Wert eines Menschen - Uneinigkeit -wer kann vermitteln?

Hallo. Ich bin neu hier und aufgrund einer Diskussion mit einer Freundin zu euch gestoßen…

Ich diskutiere oft sehr gerne mit ihr über moralische Fragestellungen.
Gestern sind wir im Gespräch auf das Thema des Wertes eines Menschen gestoßen und sie sagt es sei Heuchelei zu behaupten jeder Mensch sei gleich viel wert. Sie nahm folgendes Beispiel zu Veranschaulichung: man muss in einer abstrakten Situation über Leben und Tod entscheiden. Zur Wahl steht entweder ein Mörder oder ein gesellschaftlich gut integrierter Mensch.
Ich habe ihr dazu heute nochmal eine Nachricht geschrieben:

Zu gestern noch die ein oder andere Anmerkung:… der Wert ist für mich was was jedem angeboren ist und der Würde gleichzusetzen und ist dementsprechend unveränderlich. Da bin ich also ganz bei der herrschenden Meinung. Die Entscheidung im Beispiel über Leben und Tod kann dann aber - zumindest demnach - keine Wertigkeitsfrage sein. Eher in Frage kommt dann eine (Entscheidung) nach Sympathie oder der Folgenabwägung. Und man könnte die Entscheidung natürlich auch dadurch umgehen in dem man eine Münze wirft - ob ich mich für die Option entscheiden würde - tendenziell ja denn ich denke grundsätzlich ist es fragwürdig über andere Menschen zu urteilen. Alternativ bietet sich sonst für mich nur noch die Folgenabwägung an, auch wenn es mir gewisses Unbehagen bereitet, aber es wäre eine denkbare Handlungsoption. Ich würde demnach dann den Mörder zum Tode verurteilen. Das macht Sinn aus egoistischer Sicht genauso wie aus gesellschaftlicher. Folgen für mich könnten sonst sein: …Mörder das Leben geschenkt - wird mir bei der Verachtung die die Gesellschaft gegenüber Mördern aufbringt wohl Schwierigkeiten bereiten und aus gesellschaftlicher Sicht… ist wohl klar!

Sie hat dann folgendes darauf geantwortet:

Das Problem beim Konzept eines inherenten und unveränderlichen Wertes ist, dass so etwas eine abstrakte Idee ohne jeglichen Realitätsbezug ist. Ich meine das nicht als abwertend, dass es realistisch keinerlei solchen Wert gibt sondern so, dass ein solcher Wert tatsächlich keinerlei Einfluss auf die Realität haben kann…
Meiner Meinung nach sind Würde, Menschenrechte und Wert Ideen, die nur durch Gesellschaft Bedeutung erhalten. Wenn du in der Hand von Menschen bist, die dir keinen Wert zusprechen, dann sind deine Menschenrechte bedeutungslos und schützen dich vor nichts.
Unsere Gesellschaft besteht aus Individuen und jeder Einzelne empfindet bestimmte Individuen aufgrund seiner eigenen, SUBJEKTIVEN Bewertung als für sich selbst bedeutsamer oder weniger bedeutsam. Diesen persönlichen, subjektiven Wert kannst du, denke ich, nicht verleugnen. Beispielsweise glaube (hoffe) ich, dass du einen Freund eher retten würdest als einen unbekannten.
Mit dieser Tatsache der subjektiven Bewertungen durch jedes einzelne Gesellschaftsmitglied und der Tatsache, dass die Gesellschaft aus Individuen besteht, ergibt sich die Möglichkeit, für ein beliebiges Individuum die subjektiven Bewertungen der Gesellschaftsmitglieder zu akkumulieren und daraus eine Art gesellschaftliche Gesamtbewertung zu bestimmen.
Wenn du das an diesem Punkt anders sehen solltest, würde mich sehr interessieren, wie du das begründen willst.
Diese Gesamtbewertung ist für jedes Individuum unterschiedlich und ermöglicht es, eine Abstufung in der Wertigkeit vorzunehmen und ist für mich die eigentliche Grundlage für den Wert eines Menschen.
Wenn du unsere Gesellschaft und die Realität betrachtest, wirst du merken, dass dieser Wert das Fundament jeglicher Gesetzgebung ist weil sonst die Bestrafung (Einschränkung von „Grundrechten“) von Straftätern nicht für die Gesellschaftsmitglieder zu rechtfertigen wäre.
An diesem Punkt stellt sich jetzt einfach die Frage, ob du bereit bist, diese Fakten zu akzeptieren, falls ja, kann ich die Konsequenzen daraus gerne ausführen, falls nein wäre ich sehr gespannt, wie du das begründen kannst, vll kannst du mich ja mit guten Argumente überzeugen.

Wie seht ihr das bzw. Was wäre eure Antwort auf diese Nachricht?

Bin gespannt :slight_smile:

Ich würde einige Folgen von „Black Mirror“ (ich hoffe, ich verwechsle die Serie jetzt nicht) oder sogar „The Orville“ vorschlagen.

Wenn es für Dich schlechte Menschen gibt,
dann beziehe Eltern=Erzieher auch mit ein.

es ist blöd, wenn man über 2 Themen gleichzeitig diskutiert - das führt zu keinem Ergebnis.

Einerseits dass Recht auf Leben andererseits wen man härter bestraft…

Ansonsten teile ich die Auffassung von

bleibt aber dennoch ein spannendes Thema

Hallo Badebaumeister,

Deine Freundin hat insofern recht, als dass moralische Werte und der (durchaus umstrittene) Begriff der Menschenwürde „nur“ menschliche Konventionen sind, denen auch nur ein gewisser Anteil der Menschheit zustimmt. Das macht sie aber keineswegs bedeutungslos.
Meiner Überzeugung nach lassen sich solche moralischen Werte, insbesondere die Menschenrechte, aus dem Eigeninteresse rechtfertigen: Ich persönlich wünsche mir, dass ich Gleichbehandlung erfahre, dass ich also nicht „ungerecht“ oder nachteilig behandelt werde. Wenn z.B. Du den gleichen Wunsch hegst, dann können wie beide uns darauf einigen (einen Vertrag eingehen), dass wir uns gegenseitig entsprechend behandeln. Wenn wir dann noch weitere Menschen finden, die genauso empfinden wie wir, dann können wir eventuell eine Gesellschaft erhalten, die Gesetze entwickelt, die die Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch deine Freundin nicht benachteiligt werden will, dass sie z.B. nicht aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe usw. anders behandelt werden will als andere Menschen.

Beispiel: Die berühmte Sängerin und Pianistin Nina Simone wollte an einem Konservatorium klassisches Klavier studieren. Obwohl sie dort bei ihrem Vorspielen mit außerordentlichem Talent überzeugen konnte, wurde sie aufgrund ihrer Hautfarbe abgelehnt.
Wenn Deine Freundin zustimmt, dass Nina Simone hier eine große Ungerechtigkeit erfahren hat, und dass es deshalb eine Ungerechtigkeit war, weil sich ihre Ablehnung nicht rational begründen lässt (Rassismus ist nicht nur menschenverachtend sondern auch unwissenschaftlich), dann sollte sie zwangsweise den Wert der Menschenrechte anerkennen - dann muss sie zugeben, dass sie persönlich nicht in einer Gesellschaft leben will, in der solche Ungerechtigkeiten als hinnehmbar gelten, denn sie selbst könnte dort zum Opfer werden.

Zu diesem Thema passt mMn ganz gut das Gedankenexperiment des Trolley-Problems:

(Quelle: Wikipedia) Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Straßenbahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Unglücklicherweise befindet sich dort eine weitere Person. Darf (durch Umlegen der Weiche) der Tod einer Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten?

Die meisten Menschen würden hier wohl entscheiden, dass die Weiche umgestellt werden sollte. Fünf Menschenleben sind schließlich mehr (wert) als eins (vorausgesetzt man spricht Menschenleben einen Wert zu).
Einwenden könnte man dagegen, dass es sich bei der einen Person, die geopfert werden soll, z.B. um einen Wissenschaftler handeln könnte, der kurz davor ist ein Heilmittel für Krebs zu entwickeln, mit denen man Millionen von Menschenleben retten kann, während es sich bei den fünf anderen Personen um Mitglieder einer kriminellen Vereinigung handeln könnte, die regelmäßig aus niederen Beweggründen Morde begehen. Dieser Einwand bestätigt aber nur die Annahme, dass mehr Menschenleben mehr (wert) sind als weniger Menschenleben. Und nach meinem Eigeninteresse wünsche ich mir eine Heilmittel für Krebs, denn ich könnte eines Tages daran erkranken, während ich nicht gerne von Verbrechern ermordet werden will.
Diese Abwägung, dass der Wissenschaftler mehr „wert“ sei als die fünf Kriminellen, setzt aber voraus (!!!), dass Menschen prinzipiell einen Wert haben. Nur durch den „Wert“ von Menschen, lässt sich des Weiteren eine Gesetzgebung rechtfertigen, die Menschenrechtsverletzungen sanktioniert. Das Interesse am Wohl der Gesellschaft (Gleichbehandlung) ergibt sich aus dem Interesse am eigenen Wohl.

Deine Freundin argumentiert, dass die Bewertungen von anderen Individuen subjektiv stattfindet. Interessanter ist aber die Bewertung des eigenen Individuums. Hier könnte man behaupten, dass diese Bewertung bei allen Menschen gleich ist. Wer sein eigenes Individuum tatsächlich so gering bewertet, dass sich daraus ein Desinteresse an Gleichbehandlung ableiten lässt, schließt sich automatisch selbst aus, wenn es um Fragen der Moral geht - so jemand würde nicht darüber klagen, wenn ihm Leid zugefügt wird.
Wenn es also der Fall ist, dass alle Menschen ein Interesse am eigenen Wohl haben, und wenn sich dieses Wohl durch eine entsprechende Gesetzgebung gewährleisten lässt, weil sie sich aus dem „Wert“ des Menschen (den sich jeder Mensch selbst zuspricht) ableitet, dann ist die Idee der Menschenrechte alles Andere als abstrakt und hat einen starken Realitätsbezug.

Ebenfalls passend empfinde ich hier das Gedankenexperiment des Schleiers des Nichtwissens:

(Quelle: Wikipedia) Der Schleier des Nichtwissens ( veil of ignorance ) ist ein wichtiger Bestandteil der Gerechtigkeitstheorie ( A Theory of Justice ) des US-amerikanischen Philosophen John Rawls (1921–2002), der den Zustand der Menschen in einer fiktiven Entscheidungssituation bezeichnet, in dem sie zwar über die zukünftige Gesellschaftsordnung entscheiden können, aber selbst nicht wissen, an welcher Stelle dieser Ordnung sie sich später befinden werden, also unter einem „Schleier des Nichtwissens“ stehen.

Rawls geht davon aus, dass in diesem „Urzustand“ („original position“, fälschlicherweise oft als Naturzustand gedeutet) alle Menschen völlig gleich sind und deswegen keine aufeinander oder gegeneinander gerichteten Interessen haben. Ebenso werden sie aus demselben Grunde ihre Entscheidung über die Gerechtigkeitsprinzipien nicht verfälschen können und sich so für einen gerechten Gesellschaftsvertrag entscheiden.

Diese völlige Gleichheit erreicht Rawls, indem er die folgenden Faktoren des Menschen und des menschlichen Lebens als für Gerechtigkeit nicht relevant behandelt:

  • geistige, physische und soziale Eigenschaften wie Hautfarbe, Ethnie, Geschlecht, Religionszugehörigkeit
  • Stellung innerhalb der Gesellschaft, sozialer Status[1]
  • materieller Besitz
  • geistige und physische Fähigkeiten wie Intelligenz, Kraft
  • besondere psychologische Neigungen wie Risikofreude, Optimismus
  • Vorstellung vom Guten, Details des eigenen Lebensentwurfs
  • Einrichtung der Gesellschaft etwa ökonomischer und politischer Art
  • Niveau der Gesellschaft zum Beispiel hinsichtlich Zivilisationsfortschritt und Kultur
  • Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation

Aus dieser abstrakten Gleichheit folgt die Unparteilichkeit der Menschen, aufgrund derer sie aus einer Reihe von möglichen Gerechtigkeitsprinzipien die Rawlsschen wählen sollten. Darin ist nun keine logische Beziehung zu sehen; es handelt sich um eine in der normativen Gerechtigkeitstheorie argumentativ dargelegte Behauptung.

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Hallo @El_Borbah.

Das ist die eine Seite der Medaille. Wer sich in einer schwachen Position befindet und Unterdrückung, Ausbeutung odgl. zu erwarten hat, der wünscht sich freilich Gleichberechtigung aller zur Besserung der eigenen Position.

Wer aber auf der Seite der Starken steht, wer durch das vorherrschende System bevorzugt wird, der hat genuin eigentlich kein Interesse an der Gleichberechtigung, weil seine Position dadurch geschwächt würde.

Darum scheint mir deine Argumentation noch nicht völlig ausgereift.

Liebe Grüße
vom Namenlosen

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Ich wundere mich immer, wenn beim Töten von Menschen die Formulierung kommt: „Auch Frauen und Kinder“. Sind die des Trauerns oder der Entrüstung mehr wert als Männer?

Kann mich an eine Satire von Volker Pispers erinnern, sinngemäß: „20 Tote, Gottseidank nur Männer“.

Kurti

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Männer gelten in diesem Zusammenhang als wehrhafter - je nach Situation im Einzelnen sind sie das auch.

Hat nichts mit der Zuweisung eines Wertes zu tun.

Schöne Grüße

MM

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Klar, die kämpfen noch im Sarg weiter.

offenbar keineswegs - sonst hättest Du wenigstens der Spur nach verstanden, worum es da geht.

Schöne Grüße

MM

Ich meinte ja nur, Menschenrechte lassen sich am besten mit dem Eigeninteresse erklären. Einen Absolutheitsanspruch, mit dem automatisch alle Ungerechtigkeit aus der Welt geschafft wird, vertrete ich damit nicht.

Aber nehmen wir das Extrembeispiel der Sklaverei: Für den Sklavenhalter stellt sie einen enormen Vorteil dar, während seine Sklaven enorm unter der Ausbeutung leiden. In der Regel fügen sie sich dem Willen ihres Unterdrückers, weil sie nicht ausgepeitscht oder gelyncht werden wollen. Der Sklavenhalter genießt hier das „Recht des Stärkeren“. Gleichzeitig muss er aber ständig Anstrengungen unternehmen, um seine Sklaven schwach zu halten, damit sie nicht über eine Revolte nachdenken. Sklavenaufstände gab es einige - mindestens einer war sogar erfolgreich (Haiti).
Aber auch Sklavenhalter wollen sich selbst nicht für moralisch schlechte Menschen halten. So wurde unter anderem mit der Bibel argumentiert (wobei das ebenfalls sie Gegner des Sklaverei taten). Ein anderes moralisches Argument war, dass es den Afrikanern in der Sklaverei besser ginge, als in ihrer Heimat, wo sie ständig einem Überlebenskampf ausgesetzt seien. Wegen ihrer angeblichen geistigen Beschränktheit, könnten sie niemals ihre Situation verbessern. Als Sklave erhalten sie dagegen Unterkunft und Verpflegung, aber am Wichtigsten: Sie dienen einer „höheren Sache“ - Dem Wohlstand einer großen Nation.
Dass sich diese Argumentation auf falsche Annahmen stützt, brauche ich hier nicht zu erklären.

Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Menschen willkürlich unterdrückt werden aufgrund von irrationalen Argumentationsweisen, denn ich selbst könnte das nächste Opfer dieser Willkür sein. Daher habe ich ein Interesse an Menschenrechten.

Es sind meistens Männer, die Gewalt ausüben. Am seltensten sind es kleine Kinder.
Würde man einen Mann mit einer Frau oder einem Kind in einen Boxring stecken, wäre das Resultat wenig überraschend. Von daher ist die größere Empörung über tote Frauen und Kinder nachvollziehbar.

Wer sagt das? Seit vielen Jahren gibt es auch Soldatinnen. Ist die Welt friedlicher geworden?

Bei Berichten zu Überfällen heißt es oft: „Die Täter sind unbekannt entkommen.“ Wenn unbekannt, woher weiß man, dass es Männer waren?

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man weiß es nicht, und das sagt auch keiner.

Schöne Grüße

MM

Hallo @El_Borbah.
Du schreibst:

Aber auch Sklavenhalter wollen sich selbst nicht für moralisch schlechte Menschen halten. So wurde unter anderem mit der Bibel argumentiert…

Wir mit unserer heutigen Sicht gehen davon aus, dass das System der Sklaverei moralisch verwerflich und ethisch nicht zu rechtfertigen ist. Aus dieser Grundhaltung heraus vermuten wir schnell (evtl. sogar unbewusst), dass die Menschen in früheren Zeiten und anderen Gesellschaften das auch wussten. Darum klingen ihre Argumente für ihr System für uns konstruiert oder sogar verlogen. Wir denken, sie hätten ihre militärische Überlegenheit genutzt, um zum eigenen Vorteil andere moralisch gleichwertige Menschen zu unterdrücken. Dann müssten sie zur Beruhigung des eigenen Gewissens theologische Rechtfertigungen erfinden.

Aber vielleicht war es ja auch andersherum. Sie lebten (warum auch immer) fest in der Überzeugung, dass sie selber die höherwertigen Menschen wären und den einzig wahren Glauben hätten. Also hatten sie das natürliche Recht, diese Menschen zu unterdrücken und sogar die heilige Pflicht, sie zum wahren Glauben zu bekehren.

Das läuft meines Erachtens auf die Frage hinaus, ob unsere Vorstellung von der Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen natürlich ist, sozusagen von selbst im Menschen innewohnt. Wenn ja, dann waren es wohl nur besonders rücksichtslose und skrupellose Leute, die zum eigenen Vorteil andere unterdrückt und ausgebeutet haben. Diese mussten dann natürlich die anderen Leute ihres Volkes mit den (erfundenen) theologischen und moralischen Argumenten beruhigen. Wenn aber der Gedanke der Gleichwertigkeit aller Menschen Ergebnis eines langen gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses ist, dann kann man auch annehmen, dass frühere Unterdrücker von ihrem Standpunkt überzeugt waren. Auf dem Boden der Überzeugungen ihrer Zeit hätten sie dann „richtig“ gedacht, gehandelt und argumentiert. Da sollte man, so finde ich, sehr vorsichtig sein, wenn man das Handeln früherer Zeiten bewerten möchte.

Das heißt jetzt nicht, dass ich dir etwas unterstellen wollte. Ich möchte diesen Gedanken nur einmal klar ausformulieren und bin gespannt auf deine Antwort.

Weiter schreibst du:

Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Menschen willkürlich unterdrückt werden aufgrund von irrationalen Argumentationsweisen, denn ich selbst könnte das nächste Opfer dieser Willkür sein. Daher habe ich ein Interesse an Menschenrechten.

Der Absatz ist für sich alleine gesehen klar und logisch. Du hast meine volle Zustimmung. Aber der Kontext war ja die Frage, wie die Allgemeinheit heute zu den Menschenrechten steht bzw. in früheren Gesellschaften stand. Und mit den Adjektiven willkürlich und irrational machst du klar, dass du die Position eines Menschen vertrittst, der das unterdrückende System als schlecht und falsch erkannt hat. Wer die Argumente für die eigene moralische Überlegenheit aber selber glaubt, der lebt ja nicht in einem System der willkürlichen Unterdrückung. Sondern für denjenigen wäre das eher „die natürliche, von Gott geschaffene Weltordnung“. Also hätte diese Person auch gar kein intrinsisches Interesse daran, diese „Weltordnung“ zu ändern. Im Gegenteil wäre es für diese Person ja sogar ein religiöser Frevel, die göttliche Ordnung mutwillig zu stören.

Nachdem du schon ein extremes Beispiel ausgeführt hast, formuliere ich ein noch extremeres Beispiel. Folgendermaßen denke ich über wilde Tiere, Computer und Haustiere denke. Manchen Tieren spreche ich gar keine Rechte zu. Wenn im Badezimmer ein Silberfisch krabbelt oder eine Mücke auf meinem Arm landet, vernichte ich das Tier. Wenn der Computer nicht mehr richtig funktioniert, tausche ich ihn aus und verschrotte das alte Gerät. Es käme mir gar nicht in den Sinn, dabei über Rechte der Tiere oder Mord oder würdevolles Altern nachzudenken. Haustiere haben gewisse Rechte. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn ein Hundebesitzer seinen Hund schlägt oder ihn hungern lässt. Aber ich käme nie auf die Idee, dem Hund ein Mitspracherecht einzuräumen, etwa wie das Wochenende verbracht wird. Wenn der Hundebesitzer verreist und den Hund so lange bei den Nachbarn in Pflege gibt, ist das Tier gut versorgt. Der Hundebesitzer weiß, dass der Hund damit nicht so glücklich ist, aber der eigene Komfort hat für ihn Vorrang. Jetzt stellen wir uns einmal kurz vor, in einer zukünftigen Gesellschaft würden Hunde oder Computer als dem Menschen gleichwertig erkannt. Dann wären wir in den Augen dieser Zukunftsmenschen ja skrupellose Unterdrücker und Mörder, die ihre Haustiere entrechten und ihre Computer verschrotten. Aber wir selber leben mit unserem Gewissen im Reinen und sind der Meinung, richtig zu handeln. Man sollte uns keine moralischen Verfehlungen unterstellen, allenfalls unsere Unwissenheit belächeln.

Liebe Grüße
vom Namenlosen

Kulturrelativismus und moralischen Relativismus lehne ich ab. Natürlich kann man sagen, dass es die Menschen von Früher nicht besser wussten; was man ihnen dann auch nicht zum Vorwurf machen kann; ich denke aber, man kann sagen, dass sie mit ihren Vorstellungen und Argumentationen objektiv falsch lagen. Das betrifft aber nur die Unterdrücker und Ausbeuter - wussten ihre Opfer es ebenfalls nicht besser? Kann es einen Sklaven gegeben haben, der damals mit seiner Situation glücklich war, weil er die moralische Rechtfertigung seines „Herren“ als richtig und gut anerkannt hat, oder weil er zu dem Schluss gekommen ist, dass sich sein Schicksal aus einer höheren Ordnung ergeben hat? Fakt ist: Die große Mehrheit der Sklaven wurde regelmäßig in Ketten gelegt, ausgepeitscht und öffentlich gehenkt. Diese Maßnahmen dienten dem Zweck, die Gefügigkeit zu erhalten. Darüber hinaus waren die vollkommen Entrechteten häufig Opfer von sinnloser und sadistischer Gewalt und Demütigung, die an diesem Zweck vorbei ging.

Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen. Während der Steinzeit beschränkten sich seine sozialen Verbunde aber (so gut wie) immer auf kleinere Gruppen. So gab es einen starken Zusammenhalt innerhalb von Sippen, der das Überleben des Einzelnen gewährleistete, während andere Sippen eher als Feinde im Kampf um die knappen Nahrungsressourcen angesehen wurden. Der technologische Fortschritt brachte Waffen und Kriegsgerät hervor, die zuerst der Sicherheit der eigenen Gruppe (Nation) dienen sollten, die aber auch Ängste bei den Umliegenden Gruppen hervorriefen, sodass sich der Kampf um Ressourcen, auf Ressourcen speziell für den Bau von Kriegsgerät ausweitete. Und diese Angst vor der potentiellen militärischen Überlegenheit der Anderen, führte nicht selten zur Ausführung des Gedankens, es sei besser zuerst zuzuschlagen, bevor die Anderen es tun. Der Erste Weltkrieg kann als Musterbeispiel dieser Logik herhalten. Zahlreiche Nationen schlossen sich dem Gemetzel an, verbündeten sich, um ihre Gebiete zu vergrößern und Ressourcen zu sichern, indem sie benachbarte, augenscheinlich schwächere Nationen angriffen. Damals wurde Krieg regelrecht verherrlicht und als legitimes Mittel der Bereicherung der eigenen Nation angesehen - die daraus resultierende Zerstörung sollte aber vom Gegenteil überzeugen. Heute scheinen so ziemlich alle Regierungen der Welt zu dem Ergebnis gelangt zu sein, dass freundschaftliche Beziehungen und Handel mit anderen Nationen den eigenen Interessen zuträglicher sind - wobei der technische Fortschritt die Vernichtung der gesamten Menschheit möglich macht, was kaum jemand anstreben wollen kann. Kriegshetzte und -propaganda, die dazu geeignet war, die eigene Nation als überlegen, höherwertiger und von Gott auserwählt darzustellen, während der Rest der Menschheit (oder Teile davon) entmenschlicht und als „Ungeziefer“ diffamiert wurde, sind heute der Anstrengung zum Frieden hin gewichen, auf Basis von gegenseitiger Respektbekundung.
Die Ablehnung von rassistischen Lehren als unwissenschaftliches Hasspotential sowie übertriebene nationale Selbstlobhudelei, geht hin zu der Weltanschauung von der Menschheit als Ganzes.

Fragen der Moral beschränken sich erstmal nur auf Menschen. Tiere sind vom Diskurs insofern ausgeschlossen, weil sie nicht daran teilnehmen können. Leblose Objekte sind gar kein Gegenstand von Moral, außer es handelt sich um den Besitz von Menschen.
Ohne Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit (Wohlergehen und Leid) bedarf es keiner moralischen Regeln. Moralische Regeln zielen immer auf den Erhalt oder die Vermehrung von Wohl und die Vermeidung oder Verringerung von Leid ab - zumindest für den, der diese Regeln vorschlägt. Tieren wird heute zwar auch Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit zugesprochen, und sie gelten daher nicht mehr nur als Objekte, die wie Maschinen funktionieren, aber wie weit die Leidensfähigkeit von Tieren geht und ob sich daraus eine moralische Verpflichtung des Menschen ergibt, ist umstritten. Wie du mit deinem Computer verfährst, sei dir selbst überlassen - einen moralischen Vorwurf könnte man dir machen, wenn du Ressourcen verschwendest und unnötigen Elektromüll verursachst, was gegen das Interesse der Allgemeinheit wäre.
Moralische Regeln, die das Wohl von Tieren beinhalten, lassen sich entweder nur mit Mitleid begründen, oder wiederum mit dem Eigeninteresse. Mancher Menschen Appetit wird verdorben bei der Vorstellung, das Schnitzel auf dem Teller sei aus unsäglichem Tierleid hervorgegangen. Des weiteren könnte der Geschmack sowie der Nährstoffreichtum darunter leiden, wenn Schlachttiere übermäßigem Schmerz und Stress ausgeliefert waren. Massentierhaltung könnte umweltschädlich und ineffizient sein - das pflanzliche Futter, das für die Mast von Schlachtvieh angebaut werden muss, verbraucht Unmengen von Anbaufläche, die besser für Nahrung für die Menschen genutzt werden könnte, usw.
Haustierhalter entwickeln häufig eine starke Beziehung zu ihren Tieren. Nicht selten wird die „Freundschaft“ zum Dackel höher bewertet, als die zu anderen Menschen, denn Waldi ist treu und kein Verräter. Auch wenn Tiere ihre Bedürfnisse nicht verbal äußern können, kann man an ihrem Verhalten durchaus Freude oder Unbehagen erkennen. Wenn ein Hund wie wild durch die Gegend hüpft, sobald die Hundeleine hervor geholt wird, legt das die Annahme nahe, dass ihm ein Waldspaziergang große Freude bereitet.

Ein anderes Beispiel, bei dem moralischer Relativismus doch nicht so ganz von der Hand zu weisen ist, ist der Umgang mit schwerbehinderten Menschen. „Soll eine Gesellschaft für das Wohl derer aufkommen, die selbst nicht und unverschuldet dazu in der Lage sind, und die auch nichts zur Gesellschaft beitragen können?“ In einer reichen Industrienation stellt sich diese Frage kaum. Der Anteil derer, die auf fremde Hilfe angewiesen sind, ist gering und wir können es uns ohne weiteres leisten - wir selbst könnten jederzeit durch Unfall oder Krankheit in diese Lage kommen. Zusätzlich wird eine ganze Industrie mit Arbeitsplätzen geschaffen, die sich diesen Bedürfnissen widmet.
Dagegen wird z.B. in Stämmen, die im südamerikanischen Regenwald isoliert heute noch so leben, wie ihre Vorfahren vor tausenden von Jahren, der Umgang mit Hilflosen ganz anders gehandhabt. Wer nicht für sich selbst sorgen kann, ist sich selbst überlassen und steht dem sicheren Tod entgegen. Hier kann weder von Herzlosigkeit die Rede sein, noch kann man moralische Vorwürfe machen. Der Versuch der „Sozialhilfe“ ist ein Luxus, den sich nicht jede Gesellschaft leisten kann. Der eigene, tägliche Überlebenskampf (durchschnittliche Lebenserwartung unter 40 Jahren) in einer gefährlichen Umgebung nimmt bereits zu viel Energie und Ressourcen in Anspruch.

Moral relativiert sich, wenn sie von Ressourcen abhängig ist. Bei genügend vorhandenen Ressourcen empfiehlt sich eine Rücksichtnahme und Zusammenarbeit im eigenen Interesse, während Ressourcenknappheit einen Kampf auf Leben und Tod rechtfertigt. Man kann es einem Schiffbrüchigen nicht zum Vorwurf machen, wenn er eine Holzplanke, die nur ihn selbst tragen kann, für sich alleine beansprucht, und jene, die danach greifen und so ihre Funktion zunichte machen, gewaltsam abwehrt.