Welche Bedeutung hat das Verb "herübersehen" im Rilkes Gedicht?

Liebe Alle

Die Diskussion um das Rilkes Gedicht „Im Herbst“ hört in unserem Leserkreis nicht auf. Nun behauptet eine Dame, das die zweite Strophe sich komplett auf den Altweibersommer bezieht und von dem Berg ist in der zweiten Strophe gar keine Rede. Vor allem aber hält sie an dem fest, dass die erste Zeile „Weil er so mild herübersieht“ nichts anders, als „Weil der Altweibersommer so mild vorbeischaut“ bedeutet. Da bezieht sie sich auf die zweite Deutung des Verbes „herübersehen“ im Duden, nämlich: herübergehen, -kommen und nach jemandem, etwas sehen. Was meint Ihr, ob es dem wirklich so sei?

Ich bitte Euch wieder, Eure Meinungen so zu formulieren, dass ich sie dann ohne Zusatzerklärungen bei uns posten kann.

Danke im voraus.


Rainer Maria Rilke, Im Herbst

Ein Riesenspinngewebe, zieht
Altweibersommer durch die Welt sich;–
und der Laurenziberg gefällt sich
im goldig-bräunlichen Habit.

Weil er so mild herübersieht,
sucht müd, gestützt auf Strahlenkrücken,
die Sonne hinter seinem Rücken
schon frühe ihr Valladolid.

Der Reiz solcher Gedichte liegt doch vor allen Dingen darin, dass jeder seine eigene Bedeutung hineinlegen kann. Es wäre ja schlimm, wenn auf einmal alle Romantiker wie auf einer Eisenbahnschiene geradeaus fahren müssten und individuelle Meinungen/Gefühle würden ausgeblendet.

Romantik und vorgeschriebene Interpretationen sind ein Widerspruch in sich.

Zu der Diskussion mit der Dame: je nachdem in welcher Stimmung man das Gedicht liest, vielleicht auch zu welcher Tageszeit, kann mal die eine und mal die andere Deutung bevorzugt werden.

Danke! Im Allgemeinen magst Du recht haben. Aber ist es in dem Fall wirklich so, dass man die Worte beliebig deuten kann?

Ja, es kommt einfach nur darauf an, mit welcher persönlichen Einstellung der Leser an den Vers herangeht.
Wer könnte sich anmaßen, die Entscheidung für den „Laurenziberg“ oder „Altweibersommer“ für richtig oder falsch zu erklären?

Ich würde mir auch weder das Eine noch das Andere gefallen lassen.

Danke! Deine Meinung habe ich wahrgenommen. Ich muss aber gestehen, dass es mir in dem Fall gar nicht ausreicht und auch gar nicht darauf ankommt.

Moin,

Gedichte werden interpretiert. Zeig der Dame den Link und unterstreiche das Wort „subjektiv“. In dem Zusammenhang föllt mir das Wort „Interpretationsspielraum“ ein; gäbe es den nicht, dann läge ein Gesetztestext auf dem Tisch, sehr empfehlenswert als Lesestoff für die Dame wäre dann das BGB. Wer hier noch interpretiert, ist kein Freund von Gedichten, sondern Anwalt.

Gruß
Ralf

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Danke auch! Möglicherweise habe ich mich anfangs nicht deutlich genug ausgesprochen: es geht in meiner Anfrage NICHT um eine Interpretation, sondern um das richtige Verständnis der Deutschen Sprache. Meine Meinung nach lässt der Text in dem Fall keine Alternativen zu und ist schlicht und einfach eindeutig. Aber das Problem liegt in dem Fall daran, dass ich kein Muttersprachler bin und daher in unserem Leserkreis nicht das letzte Wort zu sagen habe. Deswegen suche ich hier bei einem breiten Kreis der Muttersprachler nach grösstmogliche Unterstützung.

Dann rate ich zum Umzug ins Brett Psychologie, zwischenmenschliche Konflikte lassen sich niemals durch Regeln der deutschen Sprache beheben. Schon garnicht, wenn es ums Rechtbehaltenwollen / -müssen geht.

Dir hilft ja eh nicht, wenn ich frage, wie ein Altweibersommer „herübersehen“ soll, da können wir uns noch so einig sein, dass es sich dabei um eine Wetterlage handelt.

Gruß
Ralf

Danke. Bis jetzt hat es hier gut funktioniert. Hoffentlich kommt auch diesmal alles zusammen am Ende.

Muss es das denn? Zusammenkommen?

Ich dachte so ein Leserkreis ist eben dazu da, unterschiedliche Sichtweisen darzustellen und andere Meinungen auch gelten zu lassen - und nicht, dass man zwingend einer Meinung sein und zu einem Konsens kommen muss. (ausser zu dem, dass jeder eine andere Meinung haben darf )

Gruß h.

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Hast Du den Text angeschaut? Scheint es Dir wirklich zweideutig zu sein?

Servus,

das ist ganz eindeutig:

Weil er so mild herübersieht

kann sich formal auf den Altweibersommer und auf den Laurenziberg beziehen, aber herübersieht kann auf keinen Fall bedeuten, der Altweibersommer gehe oder komme zur Sonne herüber.

Nicht nur deswegen, weil mit dieser Bedeutung in Rilkes vom Südosten des deutschen Sprachgebiets geprägtem Sprachgebrauch „herüberschauen“ benutzt würde - „herübersehen“ hat einen klaren niederdeutschen Einschlag -, sondern vor allem wegen des Adverbs: mild kann ein Blick sein, aber eine Bewegung nicht.

Schöne Grüße

MM

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Ja! Danke! Es geht endlich an die Sache :wink:

Nur: die Dame behauptet eben, dass der Altweibersommer IMMER mild auftritt… Wie könnte man ihr darauf erwidern?

Auch in meiner Wahrnehmung ist ein Altweibersommer nur dann ein Altweibersommer, wenn er mild auftritt.

Ein stürmischer, kalter oder regnerischer Altweibersommer wäre ein Widerspruch in sich.

Ich habe vom Altweibersommer auch schon ausgesprochen strahlende Blicke gesehen!

Ich will nicht ablenken, aber das Bild von Eduard Mörike ist so wunderschön, dass ich ihm ein wenig Platz geben sollte:

Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.

Ist schon schön, auch mir längst bekannt :wink: Was machen wir aber in dem Fall mit Rilke?

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Es ist ja klar, ob es aber in dem Fall der Fall sei?

wir lassen ihm das Bild und denken daran, dass es vom Altweibersommer milde, aber auch strahlende Blicke wie bei Mörike gibt. Und müde, und verträumte, und auch wehmütige und noch viele anderen.

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Es ist ja gut und schön, meine Frage ist aber leider immer noch nicht vollständig beantwortet. Ich habe zwar meine Erklärung in dem Fall, möchte aber noch nicht die Diskussion damit beeinflussen und lasse noch etwas Zeit.

Ich meine: Ja, sie ist vollständig beantwortet.

Es gibt keine milde Bewegung. Daher kann bereits formal das Adverb mild nicht auf eine Bewegung bezogen sein.

Schöne Grüße

MM

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