Psychoanalyse und Psychosynthese
Hallo Branden,
Natürlich „muss“ ich als Psychoanalytiker an
dieser Stelle sofort einen Mment lang stehenbleiben und
„gucken“, was da los ist. Inwiefern ist dieses Gegenstand
gegen mein Interesse gerichtet oder auch: warum richtet sich
mein Interesse gegen den Gegenstand? Das wäre es bei jedem
Fall doch wert, untersucht zu werden, oder?
diese Vorgehensweise halte ich vielleicht für interessant, aber keineswegs an jeder Stelle für passend und hilfreich. Denn die Einstellung setzt voraus, dass es pathologisch wäre, Mathematik oder Logik oder andere Dinge nicht zu mögen. Das aber ist nicht per se der Fall. Vielmehr ist es völlig normal, schwierige Dinge nicht grundlos lernen zu wollen.
Die Psychoanalyse hat wie jede Psychotherapie hier den normalisierenden Blickwinkel. Sie versucht, eine Art Urzustand als Normalzustand (der aber gar nicht näher definiert wird, sondern einfach standardmäßig vorliegt) herzustellen und übergeht bei der Analyse von Alltagsdingen das Individuum.
Notwendig ist aber vielmehr bei vielen Alltagsphänomenen ein synthetischer Blickwinkel. Wenn ich erst einmal begriffen habe, wozu ich Logik und Mathematik oder andere Dinge für mich in meiner gegebenen Alltagswelt brauche, dann ergibt sich das Interesse von allein.
Es ist also nicht so wichtig, warum ich (oder du, wenn du willst *g*) eine Abneigung hast, sondern hier ist entscheidend, wozu ich das Abgelehnte für mich verwenden kann. Und so ist auch dein letzter Satz ganz zutreffend:
Aber das führt uns jetzt zu weit weg von der Philosophie, und
die habe ich als Ganzes ja viel, viel lieber!
Die Philosophische Praxis - für die ich hier stehe - setzt sich von der Psychotherapie durch eine positivere Sichtweise ab. Du würdest es vielleicht „positive Verstärkung“ nennen, obwohl das ja eher ein verhaltenstherapeutischer Ansatz ist. Nicht jede psychologische Eigenart ist pathologisch, schon gar nicht eine so häufig auftretende Abneigung wie die gegen Logik und Mathematik.
Das „Hineinschnuppern“ in die Philosophie ist als solches ja in Ordnung, ein Problem ergibt sich ja erst, wenn man sieht, dass gewisse Probleme (wie etwa der radikale Skeptizismus) sinnvoll und diskutierwürdig sind - und dann das notwendige logische Handwerkszeug fehlt, um das Problem „richtig“ zu diskutieren. Dann fängt man an, sich diese Grundlagen zu erarbeiten und merkt vielleicht sogar, dass man die vorher abgelehnten Herangehensweisen möglicherweise auch noch anderweitig verwenden kann. Und schon ist ein Interesse da - auch ohne, dass man sich fragt, woher die Abneigung rührt.
Herzliche Grüße
Thomas Miller