Hallo SummerChris,
Achtung. Das hier ist ein LANGER Text geworden.
Tut mir sehr leid, aber ich schaffe es kaum mich da kürzer zu fassen.
Die von dir genannte „Ziellosigkeit“ der heutigen Gesellschaft ist per se der Zustand, der durch Freiheit und Wohlstand erzeugt werden soll. Nämlich jener, in dem „jeder in Freiheit seinen eigenen Interessen, Neigungen und Wünschen“ nachstreben kann.
Wenn man es ganz genau nimmt, leben wir in einer Zeit, die utopischer nicht sein können. Zumindest hier in Deutschland haben so gut wie alle Menschen, die wollen: Ein Dach über dem Kopf, einen Bildungsabschluss, etwas zu essen - sogar einen Fernseher.
Ohne Details zu betrachten könnte man also meinen, dass unsere Welt einem Traumzustand ähnelt.
Aber was passiert genau, wenn der Mensch aufeinmal keine riesige Bedrohung vor der Nase sitzen hat? Wenn der Mensch keine Angst mehr vor Hunger und herrschsüchtigen Lehnsherren haben muss? Wenn der Mensch keine Angst vor einem im eigenen Land stattfindenden Krieg haben muss? Wenn der Mensch Freizeit hat, weil man ihn nicht ausbeutet? Wenn der Mensch kein „großes Feindbild“ hat - sei es nun der Franzose, der Schwarze oder „der Osten“?
Es gibt eine Art „Hierarchie der Problematik“, die sich an der Relevanz der Probleme orientiert. Sie geht in etwa so „Natürlich Exzentiell - Politisch Exzentiell - Ethnische/Soziale Probleme - triviale Probleme“
Außerdem gibt es da noch „persönliche Probleme“, die einer individuellen Gewichtung unterliegen.
Die Folgen dieser Hierarchie sind offensichtlich:
Wer sorgen hat, dass er bald verhungert, kümmert sich um Essen. Nicht um Kultur oder Politik.
Wer Sorgen hat, dass ein gewisser „Ostblock“ mit Atomwaffen angreift, der ist umso mehr an Frieden interessiert.
Je „ungreifbarer“ eine Bedrohung ist, desto eher wendet sich die Bevölkerung einem Problem zu, das hierarchisch niedriger angeordnet oder persönlich ist. Die Bedrohung des Hungers in der Nachkriegszeit ist sehr greifbar und sehr bedrohlich. Die Bedrohung durch den Ostblock war omnipräsent, aber immer schwankend - mal stärker, mal weniger stark. Das zeigt sich auch darin, dass an der Einigung gar nicht so viele Westdeutsche „mitgearbeitet“ haben. De facto wird sich wohl der normale, westdeutsche Angestellte ohne Verwandschaft im „Osten“ kaum oder sehr selten Gedanken über die deutsche Einigung per se gemacht haben - und das auch nur, wenn die Bedrohung durch den Osten gerade sehr präsent war. Die Ostdeutschen jedoch, deren politische Repression eine Mischung aus „Ethisch-Sozialen“ und sowohl natürlichen als auch politisch exzentiellen Probleme darstellte, arbeiteten wesentlich härter auf die Einigung hin. Nicht alle. Aber viele. Und noch viel mehr arbeiteten die Menschen innerhalb der Berliner Mauer darauf hin - denn die spürten die Konsequenzen am ehesten.
Die Geburt des „geeinten Deutschlands 1871“ - in der retrospektive oft als bedeutendes Ereignis gefeirt - ist noch ein viel besseres Beispiel. 1871 wird die Einigung für den Durchschnittsmenschen jener Zeit ein Ereignis gewesen sein, das ihm nur an der peripherie Interessiert hat.
Erst mal wird geschaut, wie man die Mäuler der 9 Kinder stopft. DANN kann man sich über ein einiges Deutschland freuen. Die Euphorie des Volks war vor allem eine Euphorie der gebildeten Oberschicht und der Händler, die Zeit und Geld oder Grund (Zölle) genug hatte, sich über ein einiges Deutschland gedanken zu machen.
Wenn nun also, wie im 21ten Jhd., all diese exentiellen Gefahren von uns weggerückt sind, rutscht der Fokus auf die Probleme, die hierarchisch NOCH weiter unten und NOCH weniger Exzistenzbedrohend sind. Hier landen wir bei einer großen Wahrnehmung sogenannten „Ethisch-Sozialen Problemen“. Datenschutz, Homoehe, Diskriminierung, Steuergelder, Umweltschutz und auch der berühmte Bahnhof, der nicht gebaut werden soll.
Wenn man von keinem dieser Ethisch-sozialen Probleme betroffen ist, weil man keiner „Zielgruppe“ angehört (also z.B. nicht homosexuell ist und sich nicht für Natur interessiert), dann rutschen die Probleme in den „trivial- persönlichen“ oder „trivial- kulturellen“ Bereich. Trivial heißt hier nicht, dass diese Probleme per se unwichtig sind - denn für den, der sie hat, sind sie sicherlich ein heißes Thema. Trivial heißt, dass der Ausgang der Probleme für einen selbst und für die Welt keine besonders nennenswerten oder direkt nachvollziehbare Konsequenzen hat. Michael Jackson ist tot? Das macht viele etwas traurig, einige wenige erleiden Nervenzusammenbrüche, einige verdienen viel Geld mit verkauften „Best-of“ Tonträgern - und so gut wie 100% der Welt geht nach kurzer Zeit wieder seinem Alltag nach. Wenn sich also Jemand permanent mit Mode, Stars oder der Beziehung anderer Beschäftigt, so ist es einfach nur einfach eine andere „hierarchische Stufe“ der Problemart, da die „höheren Problemarten“ nicht mehr so auf einen Großteil der Bevölkerung zutreffen.
Das heißt aber nicht, dass niemand mehr einen Antrieb hat. Es kommt heute und in unserer Gesellschaft eben mehr auf individuelle Präferenzen an.
-„Simple Gemüter“, die es vorziehen sich mit ihren eignen, kleinen Problemen zu beschäftigen. Die sich darüber Gedanken machen, was sie morgen anziehen, was es zu essen gibt, wen George Clooney heiratet, wer Fußball-Meister wird und ob Lena den ESC gewinnt.
-„Besorgte Gemüter“, die dem Frieden nicht ganz trauen und ein „Gespenst“ von Bedrohung schaffen. Meist mit einem Feindbild verbunden. Im gesellschaftlich Akzeptierten Fall hat man dann als Antrieb die Sorge vor der Vogelgripper oder der - omnipräsenten - Terrorismusgefahr. Bei so was gibt es aber immer viele Generalisierungen. Im leichten Falle heißt der Feind dann z.B. „Islamisten“, im schweren Falle werden Verschwörungstheorien bis zum erbrechen durchgekaut, verbreitet und geglaubt
-
„Engagierte Gemüter“, die sich mit einem speziellen, meist sozio-ethnischen Problem beschäftigen und dieses als Antrieb sehen. Feministinnen, Umweltschützer, Atomkraftgegner, Veganer, Schwulenrechtsbewegungen… das sind die Bekannteren. Aber es gibt „gemeinnützige Vereine“ für so gut wie alles. Sogar für Igel
.
Diese engagierten Gemüter entstehen, wenn man selbst betroffen ist (Homosexualität), wenn man interessiert ist (z.B. an Igeln) oder wenn man in einer Peer-Group steckt in der ein bestimmtes Engagement zum guten Ton gehört (z.B. Musikrichtungen, in denen „vegan“-sein fast ein muss ist). Meist bedingen sich diese Faktoren gegenseitig. Das Interesse steigt durch die Peer Group. Die Peer Group sucht man aufgrund von Betroffenheit…etc.etc.
-
Exzentielle Probleme, welche vermeidlich die Gesamte Bevölkerung betreffen, erreichen eine enorm schnelle und große Medienpopularität. Atomunfälle, tötliche Grippeviren…kommt eine „kollektive“ Bedrohung auf uns zu werden die alten Mechanismen wieder angekurbelt und zeigen sich in unserer medialen Welt durch eine Überrepräsentation des Themas in den Medien. Allerdings gibt es auch immer eine Gegenbewegung- und die erreicht das „Volk“ kurz nach der ankündigung der Gefahr. „Eine Ansteckung mit dem Grippevirus ist unwahrscheinlich“ oder „Das ist eine Masche der Pharmakonzerne, die dem Staat das Geld aus der Tasche ziehen und mit unserer Angst Geld verdienen.“ Das führt bei vielen Menschen dazu, dass sie das Gefühl haben „außen vor“ zu sein. Da reden Experten. Da kann man nicht mitdiskutieren. Und außerdem regeln die das Problem ja gerade für mich. D.h. es entsteht eine Steil steigende Kurve des Antriebs…und dann fällt sie aprubt wieder ab.
2012 wird ein gutes Jahr sein, um das zu beobachten. Menschen werden Dinge „erleben“, sich was „gönnen“, irgendwie „getrieben“ sein. Den Höhepunkt wird diese Tendenz dann haben, wenn irgendwer um die Ecke kommt und einen 100%igen Beweis abliefert, dass die Welt nicht untergeht - oder wenn der kritische Tag dann vorbei ist. Dann wird die „Antriebskurve“ rapide absinken.
Ich hoffe du hattest die Geduld für diesen langen Beitrag und er konnte dir irgendwie helfen.
Lg