ALG II und das Zuflussprinzip

Liebe Experten,

A erhält zu Ende Juni die Kündigung und stellt einen Antrag auf ALG II. Die letzte Gehaltszahlung, die Ende Juni eingehen soll, trifft erst im Juli auf dem Konto des A ein. Mit der Begründung, dass es darum an der Bedürftigkeit mangele, lehnt die ARGE den Antrag für Juli ab. (Zuflussprinzip)

Das sonderbare Ergebnis: Hätte A sein Gehalt fristgerecht erhalten, hätte er für Juli zusätzlich noch ALG II bekommen. Durch die Verzögerung wird ihm dies für Juli aberkannt. Das beißt sich mit meinem Rechtsempfinden.

Ist dies tatsächlich die Rechtslage? ALG I soll bei der Betrachtung außen vor bleiben.

Gruß
Mevius

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Hi!

A erhält zu Ende Juni die Kündigung und stellt einen Antrag auf ALG II. Die letzte Gehaltszahlung, die Ende Juni eingehen soll, trifft erst im Juli auf dem Konto des A ein. Mit der Begründung, dass es darum an der Bedürftigkeit mangele, lehnt die ARGE den Antrag für Juli ab. (Zuflussprinzip)

Genau deswegen.

Das sonderbare Ergebnis: Hätte A sein Gehalt fristgerecht erhalten,

Also noch im Juni?!

hätte er für Juli zusätzlich noch ALG II bekommen.

Jepp.

Durch die Verzögerung wird ihm dies für Juli aberkannt. Das beißt sich mit meinem Rechtsempfinden.

Das hat hier aber nichts zu bedeuten. :smile:

Ist dies tatsächlich die Rechtslage?

Ja, siehe § 11 (1) S. 1 SGB II (http://bundesrecht.juris.de/sgb_2/__ 11.html) i. V. m. DA 11.5 (http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/A01-A…):
Laufende Einnahmen, die in Abständen von bis zu einem Monat anfallen[*], werden für den Monat berücksichtigt, in dem sie tatsächlich zufließen.

*) DA 11.6 : „Die Beurteilung, ob es sich bei Einkünften um „laufende Einnahmen“ handelt, richtet sich nach der Art der Vergütung, also danach, ob sie üblicherweise wiederkehrend geleistet wird. Deshalb ist das Arbeitsentgelt für den letzten Monat einer Beschäftigung unmittelbar vor der Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II als laufendes Einkommen und nicht als einmalige Einnahme im ersten Anspruchsmonat anzurechnen.

Die Rechtmäßigkeit des Zuflussprinzips wurde übrigens höchstrichterlich bestätigt: http://koeln-bonn.business-on.de/bundessozialgericht…

LG
Jadzia
*die sich schon freut :smiley: und sich auch etwas wundert, dass ausgerechnet Du so eine Frage stellst…*

Danke. Weißt du zufällig, ob das BVerfG schon Gelegenheit hatte, über diese Absurdität zu urteilen?

Weißt du zufällig, ob das BVerfG schon Gelegenheit hatte, über diese Absurdität zu urteilen?

M. W. nicht. Jedenfalls gibt weder mein Gedächtnis etwas Entsprechendes her noch habe ich solches in Inter- und Intranet gefunden.

Aufgrund der Tatsache, dass ich hier (glaube ich; ganz sicher bin ich mir nicht…) ein anderes Rechtsempfinden habe als Du sowie aufgrund der bereits ergangenen BSG-Urteils (was, wie ich natürlich weiß, nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss), neige ich jedoch dazu zu meinen, dass das BVerfG das Zuflussprinzip als verfassungskonform einstufen würde.

LG

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Deine Argumentation finde ich, nicht böse gemeint, recht putzig. Wenn das BVerfG immer dann die Verfassungsmäßigkeit annimmt, wenn ein Bundesgericht etwas entschieden hat, können wir die Urteilsverfassungsbeschwerde ja abschaffen. Da im Übrigen der Rechtsweg erschöpft sein muss, will man eine Verfassungsbeschwerde zulässigerweise erheben, kann die Verfassungsbeschwerde eigentlich sogar fast ganz abgeschafft werden. Richtig ist allerdings, dass die meisten Verfassungsbeschwerden nicht einmal zur Entscheidung angenommen werden, und noch weniger Verfassungsbeschwerden wird stattgegeben. Wer eine Verfassungsbeschwerde erhebt, muss wissen, dass er voraussichtlich verliert.

Da du zwischen den Zeilen mitteilst, dass dein Rechtsempfinden die Rechtslage durchaus angemessen findet, und da ich davon ausgehe, dass du dafür einen guten Grund hast, würde ich mich freuen, von dir zu lernen. Vielleicht kannst du mir erklären, was an dem gerecht sein soll, was ich gleich beispielhaft aufführe. Dabei solltest du dich aber nicht auf den Gedanken beschränken, ich würde das Zuflussprinzip als solches und per se und immer für falsch halten. Bitte erklär mir die Gerechtigkeit doch an dem Beispiel; du darfst dabei gern auf die mir nicht bekannte Urteilsbegründung des BSG und auf sonstige Quellen zurückgreifen, an denen ich nebenbei erwähnt sehr interessiert bin. Meine Bedenken beziehen sich allerdings weniger auf das einfache Gesetz als auf die Gerechtigkeit und, hier wichtiger, auf das Verfassungsrecht.

Nun ein Beispiel (Erweiterung des Beispiels von eben):

A verdient 800 Euro netto. Das Gehalt geht am Ende des Monats auf dem Konto ein, er lebt also im Folgemonat davon. Zu Ende Juni erhält er die Kündigung. Sein Gehalt verzögert sich nun, die Gutschrift auf dem Konto erfolgt erst Mitte Juli. Die ersten beiden Juli-Wochen zu überbrücken fällt schwer, das ist aber natürlich nicht die Schuld des Staates. Anfang August nimmt A eine neue Arbeit auf.

Der Antrag auf ALG II (Aufstockung) wird abgelehnt, weil A im Juli Gehalt bekommen hat. Davon musste er allerdings im Juli schon leben. Er hat auch die zwei Wochen nur mit einem Kredit überbrücken können. Das nächste Gehalt kommt wieder erst am Ende des entsprechenden Monats, also Ende August. Die Frage ist also: Wovon soll A im August leben?

Nun könnte man sagen, dass das ALG II ja für Juni ist und nicht für August. Das ergibt aber deswegen keinen Sinn, weil es ja erst Ende Juni ausgezahlt wird. Überbrückt werden muss die Zeit also irgendwie, in diesem Beispiel mit einem Kredit. Wovon soll A den nun zurückzahlen?

Kurz und gut: Wieso ist es gerecht, wenn A bei rechtzeitiger Gehaltszahlung (30. Juni) mehr Geld vom Staat bekommt als bei verspäteter Zahlung? Die Beträge und die Zeiträume, für die diese reichen müssen, sind doch dieselben. A hat, wenn er das Gehalt verspätet bekommt, deswegen nicht mehr.

Das ist auch eines der beiden rechtlichen Argumente, die mir einfallen. Ich sehe für diese Ungleichbehandlung einfach keinen sachlichen Grund, und Gleiches ungleich zu behandeln, ohne einen sachlichen Grund zu haben, ist nun einmal verfassungswidrig. Das andere ist das Sozialstaatprinzip: A wird für einen Monat völlig hängen gelassen, ganz gleich, ob er dann für den nächsten Monat ALG II bekommt oder wieder einen Job hat oder was auch immer. Was genau soll A denn machen, wenn er das Gehalt für Juni im Juli ganz normal aufbraucht und das nächste mal erst Ende August Geld bekommt? Wo siehst du die sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung? Wo ist der Mindestbedarf gesichert? Ich verstehe gar nicht, dass dir das nicht sofort ins Auge springt, aber umso gespannter bin ich, ob du eine Erklärung liefern wirst, die mich befriedigt.

Zur Veranschaulichung noch mal:

Variante 1: Gehalt rechtzeitig

Juni: A lebt vom Gehalt für Mai
Juli: A lebt vom Gehalt für Juni
August: A lebt vom ALG II für Juli
September: A lebt vom Gehalt (oder ALG II) für August

Variante 2: Gehalt verspätet

Juni: A lebt vom Gehalt für Mai
Juli: A lebt vom Gehalt für Juni
August: A hat nichts zum Leben
September: A lebt vom Gehalt (oder ALG II) für August

Und nun überlasse ich dir das Feld!

Mevius

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PS
Die Logik und Gerechtigkeit scheint sich daraus zu ergeben, dass A für den nächstne Monat - bis zur ersten Gehaltszahlung nämlich - ALG II beantragen kann. Darauf muss man erst mal kommen. Wer diesen Antrag versäumt, hat dann wohl Pech gehabt. Auch wieder ungerecht.

Ergänzungsfrage
Offenbar kann A für August Grundsicherung beantragen. Muss er auch ALG I beantragen, oder geht das nicht, weil er einen Job hat?

Deine Argumentation finde ich, nicht böse gemeint, recht putzig.

Ich bin putzig. :wink:

Wenn das BVerfG immer dann die Verfassungsmäßigkeit annimmt, wenn ein Bundesgericht etwas entschieden hat, können wir die Urteilsverfassungsbeschwerde ja abschaffen.

Deswegen schrieb ich ja auch:

sowie aufgrund der bereits ergangenen BSG-Urteils (was, wie ich natürlich weiß, nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss ),

Klar, dass man das BVerfG sonst nicht brauchen würde… Das ist mir schon bewusst. Hätte ich vielleicht noch deutlicher machen müssen.

Da du zwischen den Zeilen mitteilst, dass dein Rechtsempfinden die Rechtslage durchaus angemessen findet,

Nein, ich schrieb ausdrücklich (nicht zwischen den Zeilen :smile:, dass ich glaube, dass mein Rechtsempfinden die Rechtslage für angemessen hält.

und da ich davon ausgehe, dass du dafür einen guten Grund hast,

Wenn meine intuitives Empfinden ein guter Grund für Dich ist, hast Du Recht. :smile:

würde ich mich freuen, von dir zu lernen.

Da muss ich Dich leider enttäuschen. Denn ehrlich gesagt muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich mir rein rational über die Rechtmäßigkeit bislang kaum Gedanken gemacht habe. Meine Einschätzung erfolgt lediglich rein gefühlsmäßig – was durchaus bedeuten kann, dass ich, wenn ich mich mit der Sache auf sachlicher Ebene beschäftigen würde, zu der Einschätzung gelangen könnte, dass ich mit meiner intuitivem Einschätzung völlig daneben liege! (Mein „intuitives Spezialgebiet“ ist eher die Menschenkenntnis.)

Bitte erkläre mir die Gerechtigkeit doch an dem Beispiel; du darfst dabei gern auf die mir nicht bekannte Urteilsbegründung des BSG und auf sonstige Quellen zurückgreifen, an denen ich nebenbei erwähnt sehr interessiert bin.

Das, was mir an Urteilen bekannt oder unbekannt ist, hatte ich Dir ja bereits genannt. Darüber hinaus sage ich Dir ganz ehrlich: Ich habe irgendwie so gar keine Lust, mich in meiner Freizeit mit (mir im Übrigen relativ verhassten :smile: SGB-II-Themen zu beschäftigen, mit denen ich aus beruflichen Gründen nur sehr rudimentär auskenne (bin SGB III, womit ich mich in meiner Freizeit übrigens sehr gerne beschäftige).
Ich hatte Dir meine intuitive Einschätzung zur Rechtmäßigkeit mitgeteilt, ohne zu ahnen, dass das dazu führen würde, dass Du fachlich ins Detail gehen möchtest. Sonst hätte ich das nämlich verschwiegen. :smile:

Nun ein Beispiel (Erweiterung des Beispiels von eben):

Tut mir leid, dass Du Dir so viel Mühe damit gemacht hast!

Und nun überlasse ich dir das Feld!

Und tut mir leid, dass ich das Thema nicht vertiefen will. (Und nein: Ich halte das nicht für „Drücken“, sondern tatsächlich für „Keine-Lust-haben“, wenn auch u. a. deswegen, weil ich fachlich nicht wirklich Ahnung davon habe. :smile:

Ich hoffe, Du bist mir deswegen nicht böse.

LG
Jadzia

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Offenbar kann A für August Grundsicherung beantragen.

Wie kommst Du denn jetzt auf Grusi?? Oder meinst Du damit Alg II?

Muss er auch ALG I beantragen,

Endlich „mein“ Gebiet! :smile:

Also „müssen“ schon mal gar nicht. Niemand ist dazu verpflichtet, Alg I zu beantragen.
Darüber hinaus ist Alg I vorrangig vor Alg II, nicht umgekehrt.

oder geht das nicht, weil er einen Job hat?

Exakt. Voraussetzung für den Bezug von Alg I ist u. a., dass man beschäftigungslos ist. Sowas wie aufstocken (wie beim Alg II) gibt’s hier nicht (und gab’s auch nie).

Eine Ausnahme wäre Teil-Alg. Das kann man bekommen, wenn man parallel zwei sv-pflichtige(!) Jobs hatte und einen davon verliert. Für diesen kann man dann als „Ersatz“ Teil-Alg beziehen (siehe http://bundesrecht.juris.de/sgb_3/__150.html).

LG
Jadzia

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Das mit den Leistungen habe ich von dem Text, den du verlinkt hast:

http://koeln-bonn.business-on.de/bundessozialgericht…

(Ganz unten).

Ich habe jetzt verstanden, dass A für August ALG II beantragen kann. Kann bzw. muss er zusätzlich ALG I beantragen? Nein, richtig?

Das mit den Leistungen habe ich von dem Text, den du verlinkt
hast:
http://koeln-bonn.business-on.de/bundessozialgericht…

Ah, okay, da steht der Plural „Grundsicherungsleistungen“. Das ist der oftmals im Amtsdeutsch verwendete Oberbegriff für Alg II, Sozialgeld, Sozialhilfe (auch Hilfe zum Lebensunterhalt (HzL) genannt) sowie Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grusi).

Zwar kann dieses Konglomerat auch mit dem Oberbegriff „Grundsicherung“ bezeichnet werden, jedoch meint man mit „Grundsicherung“ in der Regel die Alters- und EM-Grusi. Deswegen meine Nachfrage.

Ich habe jetzt verstanden, dass A für August ALG II beantragen kann. Kann bzw. muss er zusätzlich ALG I beantragen? Nein, richtig?

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich noch dazu sagen soll, als meine erste Antwort auf diese Frage. (Testest Du mich?)

Solange man sv-pflichtig beschäftigt ist (außer in zwei parallelen Teilzeitbeschäftigungen, von denen eines beendet wird (was mir in 8 Jahren genau 2x untergekommen ist)), hat man keinen Anspruch auf (Teil-)Alg I. Aufgrund der Tatsache, dass man nicht (teil)arbeitslos ist, kann man (zumindest in der Praxis) noch nicht mal einen Antrag auf Alg stellen, da die elementare Voraussetzung dafür nicht erfüllt ist.

Alle Klarheiten beseitigt? :smile:

LG
Jadzia

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