Woher weiß man, was sich der Autor gedacht hat?!

Hallo!

Schülerfrage heute aus meinem Unterricht, 11. Klasse LK Deutsch:

Gesprächsanalyse des Dialogs (2.5.) zwischen Nathan und dem Tempelherrn. Nachdem erarbeitet wurde, welche Strategie Nathan verfolgt, um den Tempelherrn davon zu überzeugen, seinen Dank anzunehmen, und wir quasi resümiert haben, welcher Tiefgang in der Sprache steckt, kam die Frage, woher man denn überhaupt wissen wolle, dass sich (in diesem Fall) Lessing das alles auch so beim Schreiben gedacht hat bzw. das beabsichtigt war.

Was antwortet man da?

Ich erinnere mich, dass ich mich in meiner Schulzeit immer ähnliches gefragt habe, wenn Gedichte interpretiert wurden.

Gibt es Literatur zu dem Thema, die man ggf. mal mit den Schülern lesen könnte?! Das würde vielleicht auch glaubwürdiger machen, warum sie Texte analysieren/interpretieren können müssen.

Danke,
TAMTAM

Hallo,
ich war nicht besonders gut in Deutsch, aber was ich noch weiß:
Die Phrase „Der Autor möchte damit…“ u.ä. waren VERBOTEN.
Interpretieren heißt erstmal so viel wie „auslegen“.

D.h. ICH sage, wie ICH mir eine Textstelle erkläre, und erhebe gar nicht erst den Anspruch, zu wissen, was der Autor sich VLLT dabei GEDACHT haben könnte.

LG,
batz (die Deutsch in der Oberstufe auch ziemlich doof fand)

man weiß es nicht. (owt)
.

Hallo, Tamtam,

George Tabori antwortete einmal, als er eines seiner eigenen Stücke inszenierte, auf die Frage eines mitspielenden Schauspielers, was er sich denn bei einer bestimmten Szene gedacht hätte:

„Da musst Du den Autor fragen“.

Fragendes Schweigen des Schauspielers.

Tabori: „wenn ich schreibe, denke ich anders, als ich es dann inszeniere. Wenn ich inszeniere, sehe ich das, was ich geschrieben habe, mit ganz neuen Augen“.
(das ist jetzt nicht wörtlich zitiert)

Facit: wenn das schon ein (damals noch) lebender Autor über sein eigenes Werk sagt, wie sollen wir dann heute wissen, was genau Lessing „gedacht“ hat?

Selbstverständlich kann man einen Autor nicht aus seinem historischen Umfeld lösen und je besser man dieses Umfeld (inklusive seiner Werke, Briefe, Erläuterungen, Urteilen und Kommentaren seiner Zeitgenossen, etc.) kennt, desto besser kann man vermuten, was er gedacht hat, das ist die Arbeit von Literaturhistorikern und Dramaturgen – wissen können selbst die es nie genau.

Wichtig und spannend ist doch, welche Fragen uns ein Werk heute (noch, oder immer noch) stellt, was uns heute zum Nachdenken bringt, was wir heute mit einem Werk assoziieren, was uns heute gefällt, beeindruckt, Zustimmung und Widerspruch hervorruft.

Herzlichen Gruß, Maresa

Hallo TAMTAM,

wenn Du diese Schülerfrage ernsthaft beantworten willst, musst Du Dich nicht mit Literaturtheorie herumschlagen, sondern grob gesagt mit Philosphie, Psychologie, Logik und Statistik. Mir ist in einem Literatur-Workshop eine ähnliche Frage einmal damit beantwortet worden, dass Menschen eines Kulturkreises auf ein Grundgerüst aus gemeinsamen Moralvorstellungen zurückgreifen. Das heißt: Wir wissen, (glauben zu wissen!) was gut und böse ist und wir wissen auch, wie ein Mensch, der vor ein moralisches Dilemma gestellt wird, dies üblicherweise lösen kann oder wird.

Wir leben und handeln in Europa grob geagt seit rund 1900 Jahren nach Morallehren christlicher Kirchen. Mit diesem Spielmaterial schrieb Lessing und schreiben Autoren heute noch - in der sicheren Erwartung, dass das geschätzte Publikum diesselbe Indoktrination erlebt hat.

viele Grüße
Geli

Moin,

es gibt wenige Autoren, die diese Frage schriftlich beantwortet haben, von Thomas Mann weiß man, daß er Sekundärliteratur zu seinen Werken schrieb.
Ansonsten kann man nur sagen:
Das wissen oft die Schreiber nicht (mehr)
Von Arno Schmidt (der ja nun wirklich akribisch seine Werke vorbereitete) gibt es eine Aussage auf die Frage was er bei einer bestimmten Passage seines Leviatans ausdrücken wollte 'Da können Sie mich jetzt totschlagen, das weiß ich nicht mehr).

Und Dürrenmatt hat mal augenzwinkernd auf Fragen zu Interpretationen zu seinen Werken gesagt (sinngemäß):
Ich bin stets von mir beeindruckt wenn ich schreibe. Ich denke mir immer so viel dabei, zumindestens wird es mir im Nachhinein unterstellt.

Und noch eine Geschichte aus meinem Freundeskreis, wieder mit Dürrenmatt:
Der LK Deutsch eines Freundes bearbeitet irgend ein Werk von ihm und der Lehrer hatte dazu seine Meinung, einige Schüler eine deutlich andere, beide konnten es über den Text mehr oder weniger gut belegen.
Nun begab es sich, daß der Autor in einer Nachbarstadt eine Lesung hielt und man fuhr dorthin, um an der Quelle zu erfahren wer nun recht habe.
Der Autor hörte sich beide Interpretationen an um dann zu sagen, daß er von beiden nichts hielte.

–> so klar ist das alles nicht.

Gandalf

SCNR
Der Dichter, der sich vor Lachen in die Hose macht,
weil Alle denken, er habe sich bei seinen Gedichten was gedacht.
—Reinhard Mey

Konzeption, Improvisation, Kontrolle

Was antwortet man da?

Ich meine, man sollte man Lessings Briefe studieren, die über eventuelle Hintergedanken Aufschluss geben könnten.

Was die allgemeine Frage über Hintergedanken von Autoren betrifft: Da liegt die Wahrheit sicher in der Mitte zwischen bewusster Konzeption und unbewusster Improvisation. Dem Tenor der meisten bisherigen Antworten, dass der Autor gar nicht oder kaum weiß, was er da tut, kann ich nicht zustimmen. Natürlich ist das Verhältnis von Konzept und Intuition von Autor zu Autor verschieden. Autoren aber, die einfach drauflos schreiben, sind rare Ausnahmen. Romane, Drehbücher und Theaterstücke werden in der Regel mehr oder weniger minutiös geplant: Storyline, Gliederung, Charaktere und ihre Beziehungen, die Konflikte zwischen den Charakteren, der Character Arc der Hauptfiguren (also die psychologische Entwicklung) - all das legt der Autor vorher fest oder sollte es zumindest. Das schließt aber keineswegs die Improvisation im Detail aus, d.h. in den Dialogen und den Actionszenen. Auch können im voraus geplante Abläufe während des Schreibens verändert werden, da während des Schreibprozesses häufig neue Ideen auftauchen.

Bei alldem „denkt“ sich der Autor durchaus etwas, allerdings erst im Nachhinein - denn Ideen kommen nun einmal spontan, d.h. aus dem Unbewussten. Das Autoren-Ich ist keine (psychologische) Instanz, die in ursprünglicher Weise Ideen generiert, es nimmt die unbewusst generierten Ideen vielmehr auf und überprüft und verarbeitet sie. Je nach Art der Story und Temperament des Autors kann die Überprüfung während des Schreibens auch wegfallen oder zumindest in den Hintergrund treten - der Autor überlässt sich dann seinen Eingebungen und vertraut darauf, dass sie Sinn machen. Im Prozess der Überarbeitung des Rohtextes (Kontrolle) kann er dann immer noch entscheiden, ob bestimmte Stellen geändert oder weggelassen gehören.

Zusammengefasst: Es gibt drei Phasen der Textgestaltung:

  1. Planung, Konzeption
  2. Niederschrift mit hohem Improvisationsfaktor
  3. Kontrollierende Überarbeitung

Chan

Hi,

Ich meine, man sollte man Lessings Briefe studieren, die über
eventuelle Hintergedanken Aufschluss geben könnten.

Richtig. Doch auch danach weiß der heutige Leser, der nachschöpfende Interpret nicht, was Lessing gedacht hat, als er: „Tut nicht, der Jude wird verbrannt“ und „Oder wär’ es wirklich so, daß selbst der Beste seines Volkes seinem Volke
nicht ganz entfliehen kann?“
schrieb.

Selbstverständlich kann man sich aus den Briefen z.B. mit Moses Mendelsohn viel herausfiltern - aber das ursprüngliche, nicht gefilterte Denken beim Schreiben können wir natürlich nicht nachdenken.

Dem Tenor
der meisten bisherigen Antworten, dass der Autor gar nicht
oder kaum weiß, was er da tut, kann ich nicht zustimmen.

Ich glaube, das hat niemand behauptet!

Autoren aber, die einfach drauflos
schreiben,

auch das hat niemand behauotet.

Romane, Drehbücher und
Theaterstücke werden in der Regel mehr oder weniger minutiös
geplant […] all das legt der Autor vorher fest

Stimmt bedingt.

oder sollte
es zumindest.

Warum?

Auch
können im voraus geplante Abläufe während des Schreibens
verändert werden, da während des Schreibprozesses häufig neue
Ideen auftauchen.

Nicht nur während des Schreibens, auch während des Probierens, so der Autor während der Proben (noch) lebt und anwesend ist. Selten wurden solche unmittelbaren Prozesse aufgezeichnet. Regiebücher, in denen solche Änderungen aufgezeichnet werden, gibt es erst, seit es einen „Regisseur“ gibt. Die „Spielleiter“ von der Antike bis zum 18.Jh. beschränkten sich auf das Arrangieren und Festlegen der äußeren Abläufe einer Vorführung.

Bei alldem „denkt“ sich der Autor durchaus etwas, allerdings
erst im Nachhinein

Diesen Deinen ersten Satz hat niemand bestritten, den zweiten halte ich für äußerst kühn! -

Auch alles, was du sonst noch schreibst, bestreitet keiner - es hat nur absolut keinen Einfluß auf das Denken der Nachgeborenen.
Wo nicht, wie bei einigen Autoren, minutiöse Regie-und Denkan/bzw.Vorgaben gemacht werden, oder explizite Notizen über das beim Schreiben Gedachte existieren, bleibt alles Nachdenken über das „was hat sich der Dichter gedacht“ hübsche Spekulation.

  1. Planung, Konzeption
  2. Niederschrift mit hohem Improvisationsfaktor
  3. Kontrollierende Überarbeitung

Das könnte man so stehen lassen. Allein, was hat es mit der Rezeption zu tun? Und die Frage war, wenn ich nicht irre, wie können wir wissen, was der Dichter gedacht hat.

Herzlichen Gruß, Maresa

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Zitat-Korrektur
leider eben erst nochmal gelesen:

es heißt natürlich
"Tut nicht s , der Jude wird verbrannt"

Sorry und herzlichen Gruß, Maresa

Autorenlogik
Hi Maria.

Doch auch danach weiß der heutige Leser, der
nachschöpfende Interpret nicht, was Lessing gedacht hat, als
er: „Tut nicht, der Jude wird verbrannt“ und „Oder wär’ es
wirklich so, daß selbst der Beste seines Volkes seinem Volke
nicht ganz entfliehen kann?“
schrieb.

Ich denke, es ist irrelevant, was er dachte, als (im Sinn von „während“) er diese oder andere Zeilen niederschrieb. Genaugenommen denkt kein Autor „während“ des Schreibens, sondern vorher und nachher. Das sollte man klarstellen, denn das macht einen großen Unterschied für die Analyse.

Zudem folgen Dialogstellen einer Kontext-Logik, die sich aus der Konstellation der Figuren und der gegebenen Situation ergibt. Was die Stelle(n) mit „Tut nichts! Der Jude wird verbrannt“ z.B. betrifft, ist doch klar, was sich Lessing dabei „gedacht“ hat: Der dies sprechende Patriarch ist ein selbstherrlicher Fanatiker, der für Gegenargumente unzugänglich ist und dialogisch dementsprechend in Szene gesetzt wird. Lessing wird sich also in etwa gedacht haben: „Diese Äußerung passt zum Naturell der Figur und ihrer Beziehung zu Nathan, außerdem forciert sie die szenische Dramatik durch ihre dreimalige Wiederholung.“

Romane, Drehbücher und
Theaterstücke werden in der Regel mehr oder weniger minutiös
geplant […] all das legt der Autor vorher fest

Stimmt bedingt.

Ich weiß jetzt nicht, was du mit „bedingt“ meinst. Dass die wichtigsten klassischen Theaterstücke planvoll entstanden sind, wirst du doch kaum ernsthaft anzweifeln. Seit Lajos Egris bahnbrechendem Werk über das „Dramatische(s) Schreiben“ (1946) gibt es eine entsprechendes theoretisches Grundlagenwerk auch für modernes Theater, zugleich für Drehbücher und Romane (Egri gilt in Hollywood als Godfather der modernen Dramaturgie).

oder sollte
es zumindest.

Warum?

Weil planlose, d.h. rein improvisierte Stories in Romandimension bei den meisten Autoren im Wirrwarr enden würden.

Auch können im voraus geplante Abläufe während des Schreibens
verändert werden, da während des Schreibprozesses häufig neue
Ideen auftauchen.

Nicht nur während des Schreibens, auch während des Probierens,
so der Autor während der Proben (noch) lebt und anwesend ist.
Selten wurden solche unmittelbaren Prozesse aufgezeichnet.
Regiebücher, in denen solche Änderungen aufgezeichnet werden,
gibt es erst, seit es einen „Regisseur“ gibt. Die
„Spielleiter“ von der Antike bis zum 18.Jh. beschränkten sich
auf das Arrangieren und Festlegen der äußeren Abläufe einer
Vorführung.

Ich beziehe mich auf das Schreiben, du hast anscheinend auch Erfahrung in der Theaterpraxis. Was du sagst, stimmt natürlich. Es ist z.B. bekannt, dass an Filmsets viel improvisiert wird (je nach Neigung des Regisseurs und Begabung der Akteure) und so manche Filmszene entstanden ist, die nicht oder nicht in der Form im Script stand.

Bei alldem „denkt“ sich der Autor durchaus etwas, allerdings
erst im Nachhinein

Diesen Deinen ersten Satz hat niemand bestritten, den zweiten
halte ich für äußerst kühn!

Ich habe den zweiten aber auch begründet (unbewusste Generierung von Ideen - dann bewusste Formung). Zudem deckt er sich mit den von Gandalf angeführten Aussagen von Autoren.

Wo nicht, wie bei einigen Autoren, minutiöse Regie-und
Denkan/bzw.Vorgaben gemacht werden, oder explizite Notizen
über das beim Schreiben Gedachte existieren, bleibt alles
Nachdenken über das „was hat sich der Dichter gedacht“ hübsche
Spekulation.

Spekulation oder spekulative Rekonstruktion - das ist von Fall zu Fall verschieden. Wie ich schon schrieb, folgen viele Stellen einer Kontextlogik, die durch Charaktere und Situation prädeterminiert ist. Man kann natürlich nie präzise den „Wortlaut“ der Autorengedanken erraten, aber oft doch deren sinngemäße Ausrichtung.

  1. Planung, Konzeption
  2. Niederschrift mit hohem Improvisationsfaktor
  3. Kontrollierende Überarbeitung

Das könnte man so stehen lassen. Allein, was hat es mit der
Rezeption zu tun? Und die Frage war, wenn ich nicht irre, wie
können wir wissen, was der Dichter gedacht hat.

Mit der Rezeption hat das eine Menge zu tun, denke ich. Denn zunächst sollte man wissen, aus welchen Komponenten sich die kreative Arbeit am Stoff zusammensetzt, bevor man sich über „Gedanken“ des Autors den Kopf zerbricht. Meine Darstellung sollte u.a. zeigen, dass es müßig ist, darüber zu spekulieren, was sich der Autor „dachte, als“ er etwas schrieb. Denn der Schreibprozess ist komplex. Nie kann man wissen, ob die Szene oder Stelle das Resultat

a) einer Konzeption
b) einer unüberarbeiteten Improvisation
c) einer überarbeiteten Improvisation

ist. Letztlich geht jede Szene bzw. Stelle mehrmals durch die abschließende bewusste Kontrolle des Autors. Dann prüft dieser natürlich, ob und wie gut sie in den Kontext der Handlung und Charaktere passt. Wenn er dann z.B. bei einer improvisiert entstandene Szene denkt: „Aha, das macht durchaus Sinn, auch wenn ich das spontan schrieb“, dann hat er sich - summa summarum - bei der Stelle was gedacht. Nur eben in zweiter Instanz.

Chan

Hallo, nochmal,

Ich denke, es ist irrelevant, was er dachte, als (im Sinn von
„während“) er diese oder andere Zeilen niederschrieb.

Nichts anderes haben die meisten Beiträge hier formuliert:smile:) Ich auch.

Genaugenommen denkt kein Autor „während“ des Schreibens,
sondern vorher und nachher.

Das Denken - auch das wann, sollte man dem jeweiligen Autor überlassen…*lächel*

Das sollte man klarstellen, denn
das macht einen großen Unterschied für die Analyse.

Was zu beweisen wäre. Die (Theater-)Autoren, die ich kannte, bzw. kenne, hielten es mit „dem Denken“ in deinem Sinne völlig unterschiedlich.

Zudem folgen Dialogstellen einer Kontext-Logik, die sich aus
der Konstellation der Figuren und der gegebenen Situation
ergibt. Was die Stelle(n) mit "Tut nichts! Der Jude wird
verbrannt
" z.B. betrifft, ist doch klar, was sich Lessing
dabei „gedacht“ hat: Der dies sprechende Patriarch ist ein
selbstherrlicher Fanatiker, der für Gegenargumente
unzugänglich ist und dialogisch dementsprechend in Szene
gesetzt wird. Lessing wird sich also in etwa gedacht haben:
„Diese Äußerung passt zum Naturell der Figur und ihrer
Beziehung zu Nathan, außerdem forciert sie die szenische
Dramatik durch ihre dreimalige Wiederholung.“

Säßen wir uns jetzt face-to-face gegenüber, würd’ ich dir mit Augenzwinkern sagen: „Erklär’ mir nicht meinen Beruf“:smile:

Dass die
wichtigsten klassischen Theaterstücke planvoll entstanden
sind, wirst du doch kaum ernsthaft anzweifeln. Seit Lajos
Egris bahnbrechendem Werk über das „Dramatische(s) Schreiben“
(1946) gibt es eine entsprechendes theoretisches
Grundlagenwerk auch für modernes Theater, zugleich für
Drehbücher und Romane (Egri gilt in Hollywood als Godfather
der modernen Dramaturgie).

Nur nicht alles, was geschrieben wird/wurde - und ich meine jetzt mal durchaus sehr erfolgreiche Theaterstücke berühmter Autoren hält sich an - durchaus sinnvolle, aber eben nicht immer angewandte - Grundlagenwerke. Wär auch nicht wirklich erstrebenswert - solche Werke hat es immer schon gegeben (siehe Lessing) und sie wurden immer wieder ignoriert, nicht angewendet, gebrochen - zumindest gilt das für die Theaterliteratur.

Weil planlose, d.h. rein improvisierte Stories in
Romandimension bei den meisten Autoren im Wirrwarr enden
würden.

Da gibt es durchaus andere Denkansätze.

Ich beziehe mich auf das Schreiben, du hast anscheinend auch
Erfahrung in der Theaterpraxis.

Ja, und wenn du jemals etwas fürs Theater geschrieben hast, das auch aufgeführt wurde, dann kennst du deine Schmerzen über das, was unter Umständen in dein Stück hineininterpretiert wird oder nicht interpretiert wird, oder falsch, oder, oder, oder…

Tut mir leid, ich muss jetzt hier abbrechen und sausen, vielleicht schaffen wir es zu anderer Zeit, den Diskurs fortzusetzen.

Herzlichen Gruß, Maresa
(ohnen Gegenlesen abgeschickt, sorry)

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Charakter und Orchestrierung

Ich denke, es ist irrelevant, was er dachte, als (im Sinn von
„während“) er diese oder andere Zeilen niederschrieb.

Nichts anderes haben die meisten Beiträge hier formuliert:smile:)
Ich auch.

Diese „meisten“ sind aber (außer dir) keine Storypraktiker und -theoretiker. Man kann leicht sagen, dass Autorengedanken unergründlich sind, wenn man nicht weiß, unter welchen formalen Bedingungen eine Story entsteht. Diese Bedingungen werden durch Kriterien bestimmt, die sich in Theorie und Praxis durchgesetzt haben. Ich habe einige von ihnen angedeutet:

Konfliktträchtiges Verhältnis der Hauptfiguren (speziell Pro- und Antagonist) zueinander sowie die psychologische Entwicklung (character arc). Hinzu kommt das, was Egri „Orchestrierung“ nennt: das sind einander diametral widersprechende Charaktereigenschaften der Figuren.

Beispiel für Orchestrierung: Nora und Helmer in Ibsens „Puppenheim“: sie lebenslustig und auf der Suche der Selbstbestimmung, er spießig, geizig und frauenverachtend. Aus dieser Konstellation folgen die Verwicklungen der Handlung. Alles, was Ibsen auf der Basis dieser Orchestrierung schreibt, folgt aus den Charakteren.

Egri sagt also: Aus den Charakteren folgt die Handlung (character-driven plot).

Somit kann alles, was im Kontext der Beziehung zwischen Nora und Helmer geschildert wird, als Veranschaulichung des Grundkonflikts verstanden werden, der sich aus der Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere ergibt.

Natürlich wird das kein Leser nachvollziehen können, der in Sache Literaturtheorie und - praxis unbewandert ist. Dann heißt es schnell: „Wir können nicht wissen, was der Autor denkt.“ Das beruht aber nur auf Unkenntnis der Bedingungen des kreativen Prozesses.

Ich beziehe mich auf das Schreiben, du hast anscheinend auch
Erfahrung in der Theaterpraxis.
Ja, und wenn du jemals etwas fürs Theater geschrieben hast, das auch aufgeführt wurde, dann kennst du deine Schmerzen über das, was unter Umständen in dein Stück hineininterpretiert wird oder nicht interpretiert wird, oder falsch, oder, oder, oder…

Nun, die Feedbacks auf meine Stories schwanken zwischen komplettem Unverständnis und Attestierung von Genie :smile:, aber explizite Fehlinterpretationen sind mir nicht untergekommen. Ich weiß nicht, wer deine Stücke so „schmerzlich“ missverstanden hat. Professionelle Kritiker stehen unter dem Druck, etwas verstehen zu müssen, und das nicht selten unter Zeitdruck. Dass es dann zu Fehlinterpretationen kommen kann, ist klar.

Zudem kann man fragen, ob es nicht zur Pflicht eines Autors gehört, Missdeutungen vorzubeugen, indem er/sie im Stück/in der Story hinreichend andeutet, was der Sinn oder die Aussage des Ganzen ist. Vernachlässigt man das, darf man sich nicht wundern, wenn manche das Produkt in den falschen Hals kriegen.

Chan

Sorry, aber ich glaube, wir schreiben komplett aneinander vorbei

Diese „meisten“ sind aber (außer dir) keine Storypraktiker und
-theoretiker. Man kann leicht sagen, dass Autorengedanken
unergründlich sind,

Wer hat das gesagt?

wenn man nicht weiß, unter welchen
formalen Bedingungen eine Story entsteht.

Das muss ich zunächst als Leser oder als Theatergeher auch nicht wissen. Eine Geschichte wirkt auf mich auch ohne dass ich weiß, an welche Gebrauchsanweisungen der Autor sich gehalten hat.

Diese Bedingungen
werden durch Kriterien bestimmt, die sich in Theorie und
Praxis durchgesetzt haben.

Das mag sein, ist bei vielen sicher so - aber ich bleibe dabei, ich muss das als „Konsument“ zunächst nicht wissen. Das fängt erst an, interessant und relevant zu werden, wenn ich „gezwungen“ bin, mich mit der Entstehungsgeschichte, der Verfassung des Autors zum Zeitpunkt des Schreibens, den generellen Lebens- und Seelenumständen des Schreibers, dem politischen Umfeld und was da so hübscher Dinge mehr sind, auseinanderzusetzen.

Und das sind nun mal (neben mehr oder weniger unglücklichen Schülern) in erster Linie professionelle Rezensenten (von denen es manchen gut stünde, mehr Theorie intus zu haben) und all die Leute, die das, was der Autor (einst) so schrieb, heute am Theater, im Film und für’s Fernsehen umsetzen.
Die Leser, die sich nichtprofessionell für Entstehungsgeschichte, das Umfeld und die Schreibtheorie eines Werkes interessieren, sind, wie du zugeben wirst, in der Minderheit.

Konfliktträchtiges Verhältnis der Hauptfiguren (speziell Pro-
und Antagonist) zueinander sowie die psychologische
Entwicklung (character arc). Hinzu kommt das, was Egri
„Orchestrierung“ nennt: das sind einander diametral
widersprechende Charaktereigenschaften der Figuren.

Beispiel für Orchestrierung: Nora und Helmer in Ibsens
„Puppenheim“: sie lebenslustig und auf der Suche der
Selbstbestimmung, er spießig, geizig und frauenverachtend. Aus
dieser Konstellation folgen die Verwicklungen der Handlung.
Alles, was Ibsen auf der Basis dieser Orchestrierung schreibt,
folgt aus den Charakteren.

Egri sagt also: Aus den Charakteren folgt die Handlung
(character-driven plot).

Du hast deinen Lajos gut studiert:smile:

Aber glaubst du, ein „normaler“ Zuschauer im Theater muss das alles gelesen haben, um „Nora“ zu verstehen? Und wissen wir dadurch wirklich besser, was Ibsen gedacht hat? (Nur um an die Ursprungsfrage zu erinnern).

Natürlich wird das kein Leser nachvollziehen können, der in
Sache Literaturtheorie und - praxis unbewandert ist.

Dann müßten die Theater noch leerer sein, als sie es teilweise eh schon sind - säßen da nur die paar „literaturpraktisch Bewanderten“.
Und nur damit keinen neuen Missverständnisse aufkommen, selbstverständlich habe ich nichts gegen Theaterbesucher oder Leser, die sich umfassend über das informieren, was sie konsumieren.
Ich glaube nur nicht, dass es zwingende Voraussetzung ist.

Dann
heißt es schnell: „Wir können nicht wissen, was der Autor
denkt.“ Das beruht aber nur auf Unkenntnis der Bedingungen des
kreativen Prozesses.

Zitat Ch’an: "Ich denke, es ist irrelevant, was er dachte, als (im Sinn von „während“) er diese oder andere Zeilen niederschrieb.

Du verwirrst mich:smile:

Nun, die Feedbacks auf meine Stories schwanken zwischen
komplettem Unverständnis und Attestierung von Genie :smile:, aber
explizite Fehlinterpretationen sind mir nicht untergekommen.

Das freut mich wirklich für dich.
Ich habe wütende Autoren die Stadt verlassen sehen, weil sie sich missverstanden fühlten - Regisseure aber nicht von ihrer eigenen Interpretation lassen wollten. Aber das sind ja nur Extrembeispiele.
In der Praxis ringt jeder Schauspieler, jeder Regisseur tagtäglich mit dem vorgegebenen Text, um ihm mehr als das Offensichtliche zu entlocken. Wenn das (selten genug) gelingt, dann erleben wir das Glücksgefühl einer gelungenen Theateraufführung - ganz ohne Egri (scnr).

Ich weiß nicht, wer deine Stücke so „schmerzlich“
missverstanden hat.

Du hast mich missververstanden…*lächel*…ich schreibe keine Stücke. Ich habe nur jahrelang mitgeholfen, das, was der jeweilige Dichter schrieb, dem Publikum näher zu bringen, das über das Offensichtliche Hinausgehende herauszuarbeiten.

Ich rede immer noch von der Ausgangsfrage - und damit wir uns nicht im Kreis bewegen, ich glaube nicht, dass wir wissen können, was der Autor gedacht hat. Und ich glaube auch nicht, dass das für die Rezeption unbedingt nötig ist.
Alles andere habe ich im Anschluss an meine Tabori-Anekdote gesagt.

Zudem kann man fragen, ob es nicht zur Pflicht eines Autors
gehört, Missdeutungen vorzubeugen, indem er/sie im Stück/in
der Story hinreichend andeutet, was der Sinn oder die Aussage
des Ganzen ist. Vernachlässigt man das, darf man sich nicht
wundern, wenn manche das Produkt in den falschen Hals kriegen.

Ob es wirklich so wünschenswert ist, jedem Gedicht, Roman, Theaterstück einen Beipackzettel** beizugeben: "Achtung: gemeint war nicht…sondern…!??
(** Ironie)

Wenn Autoren gezwungen würden, Missverständnissen vorzubeugen, wie du das nennst, könnte man drei Viertel der schon geschriebenen Weltliteratur auf den Mist hauen (da kann ja keiner mehr einem Missverständnis vorbeugen) und zwei Drittel der lebenden Autoren würden das Handtuch werfen, weil sie vor lauter Sinnandeutungen, die sie deiner Meinung nach machen müssten, kaum mehr zum Schreiben kämen…Elfriede Jelinek würde scheu lächeln und schweigen, Thomas Bernhard brummelte „naturgemäß“ und verließe das Kaffeehaus:smile:

So, und nun wünsche ich dir einen schönen, nebelfreien Tag.
Maresa

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