Deine Argumentation finde ich, nicht böse gemeint, recht putzig. Wenn das BVerfG immer dann die Verfassungsmäßigkeit annimmt, wenn ein Bundesgericht etwas entschieden hat, können wir die Urteilsverfassungsbeschwerde ja abschaffen. Da im Übrigen der Rechtsweg erschöpft sein muss, will man eine Verfassungsbeschwerde zulässigerweise erheben, kann die Verfassungsbeschwerde eigentlich sogar fast ganz abgeschafft werden. Richtig ist allerdings, dass die meisten Verfassungsbeschwerden nicht einmal zur Entscheidung angenommen werden, und noch weniger Verfassungsbeschwerden wird stattgegeben. Wer eine Verfassungsbeschwerde erhebt, muss wissen, dass er voraussichtlich verliert.
Da du zwischen den Zeilen mitteilst, dass dein Rechtsempfinden die Rechtslage durchaus angemessen findet, und da ich davon ausgehe, dass du dafür einen guten Grund hast, würde ich mich freuen, von dir zu lernen. Vielleicht kannst du mir erklären, was an dem gerecht sein soll, was ich gleich beispielhaft aufführe. Dabei solltest du dich aber nicht auf den Gedanken beschränken, ich würde das Zuflussprinzip als solches und per se und immer für falsch halten. Bitte erklär mir die Gerechtigkeit doch an dem Beispiel; du darfst dabei gern auf die mir nicht bekannte Urteilsbegründung des BSG und auf sonstige Quellen zurückgreifen, an denen ich nebenbei erwähnt sehr interessiert bin. Meine Bedenken beziehen sich allerdings weniger auf das einfache Gesetz als auf die Gerechtigkeit und, hier wichtiger, auf das Verfassungsrecht.
Nun ein Beispiel (Erweiterung des Beispiels von eben):
A verdient 800 Euro netto. Das Gehalt geht am Ende des Monats auf dem Konto ein, er lebt also im Folgemonat davon. Zu Ende Juni erhält er die Kündigung. Sein Gehalt verzögert sich nun, die Gutschrift auf dem Konto erfolgt erst Mitte Juli. Die ersten beiden Juli-Wochen zu überbrücken fällt schwer, das ist aber natürlich nicht die Schuld des Staates. Anfang August nimmt A eine neue Arbeit auf.
Der Antrag auf ALG II (Aufstockung) wird abgelehnt, weil A im Juli Gehalt bekommen hat. Davon musste er allerdings im Juli schon leben. Er hat auch die zwei Wochen nur mit einem Kredit überbrücken können. Das nächste Gehalt kommt wieder erst am Ende des entsprechenden Monats, also Ende August. Die Frage ist also: Wovon soll A im August leben?
Nun könnte man sagen, dass das ALG II ja für Juni ist und nicht für August. Das ergibt aber deswegen keinen Sinn, weil es ja erst Ende Juni ausgezahlt wird. Überbrückt werden muss die Zeit also irgendwie, in diesem Beispiel mit einem Kredit. Wovon soll A den nun zurückzahlen?
Kurz und gut: Wieso ist es gerecht, wenn A bei rechtzeitiger Gehaltszahlung (30. Juni) mehr Geld vom Staat bekommt als bei verspäteter Zahlung? Die Beträge und die Zeiträume, für die diese reichen müssen, sind doch dieselben. A hat, wenn er das Gehalt verspätet bekommt, deswegen nicht mehr.
Das ist auch eines der beiden rechtlichen Argumente, die mir einfallen. Ich sehe für diese Ungleichbehandlung einfach keinen sachlichen Grund, und Gleiches ungleich zu behandeln, ohne einen sachlichen Grund zu haben, ist nun einmal verfassungswidrig. Das andere ist das Sozialstaatprinzip: A wird für einen Monat völlig hängen gelassen, ganz gleich, ob er dann für den nächsten Monat ALG II bekommt oder wieder einen Job hat oder was auch immer. Was genau soll A denn machen, wenn er das Gehalt für Juni im Juli ganz normal aufbraucht und das nächste mal erst Ende August Geld bekommt? Wo siehst du die sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung? Wo ist der Mindestbedarf gesichert? Ich verstehe gar nicht, dass dir das nicht sofort ins Auge springt, aber umso gespannter bin ich, ob du eine Erklärung liefern wirst, die mich befriedigt.
Zur Veranschaulichung noch mal:
Variante 1: Gehalt rechtzeitig
Juni: A lebt vom Gehalt für Mai
Juli: A lebt vom Gehalt für Juni
August: A lebt vom ALG II für Juli
September: A lebt vom Gehalt (oder ALG II) für August
Variante 2: Gehalt verspätet
Juni: A lebt vom Gehalt für Mai
Juli: A lebt vom Gehalt für Juni
August: A hat nichts zum Leben
September: A lebt vom Gehalt (oder ALG II) für August
Und nun überlasse ich dir das Feld!
Mevius