Lieber Louis,
letzten Herbst war ich in einer ähnlichen Situation wie Du: meine Freundin war dabei, mir wegzulaufen, und Arbeit hatte ich auch keine. Besonders die Abende, an denen ich plötzlich allein dasaß, waren schlimm. Ich begann, Leute anzurufen, die ich nicht anrufen wollte, weil ich sie nicht genug kannte, und fühlte mich danach noch verlassener.
Kaffeetrinken, Kino, Ausstellungen, wozu Dir einige wohlmeinend raten, war für mich alles nichts, weil dazu ohne Arbeit das Geld fehlte. Außerdem wollte ich nicht, und willst Du vielleicht auch nicht, anderen Leuten beim Spaßhaben zusehen. Nach Lebensfreude habe ich damals auch nicht gesucht. Mir ging es zunächst darum, das Leben überhaupt auszuhalten.
Eines war mir aber klar: wenn genug Zeit verginge, würde ich irgendwann wieder aus der Niedergeschlagenheit auftauchen. Kein Kummer hat soviel Ausdauer wie ich. Also vertrieb ich mir die Zeit mit stumpfsinnigen Tätigkeiten, die so anstrengend waren, dass mir dabei das Denken schwer fiel, aber nicht so kompliziert, dass sie Denken erfordert hätten: Aufräumen, Putzen, vor allem aber Sport.
Vorher hätte ich das weit von mir gewiesen: wenn es dir schlecht geht, mach doch Sport, das ist gesund. Herzlos, so etwas zu empfehlen! Ich trieb trotzdem Sport, rannte, so schnell es ging, um einen nahegelegenen See, schwamm im herbstkühlen Wasser, radelte Berge hinauf, die mich nicht interessierten. Das tat körperlich furchtbar weh und übertönte zeitweilig den seelischen Schmerz.
Vor allem aber zeigte der Sport mir, was ich alles kann: laufen, schwimmen, radfahren, ganz allein, ohne Hilfe, ohne Gesellschaft, ohne Unterstützung durch irgendwen. Das hat mich gestärkt. Nach zwei Wochen traute ich mir zu, meine Wohnung zu renovieren, soweit das Portmonee es zuließ. Aufgeräumt und geputzt war sie ja schon. Als ich anfing, mich über schlechtes Werkzeug zu ärgern, wusste ich, der Liebeskummer beherrscht mich nicht mehr.
Wenn Du, Louis, ein ähnlicher Mensch wie ich bist, dann geh in den Schnee und wandere, soweit Du kannst. Nimm eine Taschenlampe mit, weil es früh dunkel wird. Wenn Dir die Kälte in die Glieder kriecht, wirst Du merken, was wirklich weh tut. Nachher, beim Aufwärmen, wirst Du feststellen, Du hältst das aus. Du bist stark. Und wenn das am ersten Tag funktioniert hat, geh am nächsten Tag wieder raus. Und am übernächsten Tag auch. Falls Du dazu keine Lust hast, mach Dir klar, dass Du zu allem anderen auch keine Lust hast, und tu es ohne Lust. Jedenfalls wenn Du ein ähnlicher Mensch wie ich bist.
Ich hoffe, das hilft, und gebe ansonsten Hanna vollkommen recht.
Alles Gute wünscht GoThen