Zölibat und sexuelle Gewalt

Hallo!

Aus aktuellem Anlass beschäftigt mich seit einigen Tagen eine Frage immer mehr:

Warum gibt es gerade bei katholischen Priestern derart viel sexuelle Gewalt?
Führt das Zölibat geradewegs zu sexuellem Missbrauch?

In unserer Singlegesellschaft gibt es ja viele Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen weitestgehend ohne Sex leben. Häufig oder meist unfreiwillig.
Wenn ich das richtig wahrnehme, werden die aber nicht alle übergriffig gegenüber Schwächeren oder Abhängigen, um sich Sex zu verschaffen.

Priester aber haben sich doch bewusst entschieden, ein zölibatäres Leben zu führen und sind sich doch des moralischen Anspruchs in besonderer Weise bewusst. Warum also wählen sie nicht eine heimliche Geliebte, sondern vergreifen sich an den Kindern aus ihrem Umfeld?

Warum führt ein moralisch geprägter Beruf zu solch einer Form von Gewalt?
Warum führt das Leben innerhalb eines Extrems geradezu zu dem genau gegenteiligen Extrem?

Oder steht hier der Gewaltaspekt weniger im Vordergrund, verglichen bspw. mit Vergewaltigung von Frauen, wo es nachweislich eher um die Gewalt (das Eindringen in den Körper des anderen) geht als um die Sexualität und den Abbau von Trieben?

Dazu hätte ich gern ein paar Meinungen und Argumente.

Danke schonmal und Gruß

HutschiButschi

Hallo,

meines Wissens ist sexuelle Gewalt am häufigsten in Familien bzw. im direkten Umfeld.
Ich meine sogar gelesen zu haben, dass die Fälle in kirchlichen Institutionen nicht häufiger sind als in anderen Zusammenhängen, wo die Umstände entsprechend sind, dass die Häufung also durch die vielen Gelegenheiten kommt (Internate u.ä.) - bin aber nicht ganz sicher, ob das stimmt. Sie stehen jetzt - und das ist gut so - eben besonders in der Öffentlichkeit.
Sie sind sicher dadurch besonders schlimm, weil einerseits der Vertrauensbruch besonders groß ist, denn eigentlich ist das Verhältnis zu einem Seelsorger ja ein besonders geschützter Raum. Und zum zweiten waren/sind die Täter durch ihre Position als Autorität und als Vertrauensperson Nichtbetroffener besonders schwer angreifbar.

Was den Zölibat angeht, glaube ich, dass der Zusammenhang umgekehrt ist: Nicht der Zölibat ruft sexuelle Gewalt hervor, sondern Menschen, die Schwierigkeiten haben, mit ihrer Sexualität umzugehen, fühlen sich davon angezogen, weil sie hoffen, damit ihren Schwierigkeiten aus dem Weg gehen zu können.

Bleibt zu hoffen, dass die derzeitige öffentliche Auseinandersetzung tatsächlich etwas ändert!

Viele Grüße,

Jule

so am Rande
Hi HB,

Jules *würdige Antwort fasst das wesentliche zusammen.

Was ich beitragen möchte sind ein paar Nickeligkeiten.

In unserer Singlegesellschaft gibt es ja viele Menschen, die
aus unterschiedlichen Gründen weitestgehend ohne Sex leben.
Häufig oder meist unfreiwillig.

Leider ja, unsere Triebe und Instinkte sind halt - immer schon oder erst in unserer modernen Gesellschaft - nicht darauf hin ausgelegt, möglichst viel Zufriedenheit zu erzeugen.

Wenn ich das richtig wahrnehme, werden die aber nicht alle
übergriffig gegenüber Schwächeren oder Abhängigen, um sich Sex
zu verschaffen.

Viele Männer gegen in den Puff, und dort herrscht weit weniger Zwang als von den Medien verbreitet. DAS ist der normale Weg. Wenn jemand also Sex mit Abhängigen, gerade Minderjährigen hat, steht da nicht eine wirtschaftliche Überlegung dahinter, 50 oder 100 € für den Puff oder einen Stricher zu sparen, sondern ein psychisches Problem.

Priester aber haben sich doch bewusst entschieden, ein
zölibatäres Leben zu führen und sind sich doch des moralischen
Anspruchs in besonderer Weise bewusst.

Diese Menschen entscheiden sich „bewusst“ dafür, ein Lügengebäude der Realität vorzuziehen!! Und für mich ist eine Lüge nicht nur das Erzählen einer gewussten Unwahrheit, sondern auch das Erzählen einer unbegründeten Vermutung.

Wenn ich steue, Lehrer X hat was mit Schülerin Y, obwohl ich gar nichts d’rüber weiß, ist das für mich eine Lüge, auch wenn nicht 100 % sicher ist, dass sie nicht doch zufällig was miteinander haben.

Warum also wählen sie
nicht eine heimliche Geliebte, sondern vergreifen sich an den
Kindern aus ihrem Umfeld?

Das weiß ich auch nicht, vielleicht mal unter Psychologie fragen :wink:

Warum führt ein moralisch geprägter Beruf zu solch einer Form von Gewalt?

Tja, die Moral!! Manche haben so viel davon, dass man sogar von einer Doppelmoral spricht!!

Moral haben fast alle Menschen, ganz egal, an welchen Gott sie glauben, oder ob überhaupt. Und bei allen Lobhudeleien für den Glauben, ich kann mich seit Lebzeiten nicht an eine deutliche Aussage erinnern, Atheisten wären moralisch schlechter. Es wird immer nur auf die Bedeutung des Glaubens verwiesen.

Den Mut, Atheisten als unmoralisch zu bezeichnen, hat wohl niemand.

Warum führt das Leben innerhalb eines Extrems geradezu zu dem
genau gegenteiligen Extrem?

Weil das Extrem gar nichts zu bedeuten hat. Man widmet sich nicht einem so oder so geartetem Leben, sondern einer Lüge. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Lüge zeigt sich früher oder später in Gesprächen, sie schieben ihren „Glauben“ vor ihre Persönlichkeit. Das tun andere aber auch, etwas vorschieben, ihre Sucht, ihren Wahn, ihre Pflichterfüllung oder ihren Erfolg. Hüllen sind hat der Renner.

Aber von ihren Macken abgesehen, sind Priester wohl nicht besser oder schlechter als andere Menschen auch. Das einzige, was bitter aufstößt, sind die organisierten Vertuschungen durch kirchliche Organisationen. Und das damit verbundene in Kauf gekommene bis geplante Leid der Betroffenen. Vor einem halben Jahrhundert wurde privat auch meist vertuscht, aber die Lenker der Kirche sind studierte Menschen. DA darfst du Böswilligkeit voraussetzen.

Oder steht hier der Gewaltaspekt weniger im Vordergrund,
verglichen bspw. mit Vergewaltigung von Frauen, wo es
nachweislich eher um die Gewalt (das Eindringen in den Körper
des anderen) geht als um die Sexualität und den Abbau von
Trieben?

Da musst du auch unter Psychologie fragen, könnte nur spekulieren.

Mein Anliegen war, den Priesteberuf zu entzaubern. Nicht mehr und nicht weniger.

Gruß, Zoelomat

Hallo,

es gibt genug Geistliche, die mit der sexuellen Enthaltsamkeit gut umgehen können, und es gibt auch welche, die damit nicht umgehen können. Die haben aber 1001 Möglichkeit, ihre Bedürfnisse anders zu befriedigen, als ausgerechnet dadurch, dass sie sich unter Ausnutzung ihrer Position und des sich daraus ergebenden besonderen Vertrauensverhältnisses an Kinder und Jugendliche mit Gewalt heran machen. Der eine hat dann eben ein etwas innigeres Verhältnis zu seiner Pfarrhaushälterin, der andere die Freundin in der Nachbarstadt, ein Dritter nutzt gewerbliche Angebote, andere verfallen dem Suff, weil sie am eigenen Anspruch zerbrechen. Sicherlich gibt es auch einen nicht zu unterschätzenden Randbereich, in dem Seelsorge und Vertrauen zu weit gehen, Grenzen überschritten werden, … Aber da sollte man nicht von Gewalt sprechen, wenn sich aus emotional geladenen Situationen dann mehr ergibt. Der Mensch ist nun mal Mensch, auch wenn er den schwarzen Rock trägt. Da gibt es immer eine nicht unerhebliche Grauzone, wenn wir jetzt mal Kinder außen vor lassen.

ME wird eher umgekehrt ein Schuh draus. Menschen mit gewissen Neigungen suchen sich gezielt ein Umfeld, in dem sie diesen Neigungen besonders gut nachgehen können. Und da ist es nun mal viel interessanter Lehrer, Sport-Trainer, Reitlehrer, Arzt oder eben auch Priester zu werden, als Finanzbeamter, wenn man einen besonderen Hang zu Kindern und Jugendlichen hat. Und speziell der Zölibat in der katholischen Kirche bietet da natürlich noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Vorteil, nämlich die ausnahmsweise gegebene gesellschaftlichen Akzeptanz der Ehe-/Beziehungslosigkeit zu einem gleichaltigen Partner, die nicht gleich mit ggf. bestehenden Problemen im Umgang mit einem gleichrangigen Partner in Zusammenhang gebracht wird.

Gruß vom Wiz

Hallo Wiz,

ME wird eher umgekehrt ein Schuh draus. Menschen mit gewissen
Neigungen suchen sich gezielt ein Umfeld, in dem sie diesen
Neigungen besonders gut nachgehen können. Und da ist es nun
mal viel interessanter Lehrer, Sport-Trainer, Reitlehrer, Arzt
oder eben auch Priester zu werden, als Finanzbeamter, wenn man
einen besonderen Hang zu Kindern und Jugendlichen hat.

mir fallen dazu noch zwei Dinge ein, nicht als Widerspruch, sondern ergänzend. Ich hab ziemlich viel dazu gelesen, als damals die Veröffentlichungen begannen, und manches ist hängengeblieben.

Das erste ist, dass Leute, die Kinder/ Jugendliche sexuell reizvoll finden, nicht nur aus strategischen Gründen ihre Nähe suchen, sondern weil sie sie tatsächlich mögen und gern mit ihnen zusammen sind und gut mit ihnen können. Sie sehen sie als potentielle Partner und damit als gleichrangig. Solange es nicht zu Übergriffen kommt, ist das für Kinder und Jugendliche etwas sehr Anziehendes, sie fühlen sich ernstgenommen. Und werden es auch, allerdings werden sie eben auch in Bereichen für voll genommen, wo sie es noch nicht sind, und da wird dann ihre Selbstbestimmung untergraben. (Womit sie natürlich letztlich nicht ernstgenommen werden!) Dass sie die Täter doch eigentlich gern mögen/ mochten, macht es ihnen dann zusätzlich schwer.

Und das zweite, was mich damals sehr erstaunte: Es sind wohl die wenigsten Täter sexueller Gewalt gegen Kinder tatsächlich Pädophile. Meist seien es Leute, die eigentlich von Erwachsenen angezogen werden, aber aus irgendwelchen Gründen mit ihrem Sexualleben nicht zurechtkommen und dann auf Kinder „ausweichen“, weil sie die entsprechend beeinflussen können.

Ich kann leider keine Quellen mehr nennen, es ist zu lange her.

Viele Grüße,

Jule

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Danke!
Vielen Dank für die interessanten Antworten.

Es sind durchaus plausible Erklärungsansätze dabei, auf die ich so nicht gekommen wäre.

Danke!

Gruß, HuiBu