar, über eine kurze Begründung für unten angeführtes Zitat.

"Selbstkompetenz ist ohne Sach- und Sozialkompetenz

kein sinnvoll erfüllter Begriff. Es kann keine Entwicklung zur Selbstkompetenz geben ohne Entwicklung zur Sach- und
Sozialkompetenz." (Roth, 1971, S. 180)

Danke schon jetzt für das wertvolle Zitat :wink:
Beate

Hallo Beate,

da muss ich leider passen: Auch mir liegt das Buch nicht vor; das Zitat habe ich einer (nur sehr kurzen) Internetquelle (dafür mit um so längerer URL) entnommen: http://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&sourc…

Viel weiter wird Dir das nicht helfen…

Beste Grüße
Prokrustes

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Kernberg, Lacan
Hi Beate,

Kannst du diesen spezifischen Entwicklungsprozess (namentlich) definieren?

Das schon von anderen angesprochene Problem ist das der Definition von Sozialkompentenz.

In „Das Gruppentraining sozialer Kompetenzen“ (S. 82) wird soziale Kompetenz ziemlich weit definiert:

… die Verfügbarkeit und Anwendung von kognitiven, emotionalen und motorischen Verhaltensweisen, die in bestimmten sozialen Situationen zu einem langfristig günstigen Verhältnis von positiven und negativen Konsequenzen für den Handelnden führen.

Für meinen Geschmack ist diese Definition bereits auf das Verhalten von Kleinkindern anwendbar.

In einem engeren Sinne (social skills) mag die Sozialkompetenz der Entstehung der Selbstkompetenz nachgängig sein (so Jule), wobei auch diese zu definieren wäre.

Fasst man beide Bedeutungen ziemlich weit, führt das zu Otto Kernbergs Objektbeziehungstheorie (die auf Melanie Kleins Arbeiten fußt).

Kernberg schreibt in „Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus“ (358):

Das Selbst ist eine intrapsychische Struktur, die sich aus mannigfachen Selbstrepräsentanzen mitsamt den damit verbundenen Affektdispositionen konstituiert. Selbstrepräsentanzen sind affektivkognitive Strukturen, die die Selbstwahrnehmung einer Person in ihren realen Interaktionen mit bedeutsamen Bezugspersonen und in phantasierten Interaktionen mit inneren Repräsentanzen dieser anderen Personen , den sogenannten Objektrepräsentanzen, widerspiegeln.

(Hervorhebung von mir)

Das Selbst resultiert also unmittelbar aus den Interaktionsprozessen mit der Umwelt, insbesondere dem sozialen Umfeld. Ein anderer Psychoanalytiker, Jacques Lacan, sah das ähnlich. An Sartre und Hegel anschließend betonte er, dass das Subjekt nur im Austausch mit dem Anderen (soziales Umfeld) entsteht und sich bildet. Wie kann also, in dieser Sicht, das Selbst unabhängig von seiner Fähigkeit, mit anderen Personen zu interagieren, eine Selbst-Kompetenz entwickeln?

Aber wie gesagt: je nach Definition der beiden Kompetenzbegriffe ergeben sich unterschiedliche Einschätzungen.

Chan

Danke für diese Ausführung, hilft mir sehr weiter.

Schöne Grüße
Beate