Antike Skepsis

Ich suche von den guten Philologen unter Euch Zitatnachweise zu den folgenden zwei Behauptungen:

(A) Wo genau sagt Karneades, daß ein Zirkel in der Erkenntnis entsteht weil die Möglichkeit des Beweises selbst erst bewiesen werden müsse?
Gibt es dazu ein Zitat bei Diogenes Laertius oder ein anderes Fragment?

(B)
Außerdem suche ich den Orginaltext / Fragment zu der These des Anesidem, das man für die Festlegung des Kriteriums der Erkenntnis wiederum ein Kriterium braucht.

Ich wäre dankbar für genaue Hinweise auf Bücher mit Seitenzahlen. Ich möchte, wie gesagt, diese Thesen hier nicht inhaltlich diskutieren, sondern nur wissen w o g e n a u ich sie nachlesen kann.

Mit Dank,

Tim

Ich möchte, wie gesagt, diese Thesen hier nicht
inhaltlich diskutieren, sondern nur wissen w o g e n a u ich
sie nachlesen kann.

http://www.philothek.de/cgi-bin/books.cgi

versuchs da.
Gruß
Frank

Hallo Tim,

(A) Wo genau sagt Karneades, daß ein Zirkel in der Erkenntnis
entsteht weil die Möglichkeit des Beweises selbst erst
bewiesen werden müsse?
Gibt es dazu ein Zitat bei Diogenes Laertius oder ein anderes
Fragment?

Meiner Kenntnis nach sind von Karneades selbst keine Texte erhalten. Es sind mir auch keine Reportationen bekannt. Es kann allerdings sein, dass die unten erwähnten Tropen in der späteren Rezeptionsgeschichte (und da kenne ich mich jetzt wirklich nicht besonders aus…) sowohl Karneades als auch Aenesidemus zugeschrieben wurden…

(B)
Außerdem suche ich den Orginaltext / Fragment zu der These des
Anesidem, das man für die Festlegung des Kriteriums der
Erkenntnis wiederum ein Kriterium braucht.

Ainesidemos’ Werke sind nicht im Original erhalten, allerdings bei Photius reportiert (Bibliotheca 212 a., Pyrrhonneia in R. Henry (Hrsg.), Photius, Bibliothèque Tome I, Paris 1959, XLVIII-L. Ich kenne leider keine deutsche Übersetzung…).
Zu weiteren Informationen bezgl. Photius http://www.bautz.de/bbkl/p/photius_v_k.shtml
und einem Teil der Bibliotheca (212 ist leider nicht dabei): http://www.tertullian.org/fathers/photius_01toc.htm

Es gibt allerdings bei DL eine Stelle in der Beschreibung des Pyrrhon, bezogen auf die zehn Tropen und den fünf Zugaben von Agrippa (IX. 88-89):

Agrippa indes fügt diesen zehn Tropen noch fünf andere hinzu, deren erster sich bezieht auf den Widerstreit der Ansichten, der zweite auf den unendlichen Regressus, der dritte auf die Verhältnismässigkeit alles Vorstellens, der vierte auf die unbewiesene Voraussetzung, der fünfte auf den Zirkel im Beweis. Der erste legt dar, dass jede bei den Philosophen oder im gewöhnlichen Leben erörterte Frage geradezu strotzt von Anlässen zu Streit und Verwirrung; der Regress ins Unendliche aber lässt es zu keiner festen Begründung des Gesuchten kommen, weil jedes Glied des Beweises immer erst wieder von dem folgenden seine Beglaubigung empfängt und so fort ins Unendliche; die Verhätnismässigkeit ferner besagt, dass nichts an und für sich genommen wird, sondern immer nur in Beziehung auf ein anderes, weshalb es denn unerkennbar ist. Der Tropus nach der unerwiesenen Voraussetzung sodann gründet sich darauf, dass manche meinen, die ersten Gründe der Dinge müsste man unmittelbar hinnehmen als beglaubig t und dürfe keine Beweise dafür fordern - eine Ungereimtheit, denn man kann ebensogut das Gegenteil zur Voraussetuung machen. Endlich um den auf den Zirkelbeweis bezüglichen Tropus handelt es sich dann, wenn das, was als Beweismittel für die gesuchte Sache dienen soll, der Beglaubigung eben durch das Gesuchte bedarf…
[Meiner Ausgabe des Diogenes Laertius, 1998, p.206]

Ich wäre dankbar für genaue Hinweise auf Bücher mit
Seitenzahlen. Ich möchte, wie gesagt, diese Thesen hier nicht
inhaltlich diskutieren, sondern nur wissen w o g e n a u ich
sie nachlesen kann.

Hoffe geholfen zu haben.
Your humble servant :wink:)

Y.-

Hallo Tim
A und B klingen ja gleichermaßen schrecklich! Wenn solche Hirnwi- äh Fragen die Philosophie bestimmten, dann würde keine Sau mehr Philosophie studieren wollen. Ich hoffe, Du mußt Dich nicht allzu oft und allzu lange mit SOWAS rumplagen!
Gruss, Branden

Quellen
Hallo,

(A) Wo genau sagt Karneades, daß ein Zirkel in der Erkenntnis
entsteht weil die Möglichkeit des Beweises selbst erst
bewiesen werden müsse?

Ueberweg (12. Aufl., S. 468) gibt als Quelle Sextus Empiricus (Adv. math. 7, 159) an. Die Fragmente sind gesammelt herausgegeben von Wisniewski (Karneades, Fragmente, Wroclaw 1970). Da müsstest du fündig werden.

Gibt es dazu ein Zitat bei Diogenes Laertius oder ein anderes
Fragment?

Diogenes Laertius ist weder für Karneades noch für Ainesidem ergiebig, zumal sehr unzuverlässig. Ich habe ihn nach Index durchgesehen und nichts Interessantes gefunden.

Außerdem suche ich den Orginaltext / Fragment zu der These des
Anesidem, das man für die Festlegung des Kriteriums der
Erkenntnis wiederum ein Kriterium braucht.

Das ist etwas schwieriger, aber im Prinzip gibt es zwei Quellen, nämlich Photios und Sextus Empiricus. Photios ist relativ leicht zu durchsuchen, wenn man die Ausgabe hat: Photios, The Library of Photios, ed. J. H. Freese, London 1920 (griech./engl. m. Komm.).
Von Ainesidem findet sich vielleicht etwas in den „Pyrrhoneioi logoi“ von Photios.

Für Sextus Empiricus ist als Stelle bei Ueberweg „Adv. math. 7, 159“ angegeben, aber das kann ich gerade nicht überprüfen.

wissen w o g e n a u ich sie nachlesen kann.

Genauer geht es leider nicht, weil ich die Ausgaben nicht besitze, nur D. L., und der ist ja wie gesagt unergiebig. Aber vielleicht helfen dir die Angaben ja weiter.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Nachtrag zu Sextus Empiricus
Guten Abend allerseits,

ich liefere hier noch die Stelle bei Sextus Empiricus nach, in der die Erklärung der erwähnten Ainesidemos-Tropen auftaucht:
Grundriss der Pyrrhonischen Skepsis I, 179-85 (bei Suhrkamp, 1968, p. 133-135)

[179: Trope der Zurückhaltung] Aus diesem Grunde gestehen sie [Y: die Dogmatiker] auch nicht zu, dass etwas aus etwas anderem erkannt wird. Wenn nämlich das, aus dem etwas erkannt wird, immer aus etwas anderem erkannt werden muss, so gerät man in die Diallele oder den unendlichen Regress. Möchte man aber etwas, aus dem etwas anderes erkannt wird, als aus sich selbst erkannt annehmen, so widersteht dem, dass wegen des oben Gesagten nichts aus sich selbst erkannt wird. Wie jedoch das Widersprüchliche entweder aus sich selbst oder aus etwas anderem erkannt werden könnte, sehen wir keinen Weg, solange sich das Kriterium der Wahrheit oder der Erkenntnis nicht zeigt und die Zeichen, auch abgesehen vom Beweis, widerlegt werden, wie wir im folgenden noch sehen werden. (…) etc.etc.

Viel Spass weiterhin…

Y.-

Vielen Dank!
Hallo Philosophen und Philologen,

das hätte ich ja nicht erwartet, so schnell so viele hilfreiche Antworten zu erhalten. Ich werde mir den Artikelbaum abspeichern und den Hinweisen weiter nachgehen. Vor allem Überweg scheint mir eine interessante Quelle zu sein - ebenso wie Sextus. In der Tat war D.L. nicht so ergiebig.

Vielen Dank Frank, Branden, Yseult und Thomas für die schnelle und kompetente Hilfe,

Tim.

andere Ansicht
Hallo Branden,

A und B klingen ja gleichermaßen schrecklich! Wenn solche
Hirnwi- äh Fragen die Philosophie bestimmten, dann würde keine
Sau mehr Philosophie studieren wollen.

da bin ich anderer Ansicht. Gerade solche Fragen sind es, die die Philosophie interessant machen (z. B. auch für die Begründung von Wissenschaften). Ein Problem ergibt sich nur, wenn man diese Fragen ignoriert. Natürlich darf man bei diesen Fragen nicht stehen bleiben, aber durch sie hindurch muss man schon, denn sonst hängt man ein bisschen naiv in der Praxis herum :smile: .

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas Miller
Natürlich darf man bei

diesen Fragen nicht stehen bleiben, aber durch sie hindurch
muss man schon, denn sonst hängt man ein bisschen naiv in der
Praxis herum :smile: .

Findest Du ? Das erinnert mich an meinen Lateinunterricht von 1960: „Per aspera ad astra“. Nun ja, vielleicht bin ich deshalb nicht zu einem kontinuierlichen Philosophiestudium zu verführen/begeistern gewesen und habe nur sehr nach Lust und Laune gehört und gelesen. Wie Du ja schon weißt aus früheren Dialogen, bin ich bei den „trockeneren“ Stellen schnell abgeschreckt oder abgenervt. Es wäre also auch ganz schön hart gewesen, dieses Studium kontinuierlich durchzugehen und durchzustehen…andererseits könnte man über Medizin an DIESER Stelle (also was trockenes, hartes Lernen und Denken betrifft) ähnliches sagen. Interessant für mich selber in diesem Zusammenhang, dass ich mich inzwischen hier im Ressort Philosophie weit mehr aufhalte als im Ressort Medizin. (Psychologie liegt irgendwie dazwischen.) Stand dieser Witz eigentlich neulich hier?: Unterschied zwischen Philosoph und Mediziner: Man gibt beiden ein Telefonbuch und sagt: Auswendiglernen! Der Philosoph fragt „Warum?“, der Mediziner „Bis wann?“
Es grüßt Dich ebenso herzlich Branden

zwei Einwände
Hallo Branden,

Nun ja, vielleicht bin ich
deshalb nicht zu einem kontinuierlichen Philosophiestudium zu
verführen/begeistern gewesen und habe nur sehr nach Lust und
Laune gehört und gelesen. Wie Du ja schon weißt aus früheren
Dialogen, bin ich bei den „trockeneren“ Stellen schnell
abgeschreckt oder abgenervt.

da hätte ich zwei Einwände.

Der erste beträfe die Kontinuität eines Studiums. Ich denke nicht, dass du jemanden in Medizin examinieren lassen würdest, der meint, sich den Anatomiekurs sparen zu können, weil er zu blutig ist, oder? So ist es natürlich in jedem Fach und selbstverständlich auch in der Philosophie. Man muss die grundlegenden Möglichkeiten des Denkens - soweit sie bisher gedacht worden sind - schon kennen, und dazu gehört eben auch die fundamentale Skepsis ganz wesentlich. Und wenn man eben ohne richtiges Studium der Logik gleich in die dialektische Logik Marx’scher Prägung springt (und damit die Logik als falsch schon voraussetzt), dann ist es kein Wunder, wenn man zu unlogischen Ergebnissen kommt.

Als Zweites würde ich einwenden, dass selbst Logik nicht unbedingt trocken sein muss. Man kann natürlich alles übertreiben, aber man kann auch an allem Freude finden wie z. B. an mathematischen Beweisen. „Trocken“ heißt meistens ja nichts anderes, als dass der Gegenstand gegen das eigene Interesse gerichtet ist, und dieses Interesse kann man lernen, denke ich, sofern man einsieht, wozu etwas nützt. Wenn man weiß, dass die eine oder andere psychische Störung organisch bedingt ist, dann wird doch sofort klar, warum auch Psychiater Anatomie im Curriculum haben, nicht?

Witz

Den hatte ich schon im Psychologiebrett gelesen, glaub ich. Hat mir gefallen. :smile:

Herzliche Grüße

Thomas Miller

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lIEBER tHOMAS,
„Trocken“ heißt meistens ja

nichts anderes, als dass der Gegenstand gegen das eigene
Interesse gerichtet ist

Das finde ich einen durchaus spannenden Aspekt, den Du da ins Spiel bringst! Natürlich „muss“ ich als Psychoanalytiker an dieser Stelle sofort einen Mment lang stehenbleiben und „gucken“, was da los ist. Inwiefern ist dieses Gegenstand gegen mein Interesse gerichtet oder auch: warum richtet sich mein Interesse gegen den Gegenstand? Das wäre es bei jedem Fall doch wert, untersucht zu werden, oder?
Nun, im von Dir angesprochenen konkreten Fall meiner ABNEIGUNG GEGEN DIE MATHEMATIK…ich bin ja auch nicht mit dieser Abneigung georen worden. Diese Abneigung wuchs im Laufe meiner Schulzeit AM GEGENSTAND DER MTHEMATIK, wenn Du so willst. (Das ist jetzt eine Redensart, eigentlich falsch, denn DU WILLST ES JA NICHT SO, sondern ich.)
Klar, man hier auch wieder unterteilen in a) die Art und Weise, wie mir von Lehrern Mathe "nahe"gebracht wurde und b) eine echte Ent-täuschung an der Mathematik wegen ihr zum Teil verleugneten, aber nichtsdestotrotz deutlich sichtbaren Schwächen.
Aber das führt uns jetzt zu weit weg von der Philosophie, und die habe ich als Ganzes ja viel, viel lieber!
Gruss, Branden

Anders rum…
Gehts auch…

Hallo Branden,

erklär mir doch bitte mal kurz, was denn das Ausgangspost mit der Frage nach dem argumentativen Zirkel (der im viziösen Zirkel enden kann) mit Mathe zu tun hat?
Ausser der Tatsache, dass Du scheinbar alles, was Dir nicht behagt über Stock und Stein mit der Dir (und mir) verhassten Mathe in Bezug bringen willst? Na?

Inwiefern ist dieses Gegenstand
gegen mein Interesse gerichtet oder auch: warum richtet sich
mein Interesse gegen den Gegenstand? Das wäre es bei jedem
Fall doch wert, untersucht zu werden, oder?

Meine Rede… Erkenntnistheorie hat in den wenigsten Fällen was mit Mathe zu tun.

Aber das führt uns jetzt zu weit weg von der Philosophie, und
die habe ich als Ganzes ja viel, viel lieber!

Nein, es führt uns mitten hinein.

Gruss

Y.-

btw sogar …

Aber das führt uns jetzt zu weit weg von der Philosophie, und
die habe ich als Ganzes ja viel, viel lieber!

Nein, es führt uns mitten hinein.

Nicht nur das, sondern sogar auch mitten hinein in die Praxis psychotherapeutischer Interaktion :smile:

Gruß

Metapher

PS: schön, daß du mal wieder auftauchst :smile:

Hallo Y
erklär mir doch bitte mal kurz, was denn das Ausgangspost mit
der Frage nach dem argumentativen Zirkel (der im viziösen
Zirkel enden kann) mit Mathe zu tun hat?

Da bin ich jetzt nicht ganz der richtige Ansprech-Partner, denn wenn Du hoch scrollst und aufmerksam nachliest, siehst Du, dass Thomas Miller auf Mathematik zu sprechen kam, als er über Logik sprach.
Vielleicht hattest Du noch den anderen Dialog im anderen Brett im Ohr respektive im Auge und hast das jetzt akut auf mich projiziert.
Gruss, Branden

Hallo Metapher
Was meinst Du damit? Kannst Du mir beides erklären?
Gruss, Branden

… wird doch ein Schuh draus.
Hallo Branden,

Da bin ich jetzt nicht ganz der richtige Ansprech-Partner,

Ich hab die Frage aber an Dich gestellt, denn, und ich darf doch kurz Deine ursprüngliche Antwort an Tim zitieren, Du meintest doch:

A und B klingen ja gleichermaßen schrecklich! Wenn solche
Hirnwi- äh Fragen die Philosophie bestimmten, dann würde keine
Sau mehr Philosophie studieren wollen. Ich hoffe, Du mußt Dich
nicht allzu oft und allzu lange mit SOWAS rumplagen!

Von wegen Aversions- oder Antipathieprojektion, klingelts? :wink:

Vielleicht hattest Du noch den anderen Dialog im anderen Brett
im Ohr respektive im Auge und hast das jetzt akut auf mich
projiziert.

Nicht wirklich, aber Deine oben angeführte Formulierung hat mir mindestens soviel Kopfschütteln abgerungen, wie der andere Thread.
Dass Du Erkenntnistheorie als Hirnwi*-Gerede empfindest, darf ja nicht verwundern, wollte halt nur nachfragen.

Aber Du willst ja nicht… das zu analysieren überlass ich Dir.

Erheiterte Grüsse

Yseult
entgegen gemeinen Verleumdnungen ebenfalls Philosophin mit pathologischem :wink: Hand zur Erkenntnistheorie

Wenn solche

Hirnwi- äh Fragen die Philosophie bestimmten, dann würde keine
Sau mehr Philosophie studieren wollen. Ich hoffe, Du mußt Dich
nicht allzu oft und allzu lange mit SOWAS rumplagen!

Von wegen Aversions- oder Antipathieprojektion, klingelts? :wink:

Nee, klingelt so gut wie nicht, da es da noch garnicht um Mathe ging. Ich fand allerdingfs diese Beweis-Kiste ähnlich nervend, soweit komme ich Dir gern entgegen.
Gruss, Branden

Vielen Dank Frank, Branden, Yseult und Thomas für die schnelle
und kompetente Hilfe,

Ich glaube, ich habe nicht wirklich was zu Deiner Frage beigetragen… :smile:), trotzdem: gerne, Tim.
Gruss, Branden

Psychoanalyse und Psychosynthese
Hallo Branden,

Natürlich „muss“ ich als Psychoanalytiker an
dieser Stelle sofort einen Mment lang stehenbleiben und
„gucken“, was da los ist. Inwiefern ist dieses Gegenstand
gegen mein Interesse gerichtet oder auch: warum richtet sich
mein Interesse gegen den Gegenstand? Das wäre es bei jedem
Fall doch wert, untersucht zu werden, oder?

diese Vorgehensweise halte ich vielleicht für interessant, aber keineswegs an jeder Stelle für passend und hilfreich. Denn die Einstellung setzt voraus, dass es pathologisch wäre, Mathematik oder Logik oder andere Dinge nicht zu mögen. Das aber ist nicht per se der Fall. Vielmehr ist es völlig normal, schwierige Dinge nicht grundlos lernen zu wollen.

Die Psychoanalyse hat wie jede Psychotherapie hier den normalisierenden Blickwinkel. Sie versucht, eine Art Urzustand als Normalzustand (der aber gar nicht näher definiert wird, sondern einfach standardmäßig vorliegt) herzustellen und übergeht bei der Analyse von Alltagsdingen das Individuum.

Notwendig ist aber vielmehr bei vielen Alltagsphänomenen ein synthetischer Blickwinkel. Wenn ich erst einmal begriffen habe, wozu ich Logik und Mathematik oder andere Dinge für mich in meiner gegebenen Alltagswelt brauche, dann ergibt sich das Interesse von allein.

Es ist also nicht so wichtig, warum ich (oder du, wenn du willst *g*) eine Abneigung hast, sondern hier ist entscheidend, wozu ich das Abgelehnte für mich verwenden kann. Und so ist auch dein letzter Satz ganz zutreffend:

Aber das führt uns jetzt zu weit weg von der Philosophie, und
die habe ich als Ganzes ja viel, viel lieber!

Die Philosophische Praxis - für die ich hier stehe - setzt sich von der Psychotherapie durch eine positivere Sichtweise ab. Du würdest es vielleicht „positive Verstärkung“ nennen, obwohl das ja eher ein verhaltenstherapeutischer Ansatz ist. Nicht jede psychologische Eigenart ist pathologisch, schon gar nicht eine so häufig auftretende Abneigung wie die gegen Logik und Mathematik.

Das „Hineinschnuppern“ in die Philosophie ist als solches ja in Ordnung, ein Problem ergibt sich ja erst, wenn man sieht, dass gewisse Probleme (wie etwa der radikale Skeptizismus) sinnvoll und diskutierwürdig sind - und dann das notwendige logische Handwerkszeug fehlt, um das Problem „richtig“ zu diskutieren. Dann fängt man an, sich diese Grundlagen zu erarbeiten und merkt vielleicht sogar, dass man die vorher abgelehnten Herangehensweisen möglicherweise auch noch anderweitig verwenden kann. Und schon ist ein Interesse da - auch ohne, dass man sich fragt, woher die Abneigung rührt.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

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Hallo Thomas Miller,

ich sehe, wir stimmen inhaltlich großenteils überein. Deshalb möchte ich inhaltlich Deiner Atwort garnichts hinzufügen. Nur Dein Titel berührt „fachübergreifend“ eine nicht ganz unproblematische Differenz, mit der sich schon der alte Freud „herumschlagen“ musste. Ihm wurde vor etwa hundert Jahren nämlich auch schon vorgeschlagen, nach der „Psychoanalyse“ müßte doch dann die „Psychosynthese“ kommen, damit sozusagen der analysierte Mensch nicht auseinanderfällt; seine Seele müsse doch nun gleichsam wieder zusammengesetzt, harmonisiert, werden.
Darauf erwiderte Freud sinngemäß, dass dies ein überflüssiger rhetorischer bzw. absterakter Gedanke wäre, denn durch die (gelungene) Analyse würde man etwas schauen, was dann eine Art optimale Ordnung ergäbe.
In meinen Worten wiedergegeben, ich hoffe, dass ich nun selber nicht zu abstrakt geblieben bin. Aber ich denke, ich gehöre in diesem Brett noch zu denen, die sich am konkretesten ausdrücken. Da bilde ich mir nix groß drauf ein; es hängt einfach z.T. mit meinem Grundgeruf zusammen, z.T. mag es die (altbekannte, erst gerade hier wieder diskutierte) Aversion gegen Abstraktes sein.
Gruss, Branden