Liebe Sabine!
Ich arbeite gerade daran, J.-J. Rousseaus Theorien über die
Sprachentstehung und die Sprache selbst aus dem „Diskurs über
die Ungleichheit“ herauszuarbeiten.
Dabei soll ich einen Vergleich zu zeitgenössischen Ansichten
zu dem Thema machen und dabei besonders auf den linguistic
turn achten.
Ich habe nun beides erarbeitet, doch leider kann ich
Verbindungen zwischen den beiden Themen nur schwer finden…
Ich habe beim Googlen im Internet Aussagen gefunden, nach
denen Rousseau bereits damals schon einen linguistic turn
eingeleitet hätte. Wie das gemeint ist, stand jedoch leider
nicht dabei und ich bin gerade sehr ratlos…
Du bist vermutlich weit tiefer in dieser Thematik drin als ich im Moment, insofern kann ich wohl nur wenig beitragen, einige Stichpunkte vielleicht:
- ich würde den ‚linguistic turn‘ so definieren:
Bruch mit dem herkömmlichen Expressions-Schema der Sprache, also mit der Vorstellung, dass Sprache ein bloßes Mittel der Kommunikation sei, und dass sie vorsprachliche Gedanken bloß abbilden würde.
Meine Lektüre des ‚Discours sur l’inégalité‘ ist zu lange her, um mich an Elemente dazu in dieser Schrift erinnern zu können. Sicher sind mehr Ansätze dazu aber in Rousseaus ‚Essai sur l’origine des langues‘ zu finden. Vielleicht könnte dir diese Schrift einen besseren ersten Zugang bieten.
- Ich weiß, dass es umfangreiche, auch aktuelle, Literatur zu dieser Frage gibt, kann dir aber (ohne selbst suchen zu müssen) nur eine nicht so aktuelle, dafür sicher aber sehr hochwertige Quelle nennen:
Derrida, Grammatologie, Zweiter Teil
(hier setzt sich Derrida sehr intensiv und sehr anspruchsvoll mit Rousseau und dessen Gedanken zur Sprache auseinander, also genau mit deinem Thema, denn Derrida geht es hier ja auch um den ‚linguistic turn‘ bei Rousseau)
- ich hatte doch noch Muße und Pflichtgefühl genug gefunden, um im Discours zu blättern. Ich sehe einige Passagen darin, die einen klaren Bezug zum Thema des ‚linguistic turn‘ haben, z.B.:
-> Qu’on songe de combien d’idées nous sommes redevables à l’usage de la parole; Combien la Grammaire exerce, et facilite les operations de l’Esprit. (116)
-> … qui savent que quoique l’organe de la parole soit naturel à l’homme, la parole elle même ne lui est pourtant pas naturelle … (332)
Die Seitenangaben beziehen sich auf die Kritische Ausgabe des Discours von Heinrich Meier:
Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit - Discours sur l’inégalité, Edition Meier, UTB, 1997
Wohlgemerkt finden sich im Discours, so wie ich das im Moment überblicken kann, sehr viel mehr Belege, wie Rousseau die Sprache als „Expression“ denkt, aber eben auch solche wie die obigen.
Dieses historisch frühe (als Urvater des ‚linguistic turn‘ wird bekanntlich immer wieder Vico genannt, und es gibt m.W. deshalb auch Publikationen, die nachweisen wollen, dass Rousseau Vico gelesen hatte) Hin-und-Her-Kippen zwischen Sprache-als-Expression und Sprache-als-Zeichensystem-eigener-Ordnung ist ja offensichtlich das Interessante an diesem Text, und wohl auch das Aufzeigbare … quasi der ‚linguistic turn‘ in statu nascendi …
Viel Erfolg!
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