Wie kann Realismus gesellschaftskritisch sein?

Hallo,

ich bereite gerade für den Kunstunterricht ein Referat über den Realismus vor. Dabei bin ich beim Verfassen einer Definition des Begriffs über eine Frage gestolpert, die mir weder das Internet noch meine Logik richtig beantworten kann. Und zwar bemühen sich die Vertreter des Realismus ja um eine wirklichkeitsgetreue Darstellung, weshalb sie ihre Sujets auch direkt aus der sichtbaren Realität wählen. Im Naturalismus verhält sich das ähnlich; allerdings grenzen sich die beiden Stilrichtungen offenbar insofern voneinander ab, als dass im Realismus auch gesellschaftskritische Werke möglich sind, während die Werke des Naturalismus die Realität rein objektiv zeigen.

So weit, so gut. Allerdings verstehe ich jetzt nicht, wie ein Bild des Realismus überhaupt gesellschaftskritisch sein bzw. die Meinung des Künstlers zu irgendeinem Thema widerspiegeln kann. Laut der Definition wird die Realität doch so dargestellt, wie sie wirklich zu sehen ist. Oder werden im Realismus etwa doch bestimmte Dinge wie Licht-Schatten-Verhältnisse verändert, um die Meinung des Künstlers zum Ausdruck zu bringen? Das würde doch der eigentlichen Auffassung des Realismus widersprechen, die Dinge realistisch darzustellen. Oder kommt der gesellschaftskritische Effekt schon durch das Motiv zustande, das gemalt wird? – Dass der Vertreter des Realismus z. B. bewusst eine Fabrik mit geplagten Arbeitern realistisch (!) darstellt, um auf soziale Missstände aufmerksam zu machen, während ein Vertreter des Naturalismus sich lieber auf eine Landschaft konzentriert, in die man keine politische Aussage hinein interpretieren kann? Aber in diesem Fall gäbe es doch im Prinzip keinen Unterschied zwischen Realismus und Naturalismus, weil ein Naturalist ja ebenso gut dieselbe Fabrik malen könnte und das Gemälde dann fast genauso aussehen würde …

Puh, hab ich jetzt viel geschrieben. Aber kürze konnte ich es leider nicht ausdrücken, sry. Ich danke euch jedenfalls schonmal im Voraus für eure Antworten. :smile:

Hallo Mr14Prozent,

an dieser Abgrenzungsfrage haben sich schon Generationen den Kopf zerbrochen. Eine Hilfe kann die Unterscheidung von FORM und INHALT des Kunstwerks sein.
So kann es beim Naturalismus mehr um die Darstellungsweise, die Form der Gegenstände und die „naturgetreue“ Farbgebung gehen. Der Realismus legt mehr Wert auf den Inhalt, das Thema, den Bezug zur vorhandenen (nicht gedachten) Alltagswirklichkeit - und kann insofern durch die Motivwahl gesellschaftskritisch sein.

Dazu Zitate, die das Ringen um die schwierige Abgrenzung zeigen:
„Der Kunsthistoriker Georg Schmidt versuchte in einer Zeit der werkimmanenten Interpretation nach dem Zweiten Weltkrieg, den bildnerischen Naturalismus vom Sozialen und Weltanschaulichen zu lösen. So kam er zu relativ zeitunabhängigen Definitionen. Dem Naturalismus komme es nicht auf die „Wahrheit“, sondern auf die „Richtigkeit“ an. …“
„Ferner versuchte Schmidt, den Begriff Naturalismus von den Begriffen Realismus und Idealismus abzugrenzen. Während der Naturalismus nach „äußerer Richtigkeit“ strebe, komme es dem Realismus auf „innere Wahrheit“ an. Dem Idealismus gehe es um „Erhöhung der Wirklichkeit“, während der Realismus nach „Erkenntnis der Wirklichkeit“ strebe. …“
Beide Zitate aus:
http://de.wikipedia.org/wiki/Naturalismus_%28Kunst%2…

Grundsätzlich wiederholt sich diese begriffliche Definitionsfrage vor jedem einzelnen Werk und macht deutlich, dass mit dem Medium Sprache das Medium Bild nicht immer angemessen erfasst werden kann.

Freundliche Grüße
rotmarder

Hallo rotmarder,

vielen Dank für deine Antwort! Das hilft mir auf jeden Fall schonmal weiter.

an dieser Abgrenzungsfrage haben sich schon Generationen den
Kopf zerbrochen.

Da bin ich ja beruhigt, dass ich nicht der einzige bin, der damit Probleme hat. :smile:

Grundsätzlich wiederholt sich diese begriffliche
Definitionsfrage vor jedem einzelnen Werk

Offensichtlich geht man mit dem Versuch einer Unterscheidung zwischen Naturalismus und Realismus ja eher in den philosophischen Bereich als in den künstlerischen. Wenn ich das richtig verstehe, kann man ein Werk eigentlich nicht als realistisch bzw. naturalistisch einordnen, wenn man nichts über die Absichten des Urhebers weiß. Denn rein äußerlich gibt es keinen Unterschied. Erst, wenn man weiß, worauf es dem Künstler ankam, kann man eine genaue Unterscheidung vornehmen. - Kann man das so sagen oder ist das dann doch stark vereinfacht?
Oder kann man sogar so weit gehen, ein Bild schon anhand des Sujets einzuordnen? Kann ich z. B. sagen, dass „Diogenes“ von Gérôme dem Realismus zuzuordnen ist, weil das Bild einen philosophischen Hintergrund hat, und „Im Atelier“ von Marie Bashkirtseff naturalistisch ist, weil es keinen (erkennbaren) tieferen Sinn hat außer dem, das Sichtbare möglichst realistisch darzustellen? Oder ist diese Art der Einteilung zu riskant - schließlich kann ich bei vielen Gemälden nichts über den dahintersteckenden Sinn wissen?

Grüße,
Mr 14 Prozent

Hallo Mr 14 Prozent,

eine Interpretation ist immer auch subjektiv gefärbt, da sie vom Vorwissen der Autoren abhängt.
Deshalb würde ich bei der stilistischen Zuordnung auch die damit verbundene Problematik mit erwähnen (Methoden-Transparenz!), die Entscheidungskriterien nennen (z.B. nach Georg Schmidt) und darauf hinweisen, dass du nach deinem (!) bestmöglichen Wissenstand urteilst.
Danach kann sich eine Debatte über die Richtigkeit des Urteils anschließen, was aber kein Fehler ist, sondern genau ein Abbild dessen, was im wissenschaftlichen Forschungsalltag vorgeht:
Erst Hypothese - dann Verifizierung oder Falsifizierung als fortschreitender Prozess.

Freundliche Grüße
rotmarder

Hallo rotmarder,

okay, dann weiß ich jetzt in etwa, wie ich das Thema anpacken muss. Ich danke dir nochmal für deine fundierten Antworten; hat mir auf jeden Fall ein gutes Stück weitergeholfen! :smile:

Grüße,
Mr 14 Prozent