Lieber Ulrich,
gut, daß Du mich fragst, jemanden, der etwa so alt ist wie Du. Von den jungen, technikbegeisterten Heißspornen wirst Du schnell Antworten kriegen wie „unter XXX Euro hat das gar keinen Sinn“ und „Das dings Konzept hat gegenüber allen anderen diese und jene unglaublich wichtigen Vor-/Nachteile …“ und dann hast Du das Gefühl, Du verpaßt was Lebenswichtiges, wenn Du die falsche Entscheidung triffst, und kannst nachts nicht mehr schlafen.
Ich habe schon sehr lange kein fabrikneues Straßenfahrrad angeboten gesehen, noch nicht einmal im Bau- oder Supermarktprospekt, das ich für überteuert, unbrauchbar oder sogar sicherheitskritisch gehalten hätte, für den ‚normalen‘ Gebrauch taugen die alleweil und bieten reichlich für ihr Geld. Von daher kannst Du kaum was falsch machen, und von daher gucke ich mir die von Dir verlinkten Räder auch gar nicht an, sowieso kenne ich die montierten Baugruppen nicht und kann Dir nicht genau genug sagen, wie gut und wie lange die funktionieren werden, um daraus eine Entscheidung abzuleiten.
Aber eins behaupte ich pauschal, auch billige Baugruppen gehen erstaunlich lange (‚Totgesagte leben länger‘), und von mir aus muß noch nicht einmal Shimano draufstehen.
Wichtig für Dich ist, daß Dein Rad wer fertigmontiert, der genug davon versteht, daß Du die richtige Sitzposition findest und Dich nicht auf den Bart legst, weil es Dir unterm Hintern auseinandergefallen ist, und wichtig für das Rad, egal aus welcher Preislage, ist, daß es nach ein paar hundert Kilometern eine Erstinspektion bekommt, bei welcher Bremsen und Schaltung noch einmal ordentlich justiert, die Speichen nachgezogen und - soweit möglich - die Lager nachgestellt werden, das macht sich auf die Lebensdauer sehr positiv bemerkbar. Wenn das Rad eh nur hundert Kilometer im Jahr läuft, ist sogar das egal.
Wenn Du keine ehrgeizigen Ziele verfolgst und es mit der Technik nicht so hast, dann nimm ruhig eine Nabenschaltung, die angeblich höheren Reibungsverluste lassen sich in der Praxis nicht realisieren und einer von den sieben Gängen paßt immer. Wichtiger für flottes Vorankommen ist, daß Du ordentlich Luft in den Reifen hast und die Kette nicht trocken fährst.
Damit kommen wir zum nächsten Meilenstein, was machst Du bei allfälligen Wartungsmaßnahmen und Malheurchen, kannst und willst Du die kaputte Klingel selbst austauschen, einen Platten selber flicken oder einen bei einer Parkkarambolage ausgehängten Seilzug selber wieder einhängen? Wenn nicht, dann suche Dir einen Mechanikus in der Nähe, bei dem Du Dich wohlfühlst und dem Du vertraust, auch wenn Du jedes Jahr einen dreistelligen Betrag bei ihm läßt (mit soviel Unterhalt mußt Du bei täglichem Gebrauch schon rechnen). Wenn Du ihn von vornherein günstig stimmen willst, dann gönne ihm den Umsatz und kaufe Dein Fahrrad bei ihm, und wenn Du das vorhast, dann mußt Du Dich sowieso im Rahmen seines begrenzten Angebotes orientieren und brauchst Dir über Details nicht allzusehr den Kopf zu zerbrechen. Aber, wie gesagt, brauchbar sind sie alle, und Du kannst Deine Wahl vor dem Kauf probefahren und merkst, ob der Lenker Deiner präferierten Sitzposition entgegenkommt und der Sattel Deinem Hintern, und was nicht paßt, kann der Maestro Dir im Rahmen des Möglichen passend machen.
Ein altes Sprichwort lautet, wer billig kauft, kauft zweimal; da ist was dran. Wenn Dir aber nach einem langen Winter auf dunklen Straßen der schnöde Scheinwerfer auf den Keks geht oder beim wöchentlichen Einkauf der Wunsch nach einem schönen Ständer oder galaktischen Gepäckträger keimt, dann läßt sich das allermeiste nachrüsten, dafür mußt Du Dir nicht von vornherein ein eiermilchsaumäßiges Turbogerät frisch von der IFMA kaufen.
Ein wichtiges Argument für nicht zu teures Material ist der Verdunstungsfaktor im täglichen Gebrauch: Wenn Du erst einen vierstelligen Betrag lockermachst, um drei Kilogramm an der nagelneu funkelnden Maschine zu sparen und dann noch einen dreistelligen drauflegen mußt für ein fünf Pfund schweres Superschloß, dann kriegst Du meinen Beifall nicht. Grundsätzlich wird jedes Fahrrad geklaut, aber bei billigen, dreckigen und abgegrabbelten Exemplaren kommt man mit weniger Aufwand zu einem gleich hohen Risiko und, wenn’s mal wegkommt, tut es dem Portemonnaie nicht ganz so weh.
So, nur Mut,
liebe Grüße,
Martin