Wie Gott verstehen?

Liebe/-r Experte/-in,

Ich, w. 20 Jahre, kann mich nicht richtig mit dem Glauben auseinander setzen. Bzw. kann ich Gott nicht „verstehen“ oder erleben. Ich möchte es so gerne. Aber ich weiss nicht wie. Bräuchte unbedingt Ratschläge. Anmerkung: Ich mache es nicht für eine Person, sondern für mich selber. Damit ich in schwierigen, psychisch belastenden Phasen, die ich des Öfteren habe, auch inneren Frieden erlangen kann.

Vielen Dank.

Hallo Colleen92

Deine Anfrage ist sehr offen formuliert. Um dir besser antworten zu können, müsste ich vielleicht noch genauer wissen, welche Art Ratschläge du bräuchtest. Du darfst dich also gern wieder an mich wenden. Ich versuche aber trotzdem in allgemeiner Form zu sagen, was mir dazu einfällt.

Zuerst: Was ist eigentlich «Glauben»? Häufig meint man, das sei eine Art Technik, wie man denken soll, was man für wahr halten soll und was nicht. Aber Glauben heisst in erster Linie Vertrauen (das griechische Wort für Glauben und Vertrauen ist dasselbe). Glauben bedeutet darum für mich, darauf vertrauen, (1) dass Gott mich gewollt hat und mich O.K. findet, so wie ich bin, (2) dass ich ihm nicht egal bin, sondern dass er mit mir in Beziehung treten will und das oft auch tut, ohne dass ich es bewusst suche, (3) dass er mich begleitet auf meinem Weg durchs Leben, dass er mir Zeichen gibt, meinen Weg zuweilen gestaltet – Gutes und Schweres nehme ich aus seiner Hand, (4) dass er mir auch Freiheit lässt, was ich tue und wie ich mich entscheide – ich bin keine Marionette, wenn ich glaube –, (5) dass mein Leben einen Sinn hat und mein Weg ein Ziel, auch wenn ich beides vielleicht noch nicht klar und deutlich sehe. Glauben heisst für mich, darauf vertrauen, dass mein Schicksal kein Zufall ist – ob es mir gut geht oder nicht – sondern dass eine positive Lebensmacht mir so viel Gutes zuteilt, das ich geniessen – und so viel Schweres, wie ich tragen kann. Dieser Lebensmacht sagen wir Gott.
Manche stellen sich den als Mann vor mit weissem Bart irgendwo hinter den Wolken. Aber eigentlich können wir uns ihn (oder sie, wie auch immer) gar nicht vorstellen. Glauben heisst von daher auch nicht wissen, sondern (blind) vertrauen.
Die Glaubenssätze, wie man sie im Katechismus lernt oder wie sie auch in der Bibel stehen, sagen eigentlich nichts anderes, nur oft in einer schwer verständlichen Sprache. Sie sind ja auch schon ziemlich alt.

Gott verstehen ist etwas, was Legionen von Theologen schon versucht und nicht geschafft haben. Gott ist ein Paradox, etwas, das man nicht logisch verstehen kann. Das Wort «erleben» ist für mich da schon zutreffender. Allerdings ist Gott nicht ein Erlebnis wie ein Tag im Europapark oder in der Shoppingmeile – oder wie eine Bergtour. Man kann Gott auf verschiedene Weise erleben: In der Natur, in meditativer Versenkung, im Gebet, in der Musik – aber auch im ganz banalen Leben. Je mehr ich davon ausgehe, dass Gott meine Geschicke lenkt, umso mehr entdecke ich seine Zeichen auf meinem Weg. Und diese geben wir wiederum die Bestätigung, dass er bei mir ist und ich nicht allein bin.

Und last but not least war und ist Glauben immer eine soziale Angelegenheit. Es gibt zwar ein paar Eremiten, die mit sich und Gott allein in der Wüste hausen, aber normalerweise brauchen wir Menschen andere Menschen, mit denen wir über solche Dinge austauschen können (deshalb wohl hast du ja geschrieben). Such dir am besten eine Gemeinde, wo du mit anderen gemeinsam unterwegs sein kannst. Man findet seine Meinungen und Überzeugungen immer nur mit der Hilfe von und in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Ich würde sicher nicht zu Scientology gehen oder zu den Zeugen Jehovas oder ähnlichen Gruppen. Die haben totalitäre Tendenzen, und wenn du mal drin bist, wirst du ausgenutzt und kommst nicht mehr raus – fast wie bei einer Alkoholsucht. Ich als reformierter Pfarrer schlage dir vor: Geh in eine Landeskirche, sprich mit einer Pfarrperson, sie kann dir sicher diesbezüglich weiterhelfen. Besser als ich via Internet.

Und noch als ganz Letztes: Glauben kann in psychischen Problemen helfen – vorausgesetzt, es ist ein gesunder Glaube. Einer, der stark macht und aufbaut. Das sollte Glauben tun. Es gibt aber auch Arten von Glauben, die einseitig sind, die dich als sündig und schmutzig hinstellen wollen, dich klein machen. Ein solcher Glaube schadet mehr als er hilft.

Du siehst, es ist gar nicht so eine einfache Sache mit dem Glauben. Deshalb ist es auch keine Schande, Hilfe zu holen. Ich möchte dich dazu ermutigen.
Du darfst mir gerne noch einmal schreiben – oder such dir jemanden in deiner Nächte, der dir persönlich weiterhelfen kann.

Alles Gute und herzliche Grüsse

Samuel Burger