Was stiftet Identität?

Hallo,

es fällt mir schwer, meine Frage genau zu formulieren, darum bitte ich um Geduld beim Lesen:

Vor Kurzem war ich mit jemanden eins trinken. Dieser Person war es offensichtlich ausgesprochen wichtig, andauernd klarzumachen, dass er schwul ist. Niemand der Anwesenden hatte sexuelles Interesse an der Person oder ein Problem mit Homosexualität. Um so irritierender war es, dass diese Person ungelogen jeden Satz mit Worten wie: „Ich als Schwuler“, „wir Homosexuellen“, usw. begann. Das ging soweit, dass er eine rosa Limonade bestellte mit den Worten: „Rosa, das passt, weil ich ja schwul bin!“.
Seitdem fällt mir auf, dass viele Menschen so etwas tun: Leute, die einem permanent mitteilen, dass sie z.B. hochbegabt sind, allergisch, ADHS haben, christlich sind, links oder rechts sind, usw.

Nun würde ich mal davon ausgehen, dass Menschen ja nie nur eine Sache sind. Ich kenne viele Schwule, Hochbegabte, Allergiker, ADHSler, Linke und Rechte die diese Facetten nicht als ihre alleinigen Merkmalen ihrer Persönlichkeit nützen.

Mir ist schon klar, dass es Situationen gibt, in denen das in den Vordergrund tritt, aus z.B. praktischen Gründen. Ein Rollstuhlfahrer braucht logischerweise bestimmte Hilfsmittel oder Hilfen, aber sein Leben und seine Identität reduzieren sich doch eigentlich nicht drauf, dass er im Rollstuhl sitzt?

Mir ist auch bewusst, dass Menschen wollen, dass man sie in ihren Besonderheiten wahrnimmt, aber kann es wirklich sein, dass es Leute gibt, die auf ein Merkmal reduziert werden wollen?

Wie also entsteht Identität und unser Selbstbild? Gibt es dazu allgemein verständliche Standardwerke?

Ich hoffe, meine Frage ist nun einigermaßen verständlich.

Gespannte Grüße

[MOD]Titel korrigiert

Hi!

Nachdem ich den bloßen Titel deiner Frage gelesen hatte, kam mir spontan die Antwort: „Erzählen, erzählen, erzählen!“ in den Sinn.
Die Bestätigung folgte prompt:

Vor Kurzem war ich mit jemanden eins trinken. Dieser Person
war es offensichtlich ausgesprochen wichtig, andauernd
klarzumachen, dass er schwul ist. Niemand der Anwesenden hatte
sexuelles Interesse an der Person oder ein Problem mit
Homosexualität. Um so irritierender war es, dass diese Person
ungelogen jeden Satz mit Worten wie: „Ich als Schwuler“, „wir
Homosexuellen“, usw. begann. Das ging soweit, dass er eine
rosa Limonade bestellte mit den Worten: „Rosa, das passt, weil
ich ja schwul bin!“.
Seitdem fällt mir auf, dass viele Menschen so etwas tun:
Leute, die einem permanent mitteilen, dass sie z.B. hochbegabt
sind, allergisch, ADHS haben, christlich sind, links oder
rechts sind, usw.

Sag ich doch: Erzählen, erzählen, erzählen, erz … :wink:

Wie also entsteht Identität und unser Selbstbild? Gibt es dazu
allgemein verständliche Standardwerke?

Literaturempfehlungen sind Geschmackssache und Fragen des jeweiligen Erkenntnisinteresses.
Mir meinerseits hat dieses Buch, Wolfgang Kraus’ „Das erzählte Selbst“, sicherlich ein Standardwerk narratologischer-psychologischer Identitätsforschung, sehr gut gefallen.
http://www.amazon.de/Das-erz%C3%A4hlte-Selbst-Konstr…

E.T.

Hallo,

vielen Dank, das klingt ja schon mal gut.

Könnte man es vielleicht so sehen:
Es gibt Situationen, die nur Funktionieren erfordern. Also, in denen unser Überleben oder zumindest unsere körperliche Unversehrtheit bedroht sind. In diesen Momenten löst das Individuum sich gewissermaßen auf und steht zurück hinter den konkreten Anforderungen dieser Situation. Das muss nicht unbedingt krisenhaft sein, sondern auch Situationen, die sehr klar sind (wie z.B.: Wenn ich nicht sähe, werde ich nicht ernten, werde ich nicht essen), machen die Frage nach „Wer bin ich?“ weitgehend überflüssig. Ich erfahre mich selbst durch „Bewältigung“ dieser Situationen.
Da aber unser Alltag solche Situationen inzwischen weitgehend ausschaltet, müssen wir andere Möglichkeiten finden, uns wahrzunehmen und konstruieren uns also durch Erzählen selber?

Viele Grüße

grüß dich,

damit ich ICH sein kann, muß ich mich kennen. Wie viele kennen sich selbst und vor allem, wie viel von sich selbst akzeptieren sie und wie viel von sich selbst wollen sie anderen (nicht) preisgeben?

Manche definieren (und reduzieren) sich über das, was sie haben; andere über das, was sie können; andere über ihr Aussehen; andere über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe / Gemeinschaft etc. und gleichen damit ihnen vermeintlich fehlende Eigenschaften aus. Ist das Selbstwertgefühl mangelhaft, identifizieren sie sich übertrieben über Haben, Können, Zugehörigkeit zu …etc.

So kommt es, dass die Umgebung oft nur diese und / oder jene Facette gezeigt bekommt / wahrnimmt und darauf wird man dann reduziert / identifiziert. Wird die eine oder andere Facette für einen selbst unwichtig, ändert sich auch die Identität.

LG, Hannelore

Hallo nochmals!

Könnte man es vielleicht so sehen:
Es gibt Situationen, die nur Funktionieren erfordern. Also, in
denen unser Überleben oder zumindest unsere körperliche
Unversehrtheit bedroht sind. In diesen Momenten löst das
Individuum sich gewissermaßen auf und steht zurück hinter den
konkreten Anforderungen dieser Situation. Das muss nicht
unbedingt krisenhaft sein, sondern auch Situationen, die sehr
klar sind (wie z.B.: Wenn ich nicht sähe, werde ich nicht
ernten, werde ich nicht essen), machen die Frage nach „Wer bin
ich?“ weitgehend überflüssig.

Ich denke, das muss man sogar so sehen.

Es geht ja z.B., um es im psychoanalytischen Jargon auszudrücken, die vielkonstatierte Zunahme narzisstischer Störungen (also solcher, die mit dem Selbst und der Identität zu tun haben) ab den 60er Jahren -in Verbindung mit dem Rückgang der alten Störungen zu Freuds Zeiten, die mit der Unterdrückung der Sexualität und der freien Entfaltung zu tun hatten (Hysterie, Zwangsneurosen usw.)- Hand in Hand mit der Verbesserung der materiellen Versorgungslage.
Platt gesagt: Wer ums materielle Leben und Überleben kämpft, hat keine Zeit und keinen Zwang dazu, sich allzu sehr mit seinem Selbst zu beschäftigen.

Natürlich spielen da auch andere gesellschaftliche Entwicklungen hinein.
In dem Moment, in dem ich nicht mehr so selbstverständlich aus den „großen“ Bezügen schöpfen kann („Arbeiterklasse“, „katholisch“ usw.), die ich zeitlebens wie selbstverständlich als meine „zweite Natur“ umhertrage, und durch ich mich mit wenigen Worten umfassend beschreiben und in der Sozialstruktur verorten kann, und in dem Moment, wo ich 10 Jahre beruflich das bin, und dann 5 Jahre das, und dann wieder das (es gibt ja heute kaum noch eine durchgehende Berufskarriere), in dem Moment bin ich gezwungen, das alles ständig in Erzählungen zu integrieren und überall rote Fäden zu spinnen, wo eigentlich gar keine sind, weil die meisten von uns halt nehmen müssen, was der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt hergibt, ich aber trotzdem so tun muss als ob ich Herr meiner Biographie wäre, um nicht als völlig inkompetent wahrgenommen zu werden. Eine Lücke im Lebenslauf ist ja fast schon eine Todsünde.
Wir sind heute, auf dem höchsten Gipfel des Zwangs zur permanenten Selbstdarstellung, allesamt quasi Narzissten von Berufs wegen :wink:

E.T.

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Hallo,

a-HA! Es handelt sich tatsächlich um eine Entwicklung und bin nicht nur kulturpessimistisch? Das erleichtert mich! Denn, um mal narrativ zu werden, war ich in letzter Zeit besorgt, ich könne vielleicht sehr unsensibel sein und einfach kein Verständnis aufbringen für das Leid mir bis dahin unbekannter Randgruppen.

Es ist ja so: Mehr und mehr Menschen leben in einer Art dauerhaften Pubertät. Ich stand mal am Bahnhof, auf dem Weg zur Arbeit, und war umgeben von Leuten in meinem Alter, die größtenteils gekleidet waren, als seien sie gerade auf dem Weg zum Spielplatz. Zuerst irritierte mich das, doch dann wurde mir klar, dass die aufgrund der wirtschaftlichen Gegebenheit mehr oder weniger zu Kindern degradiert wurden: Es gibt für viele Leute kaum noch Möglichkeiten, ihre Existenz durch ihrer Hände zu sichern. Darum tritt der Staat als eine Art Eltern ein, der ihnen ein Taschengeld zuweist und sich um sie kümmert und die Wohlfahrt ist dann so eine Art liebe Tante, die ihnen mal ein Zubrot zusteckt. Warum also sollten sie sich nicht benehmen wie Kindern?
Wenn wir aber als Gesellschaft wieder Bedarf auch für diese Leute hätten und ihnen somit Erwachsenenstatus zugestehen würden, würden sie vermutlich sich auch wieder so benehmen?

Viele Grüße

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Hallo,

danke für diesen spannenden Dialog. Habe das gerne gelesen.

Do

Stimmt

Seitdem fällt mir auf, dass viele Menschen so etwas tun:
Leute, die einem permanent mitteilen, dass sie z.B. hochbegabt
sind, allergisch, ADHS haben, christlich sind, links oder
rechts sind, usw.

Da musst du bloß mal hier hin’s Forum schauen.

Gruß

To.i

(ich bin übrigens heterosexuell und kenn ein ADHS-Kind)