Gegenmeinung - oder auch nicht …
Liebe Jule,
aus eigener Erfahrung habe ich hier eine Gegenmeinung - oder auch nicht … Ich stimme Dir zu: Man sollte kein Kind zu irgendetwas Besonderem hochstilisieren, und man sollte um Hochbegabung auch keinen solchen Ballyhoo veranstalten, wie er heute leider üblich geworden ist. Noch weniger sollte man das Kind mit Ansprüchen überfordern. Das heißt aber nicht, daß es völlig sinnlos sein muß, mit dem Kind über das Ergebnis zu sprechen.
Ich wusste meine ganze Kindheit über, daß ich irgendie anders ticke als meine Mitschüler. Ich verstand manche Dinge völlig anders als sie. Dinge, die für meine Mitschüler „völlig klar“ waren, fand ich alles andere als klar. Dinge, die mir klar waren, waren anderen nicht klar. Ich tat Dinge, die scheinbar „blöd“ waren, weil mir als Kind bestimmtes Wissen fehlte - tatsächlich waren sie extrem stringent logisch gedacht, nur halt auf der Basis von falschen Wissen …
Ich fand Dinge lustig, die anderere nicht lustig fand, weil ich um drei Ecken gedacht hatte. Was ich sagte, fanden viele Leute dagegen blöd oder absurd oder abwegig, weil sie meinen Gedankensprüngen nicht folgen konnte. Ich hatte auch ganz andere Interessen als meine Mitschüler - versuche, das mit ihnen zu teilen, endeten im Desaster. Und ich habe mich immer, immer, immer gefragt, woran das liegt.
Die Antwort, die ich mir selber gab, war einfach: Du bist halt einfach zu blöd, taugst weniger als die anderen. Die anderen funktionieren richtig, und bei dir ist irgendwas falsch verlötet.
Meine Schulnoten haben das bestätigt - aus meiner damaligen Sicht war ich nur gut, solange der Stoff „leicht“ war, aber sobald es „schwierig“ wurde, wurde ich schlecht. Mir war nicht bewusst, mit was für einem minimalen Aufwand ich den angeblich „leichten“ Stoff bewältigt hatte und dass ich deshalb nie gelernt hatte, effektiv zu lernen, was mich beim „schwierigen“ Stoff auf die Schnauze fallen lies. Ich hielt mich halt einfach für zu blöd.
Als ich mich mit 25 aus einem Spaß heraus heraus mit einer Freundin zu einem IQ-Test angemeldet habe, tat ich das in dem Bewusstein, selbstbewusst genug zu sein, um es jetzt auch schwarz auf weiß zu bekommen, daß ich blöd bin. Die Antwort fiel etwas anders aus. Nachdem ich die Reste meiner Kinnlade vom Boden zusammengesammelt hatte, bin ich zum Mensa-Stammtisch gegangen. Ich machte einen Witz, und die Runde bog sich vor Lachen. Und endlich, endlich verstand ich, was eigentlich die ganzen Jahre losgewesen war.
Ich weiß nicht, ob es anders gekommen wäre, wenn ich es als Kind bereits gewusst hätte. Ein Mensch besteht aus mehr Facetten als aus seiner Intelligenz - jemand anderes als ich hätte vielleicht damit besser umngehen können. Meine Erfahrung lässt mich aber zumindest daran zweifeln, ob es wirklich ausgeschlossen ist, daß sich für das betroffene Kind etwas ändert, wenn es seine Hochbegabung kennt. Denn unter Umständen weiß es schon längst, daß es anders ist.
Ich glaube aber ohnehin nicht an Patentrezepte im Umgang mit Kindern. Fast alle Erziehungs- und Schulkonzepte kranken mE daran, daß sie nicht berücksichtigen, wie unterschiedlich Kinder sein können. Es gibt stille und laute und selbstbewusste und ängstliche Kinder, die ganz unterschiedlich auf ihr Umfeld reagieren.
Ich habe dafür keine Patentlösung. Die Gefahr, daß durch das Ergebnis dem Kind ein Stempel aufgedrückt wird, sehe ich wie Du. Ich sehe auch die Gefahr, daß Eltern ihr Kind nicht mehr Kind sein lassen, weil es ja jetzt hochbegabt ist. Ich ärgere mich über jeden Artikel, den ich zum Thema Hochbegabung lese, ganz egal, ob er nun positiv oder negativ ist. Die einen leugnen, daß es sowas wie Hochbegabung überhaupt gibt, und deswegen braucht man auch gar nicht drauf Rücksicht nehmen - die anderen stilisieren jeden zZweijahigen, der dreimal „Muh“ sagt, zum kleinen Einstein hoch. Beides ist Mist.
Ein wirklich hochintelligentes Kind ist weder ein kleiner Einstein noch ist es ein reines Statussymbol der Eltern. Es ist ein Mensch, der unter Umständen andere und besondere Bedürfnisse hat. Und unter Umständen sind diese Bedürfnisse so individuell, daß jedes Patentrezept scheitern muß.
Gruß,
Max
In Bezug auf AD(H)S und Hochbegabung mache ich diese
Beobachtung nicht. Ganz unabhängig davon, ob die
Diagnosenstellung nun falsch oder richtig ist, bleibt unterm
Strich eines festzustellen: Für das betroffene Kind ändert
sich in aller Regel nichts am Alltag.
Es wird weder anders unterrichtet (es sei denn, es besucht
eine Schule für Hochbegabte), noch kriegt es andere
Prüfungsbedingungen oder wirksame Therapien. Nach meiner
Erfahrung kriegt es in erster Linie eines: Einen Stempel. Und
fortan prangt auf seiner Stirn das Zeichen AD(H)S. Wenn es
Pech hat, prangt daneben der Stempel „Hochbegabt“.
Das Kind weiß nun Folgendes:
- Es ist irgendwie unnormal.
- Es kann nichts dafür, dass es so ist.
- Auf jeden Fall ist es etwas Besonderes
worauf
- folgt, dass es weder Möglichkeit noch Veranlassung gibt,
etwas zu ändern.
Wem also dient diese Diagnose-Jagd? Dem Kind? Kaum. Sein Leben
erfährt nur in den seltensten Fällen dadurch eine hilfreiche
Veränderung.
Und so können sich bestenfalls die Eltern damit trösten, dass
ihr leistungsschwaches Kind ja eigentlich ein kleiner Einstein
ist.
Deshalb mein Tipp: Rubble deinem Sohn die beiden Stempel
wieder von der Stirn. Er hat nichts davon - weder von dem
einen noch von dem anderen. Trainiere stattdessen mit ihm
Techniken, mit denen er in Prüfungssituationen zurechtkommt.
Arbeite dabei ausschließlich mit positiver Verstärkung. Bitte
den Lehrer, Prüfungsaufgaben mit Punkten zu versehen, so dass
die Kinder abschätzen können, welche Aufgaben mehr „bringen“.
Wenn dein Sohn lernt, erfolgreich zu kalkulieren, wieviel er
schaffen muss, um erfolgreich durchzukommen, hast du
unglaublich viel erreicht.
Bestehe auf eine gewisse Disziplin beim Lernen. Hilf deinem
Sohn, seine Arbeit in überschaubare Teilschritte zu zerlegen.
Kurz: Mach’ ihn fit für’s Überleben im Schulalltag. Es genügt
völlig, wenn ihr als Eltern euch bestimmte Mechanismen und
Zusammenhänge erklären könnt - euer Sohn muss vor allem eines
schaffen: Sich erfolgreich durch die Schule zu schlängeln.
Sprich deinem Sohn gegenüber nie mehr von seiner Hochbegabung,
bevor er das Abi (oder einen anderen Schulabschluss) gemacht
hat. Grund: Kinder, die von ihren Eltern suggeriert kriegen,
dass sie ja eigentlich ganz schlau sind, strengen sich nicht
mehr an. Sie unterliegen dem Irrtum, dass sie jederzeit
bessere Leistungen haben können, wenn sie nur wollen und
lernen nicht, für ihre Ziele systematisch zu arbeiten.
Ich habe unzählige Eltern in Krisengesprächen gehabt, die ihr
Kind mit den Worten beschrieben haben „Eigentlich könnte er
ja, wenn er nur wollte“. Abgesehen davon, dass das bei weitem
nicht auf jedes Kind zugetroffen ist, mussten auch die, für
die es vielleicht mal gestimmt hatte, oft die bittere
Erfahrung machen, dass es für das „Wollen“ schnell zu spät
sein kann, wenn man das Arbeiten zu lange schleifen lässt.
Schöne Grüße,
Jule