Guten Tag.
Ganz interessant kann es im Zusammenhang mit deiner Frage sein, sich mal zu überlegen, was wohl passiert, wenn „plötzlich“ ein territorialer Konkurrent irgendwo auftaucht.
Dafür gibt es ein schönes geschichtliches Beispiel, nämlich die Besiedlung Nordamerikas (Südamerika gibt nicht so viel her, weil da die Spanier von Anfang an mit Schwert und Muskete aktiv waren).
Wir schreiben also das Jahr, sagen wir mal, 1570. Der Verlauf der Küste Nordamerikas ist in groben Zügen bekannt; die Weißen haben begonnen, den Kontinent im Osten anzukratzen. Für die Indianer heißt das, dass eine andere Kultur quasi vom Himmel gefallen ist und man sich jetzt irgendwie arrangieren muss; Platz für die Handvoll Weißer ist vorhanden, ohne dass territorialer Druck entstünde (es gibt auch nur ein paar Handvoll Indianer), außerdem lässt sich mit der vorhandenen Kriegstechnik bei den vorliegenden Entfernungen und landschaftlichen Verhältnissen nichts Großartiges anfangen. Dennoch: die Bleichgesichter sind am Roden, am Ackern, am Machen, beschneiden also die vorhandenen Jagdgründe, und außerdem dringen sie fallenstellend und jagend weiter ins Landesinnere vor.
Das kann so nicht unendlich lange weitergehen: irgendwann steht dann tatsächlich mal Winnetous Ticktackticktackopa am nächsten Baum und sagt Halt. Der Weiße kann keine Lippe riskieren, weil die technische Überlegenheit noch nicht gegeben ist und er nicht als Visage pâle- Kebab enden will. Der Rote hat wiederum auf Letzteres keinen Appetit und ebenfalls die technische Möglichkeit nicht, die Weißen in den Atlantik zu schmeißen.
Also hockt man sich hin und versabbelt eine Grenzziehung, die dann auch zehn oder zwanzig Jahre einigermaßen Bestand hat. In diesem Zeitraum aber verschieben sich ein paar Dinge: bei Indianers wüten die von den Weißen eingeschleppten Krankheiten und bei den Bleichgesichtern spuckt das Meer alle paar Monate wieder neue Leute an Land - die vorhandene Ackerfläche reicht nicht mehr und außerdem kommen jetzt auch Faulenzer mit, die ernährt werden müssen (Soldaten, Priester und derlei Geziefer). Irgendwann bringt der Weiße es auch fertig, Schweine, Pferde, Esel lebend über den Teich zu bringen: weiterer Bedarf an Landfläche entsteht. Die logische Folge ist, dass die einst gezogene Grenze zunächst verschwimmt (ein Jäger „verläuft“ sich, ein Acker wird wundersamerweise größer …) und dann einfach nicht mehr da ist. Die Indianer sind, s.o. inzwischen dezimiert und halten dem schlichten Bevölkerungsdruck nicht mehr stand. Zudem schaffen die Bleichgesichter jetzt auch mit ihrer Waffentechnik Fakten - es ist ein großer Unterschied, ob man mit Pfeil und Bogen stundenlang hinter einem Hirschen herwetzen muss oder einfach mit dem Gewehr Bumm macht. Grenze? Ach was, Grenze - unser Volk braucht Raum :-\
Die etwas weitsichtigeren Politiker unter den Indianern gehen jetzt dazu über, den Weißen Land zu verkaufen - für einen Appel und ein Ei aus unserer heutigen Sicht; aus damaliger Sicht zum Marktpreis. Der Indianerstamm braucht die Fläche nicht mehr aus Mangel an Leuten, außerdem ist das Hinterland quasi unendlich groß …
Das Dumme ist, dass die Bleichgesichter nun auch anfangen, die zunächst nur mündlich gezogenen Grenzen auch zu befestigen (und mit Militär zu bewachen); das heißt, der ursprünglich fließende Prozess, per Bevölkerungsdruck geregelt, wird irreversibel - wenn der Weiße einen Landfetzen erst einmal hat, gibt er ihn auch nicht mehr her. Jetzt kommt eine Walze ins Rollen - die Weißen vermehren sich zum Einen auf althergebrachte Weise, zum Anderen per immer neuer Schiffsladungen aus Europa.
Nun, der Rest der Geschichte dürfte sattsam bekannt sein. Was daraus abzuleiten ist, ist folgendes: Um so etwas wie eine Grenze zu definieren, bedarf es eines Anlasses - bei geringer Bevölkerungsdichte gibt es diesen zunächst nicht (kann man das vorhandene Territorium nicht nutzen, interessiert einen Nachbars Land primär erst recht nicht). Über den Verlauf einer Grenze, wenn sie denn dann definiert wird, entscheiden immer die Machtverhältnisse - Technik, Bevölkerung, Ressourcen. Kommt einer der genannten Faktoren ins Rutschen, rutscht zwangsläufig auch die Grenzziehung.
Sogenannte natürliche Grenzen haben so lange Bestand, wie der Aufwand zu ihrer Überwindung größer ist als der zu erwartende Nutzen. (NB: Deshalb hat es auch relativ lange gedauert, bis die Alleghenies von Osten her überwunden wurden, obwohl sie ein relativ „kleines“ Hindernis darstellten; deshalb war auch bleichgesichtig wenig los westlich des Mississippi, selbst, nachdem man schon großagrarisch im Flusstal tätig war - der Emeieseseieseseipipiei ist nicht gerade eine Pfütze …). Übertragen auf unsere europäischen Verhältnisse erklärt das die relativ große Stabilität von Staatsgebilden wie Frankreich mit seinen natürlichen geographischen Hindernissen (Mittelmeer, Alpen, Rhein, Kanal, Atlantik, Pyrenäen).
Eins sei noch diesem langen Sums hinzugefügt, nämlich der grünere Rasen des Nachbarn: Bietet ein angrenzendes Territorium günstigere Voraussetzungen für die jeweilige Kulturstufe, dann entsteht natürlich wieder so etwas wie Druck auf eine Grenzziehung (Wohlstandsgefälle vs. Bevölkerungsgefälle ist auch heute noch eine wunderbare Kriegsvoraussetzung …). So lange die Entwicklungsstufe hüben und drüben einigermaßen vergleichbar ist, spielt das nicht die große Rolle - jedenfalls bei vergleichbarer Bevölkerungsentwicklung - es ist dann auch bis zu einem gewissen Grade egal, ob jenseits des Flusses die Erbsen 2/10 mm größer im Durchmesser sind.
Grenzen sind, wenn sie nicht die Ausprägung antifaschistischer Schutzwälle o.dgl. haben, auch immer schon durchlässig gewesen für Handel, aber auch für genetischen Austausch - sei letzterer bei Königs aus politischen Gründen oder bei Herrn Müller und Fräulein Bauer aus anderen erfolgt … auch so etwas schiebt Territorien in-, um- und aufeinander.
Gruß Eillicht zu Vensre