Da Übermorgen in Berlin Wahltag ist, ein paar Worte über den Grünen.
Der Realismus als Weltverneinung
Man muß sich entscheiden, entweder hat die Realität nur ein paar Fehler und läßt sich ohne grundsätzliche Änderungen verbessern - oder: sie läuft ganz gewaltig schief. Die Anhänger der ersten Entscheidung nennen sich Realisten, und die Skeptiker Spinner, Phantasten, verblödete Linke.
Ich nenne konkrete Beispiele: Bekanntlich sind Schwule, Punker und Kiffer nicht automatisch links. Doch ein Schwuler in der CDU wirkt sehr peinlich. Jungs, die vorm Spiegel stehend ihre Haare färben und/oder eine Stunde lang mit ihrer Frisur beschäftigt sind, verändern Männlichkeit, sind daher nicht „normal“ und/oder nicht realistisch. Wer kifft, verfügt nur über sich selbst! Doch Realisten erleben sein Verhalten als unzumutbaren Eingriff in die Realität und würden ihn am liebsten entmündigen.
Trotzdem quatschen sie von menschlicher Würde. Denn, sie nehmen die Realität nur bruchstückhaft wahr, und mit einer grotesk verengten Egozentrik. Sie verdammen jede komplexere Wahrnehmung der Realität als chaotisch und legen sogar einen Joint in den Blutgeruch der Kriminellen. Mann kann auch sagen, um ihre „Realität“ zu schützen, verweigern sie Kiffern den Zugang zum Realen. Die Gestaltbarkeit der Dinge hat im Differenzbereich zwischen Joschka Fischer und Angela Merkel zu bleiben. Und das lächerliche aufgeregt sein der Kommentatoren soll suggerieren, daß diese Differenz eine sei. Ihr Zuchtwort heißt „Realismus“. Es bedeutet, daß ein Außenminister nicht in einer Jeans und einem T-Shirt oder gar in einer Punkerjacke tätig sein kann, und daß er nicht öffentlich kifft. Solche Zwänge erleben Realisten ohne Angst. „Ich war dabei“ ist für sie die einzig mögliche Biographie.
Ihr Realismus ist nicht nur mächtig, dumm und intolerant, er ist auch heimtückisch: denn am liebsten schiebt er Realisten in die Bedeutungslosigkeit. Denn die sagen uns ja nur, es ist leicht sich anzupassen, schwer, zu widerstehen. Es ist auch leicht Atomkraftwerke nicht abzuschaffen, den Joint nicht durchzusetzen, mit der Nato zu marschieren. Allerdings wäre von dieser realistischen Mitte schon lang eine Geste des Anstands fällig gewesen, nämlich sich dafür zu entschuldigen, daß man zwanzig Jahre lang Individualismus, Pazifismus, Umweltschutz und ähnlichen Blödsinn im Parteiprogramm hatte. Doch dafür haben Realisten keine Zeit. Sie plappern lieber blabla.
Der Realismus verwandelt Realisten in Wiederholungen des Realen, macht sie austauschbar und daher langweilig. Doch sie wollen gar keinen Geist. Sie vernebeln sich und uns lieber mit unklaren weil ungeklärten Begriffen: Freiheit, Ordnung, Frieden. Und wir können gewiß Umwelt, Wohlstand und Glück hinzufügen. Gelungen ist diesen Realisten nur eines: das verächtlich machen der Phantasie.
Wie das geht, können wir auch ihren gegenwärtigen Strategien entnehmen: die Realität im Schach halten und mit der eigenen Unerkennbarkeit schlagen. Aber der Realismus macht vor seinen Figuren nicht halt: Unvermeidbarerweise werden sie tatsächlich unerkennbar. Im Eifer des dabei seins haben sie vergessen, schon morgen wird sie niemand vermissen. Denn, der Realismus hinterläßt keine Grabsteine. Nur vermodernde Biographien.
Walter van Rossum am 20. Juli 2001 in der Zeitung „Freitag“.
Der Text wurde leicht verändert von Hans-Peter Kossaj
Ein paar Zeilen weiter unten könnt ihr das Neueste über Assassinen lesen.
Jürgen, der PDS wählt.
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