Liebe Maralena,
ich hoffe, Du konntest schlafen, denn bei mir tauchen derartige Bilder zumeist nachts auf.
Ich weiß nicht, ob ich Dir wirklich helfen kann, aber ich schildere mal meine Erfahrung.
Mein Mann ist vor 1,5 Jahren an Krebs gestorben. Die drei OPs (Niere, Lunge links/rechts) hat er zwar überlebt, den Krebs aber nicht. Ich war bei jeder OP-Vor- und Nachbesprechung dabei und wusste daher auch alle Details.
Aber diese Informationen waren recht „abstrakt“. Die drei ca. 30 cm langen Narben machten es konkret - und diese Narben werde ich wohl nie vergessen; genauso wenig wie die letzten Tage, in denen er durch die Hirnmetastasen bereits sehr verwirrt war, in denen er mal einen „Polizeitee“ (?) verlangte, er Bilder an den Wänden sah, die nicht vorhanden waren, in denen er fragte, wo er denn sei und mir nicht glauben wollte, dass er zu Hause sei, da alles so anders aussehe, in denen er mal sagte: „Ich muss doch essen, ich will nicht sterben!“, in denen er sagte: „Kathleen, ich kann nicht mehr, mach was!“
Und ich denke, auch diese meine Schilderungen sind für viele Menschen abstrakt.
Was ich damit sagen will: Das, was ich nicht wirklich gesehen habe, hat sich auch nicht in meinem Kopf festgebrannt. Diese OP-Details sind bei mir recht schnell verblasst. Daher mache ich Dir jetzt mal die Hoffnung, dass sich die Bilder auch kein Jahr in Deinem Kopf festsetzen, andere Bilder (z.B. der jetzige Anblick Deines Schwagers) werden sich hingegen lange halten. Aber jeder Mensch „speichert“ ja auch anders.
Du schreibst, Du kannst/möchtest mit niemanden reden, der Deinen Schwager kennt. Das kann ich verstehen: Ich habe auch versucht, alle zu „schonen“, aber ich habe viel mit einer Krebswitwe, die ich über einen Krebsverein kennengelernt habe, geredet. Das hat mir geholfen bzw. hilft mir immer noch. Und ich schreibe viel darüber - was dem einen oder anderen Nutzer hier wohl nicht verborgen geblieben ist.
Was den Alltag betrifft: Ich muss im Nachhinein sagen, dass ich mich auch häufig in diese Bilder „gestürzt“ habe, da ich unbedingt verstehen wollte. Ich habe mich in sie hineingesteigert, weil ich das Leid meines Mannes nachvollziehen/nachempfinden wollte. Aber das kann man nicht. Und es hilft weder dem Kranken noch einem selbst.
Und auch nach seinem Tod ist das eine „Falle“, in die ich noch tappe. Nicht mehr so oft, aber sie ist immer noch da.
Da muss man sich auch mal selber stoppen. Wenn ich z.B. mit jemanden geredet habe/rede und ich merk(t)e, dass sich ein Kloß im Hals bildet, habe ich gesagt/sage ich: „Lass uns das Thema wechseln, sonst fange ich an zu heulen!“ Ich nenne es mal laienhaft bewusste Verdrängung. Es mag sich so anhören, als belöge man sich selbst, aber in bestimmten Situationen muss man sich auch vor sich selbst schützen. Und bei einem der oben erwähnten Sätze, musste ich auch schon wieder kämpfen. Da muss ich mich auch stoppen!
Wie geht denn Deine Schwester jetzt damit um? Ich kann natürlich nur spekulieren, aber ich kann mir vorstellen, dass Du auch ihr Leid nachempfinden möchtest, Dir vorstellst, dass es für sie doch noch viel schlimmer sein muss. Magst Du daher nicht mit ihr darüber reden?
Deine Schwester benötigt jetzt ganz viel Halt! Sie wird auch einen Redebedarf haben. Ihr solltet Euch vielleicht gemeinsam eine Krebs-/Trauer-Gruppe suchen, aber Ihr solltet vorsichtig sein, dass Ihr Euch nicht gegenseitig im Alltag „hochpusht“. Die Gespräche sollten „dosiert“ sein und Ihr müsst Euch auch gegenseitig stoppen.
Versteh mich bitte nicht falsch, aber Deinem Schwager kannst Du nicht helfen, aber Deiner Schwester! Unterstütze sie! Er wird von all dem Elend unter Narkose und in seinem jetzigen Zustand nichts mitbekommen haben/mitbekommen. Aber Deine Schwester!
Aufgaben lenken ab - und wenn sie dann auch „sinnvoll“ sind (was in so einer Situation nun einmal eine andere Bedeutung hat), kann man manchmal ein klitzekleines gutes Gefühl entwickeln.
Alles erdenklich Gute für die nächste Zeit wünscht
Kathleen